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Peter Horn (Kapstadt) [BIO]

"Kultur" in den Gesellschaften der Bantu-sprachigen Völker Südafrikas

 

  'MOTHO KE MOTHO KA BATHO BABANG' -
('Ein Mensch ist ein Mensch wegen anderer Menschen') -

Die Sprachen Südafrikas

Die Nguni Sprachen sind Teil einer viel größeren verwandten Gruppe von südöstlichen Bantusprachen. Diese Gruppe umfaßt das Sotho (Sepedi oder nördliches Sotho, südliches Sotho, und Tswana) [http://www.cyberserv.co.za/users/~jako/lang/sep.htm], Tsonga, Venda, und Inhambane (Chopi and Tonga) zusammen mit den Nguni-Sprachen (Xhosa, Zulu, Swati, Ndebele) [http://www.cyberserv.co.za/users/~jako/lang/nde.htm]. Alle diese Sprachen sind ihrerseits mit der Shona-Dialekt-Gruppierung verwandt, Sprachen, die hauptsächlich in Zimbabwe gesprochen werden. Zusammen bilden die bisher erwähnten Sprachen eine Gruppe, die als Narrow Bantu 'S' bezeichnet wird. Diese Sprachgruppe gehört ihrerseits zu einer Gruppe von Sprachen, die von Kamerun im Westen und Kenya im Osten bis Südafrika im Süden in Süd-, Ost- und Zentralafrika gesprochen werden, und als die Benue-Congo Sprachfamilie bekannt ist. Die folgenden Ausführungen beziehen sich aber im Wesentlichen auf die Sprachen Südafrikas, und vor allem auf Zulu und Xhosa. Neben den Bantusprachen werden in Südafrika auch noch Khoisprachen (Nama "Hottentot"), San-Sprachen ("Buschmann"), die Siedlersprachen Englisch, Afrikaans, und die sogenannten Erbsprachen [Heritage Languages] anderer Einwanderergruppen gesprochen (Portugiesisch, Deutsch, Griechisch, Italienisch, Gujurati, Hindi, Arabisch u.a.).

In einem Gedicht zitiert Jeremy Cronin1 den Satz (Sotho), 'MOTHO KE MOTHO KA BATHO BABANG', der in wenigen Worten den Begriff "Kultur" umreißt, wie er in den Gesellschaften der Bantu-sprachigen Völker Südafrikas verstanden wird. Kultur ist ubuntu, (Mit-)Menschlichkeit. Eine Kultur eines vereinzelten Individuums, das als etwa verkanntes Genie für sich allein etwas schafft, was zunächst niemand versteht, ist in dieser ubuntu-Kultur ebensowenig denkbar, wie jemand, der sich von seiner Familie und seinen Ahnen lossagt. Wer das täte, und es ist beinahe unvorstellbar, wäre außerhalb von ubuntu, wäre außerhalb des Kulturkreises. Im Zusammenhang mit der Wahrheits- und Versöhnungskommission und ihrem Vorsitzenden Bischof Tutu beschreibt Antjie Krog diese Afrikanische Kulturauffassung wie folgt:

'In der afrikanischen Weltanschauung ist eine Person nicht eine grundlegend unabhängige, isolierte Wesenheit. Eine Person ist gerade deswegen menschlich, weil sie in der Gemeinschaft anderer Menschen eingebunden ist, in dem Geflecht des Lebens gefangen ist. Dasein heißt ... teilzunehmen. [...]

Wie Tutu's Ubuntu Theologie sich entfaltet, gibt sie uns den Zugang zu einer neuen Identität für Südafrikaner, und bezieht sich gleichzeitig auf uralte afrikanische Vorstellungen von der Harmonie zwischen Individuum und Gemeinschaft, die nach John Mbiti so zusammengefaßt werden können: Ich bin, denn wir sind, und da wir sind, bin ich.'2

Europäer sprechen oft mit wenig Verständnis von dem, was sie als "Ahnenkult" bezeichnen. In Wirklichkeit gehören die Toten einfach zur "Kultur" als regulative Vorstellung und als ständige Präsenz. Auch die Toten sind Teil der "anderen Menschen", deren Existenz uns zu Menschen macht. Sie sind Teil der Sozietät, ohne die Kultur nicht denkbar ist. Ihre Funktion ist die von Autoritäten, deren Weisheit und deren Verständnis das kulturelle Zusammenleben erst ermöglicht. Die Initiationsriten werden daher oft mit dem Satz umschrieben: "Ich gehe, um den Ahnen vorgestellt zu werden". Erst die Anerkennung durch die Ahnen macht den jungen Mann zum vollwertigen Mitglied der Gesellschaft, und die Initiationsriten sind gleichzeitig eine Schule, in der die Regeln des kulturellen Zusammenlebens gelernt werden. Die Xhosa bezeichnen daher den Begriff "Kultur" mit demselben Wort, ukwaluka, das die Beschneidung bezeichnet, durch die der junge Mann in den Initiationsriten zum vollwertigen Mitglied der Gesellschaft wird.

Die Ahnen leben in der Welt der Geister, dem unKulunkulu (Zulu: dem Allergrößten, oder Allerältesten),3 und werden daher als Mittler zwischen den Lebenden und der Welt der Geister begriffen. Sie werden auch izithunywa zikanKulunkulu, die Boten Gottes genannt. Die Ahnen heißen auch abaphansi, diejenigen, die unten sind.4 Ihr Reich ist die Umkehrung der irdischen Welt: es ist kühl, die Ahnen sind weiß, was uns bitter erscheint, ist ihnen süß, usw. Die Gemeinschaft mit den Ahnen wird durch das rituelle Mahl aufrechterhalten: eine Ziege (oder ein Rind) wird geschlachtet, Bier gebraut, die Ahnen essen den Rauch. Die Ahnen sprechen zu den Lebenden in Träumen, manchmal durch eine Krankheit, wenn sie vernachlässigt werden, und sie kommen in Gestalt einer grünen Schlange in die Hütte.

Die Unterscheidung zwischen dem Urahnen und dem "höchsten Gott", Mveliqangi, ist nicht deutlich ausgeprägt;5 er ist uhlanga, die Quelle des Seins, er hat die Menschen gemacht und die Reihe der Ahnen ist entstanden: "Izonto zonke zenziwa uMvelinqangi" - "alle Dinge sind durch Mveliqangi gemacht".6 Er gibt impilo (Leben) und amandla (Kraft), und von ihm haben die Medizinmänner die Kraft zu heilen. Die Kraft kann durch die Ahnen an die Menschen weitergegeben werden. Warum dieser Gott Krankheit und Leid zuläßt, ist eine Frage, die sich in der Tradition nicht stellt. Er ist eben der Herrscher, und diese Tatsache begründet, daß er alles wollen kann. Niemand weiß, wo dieser höchste Gott lebt.

Als Mittler werden den Ahnen (aber nicht Mveliqangi) rituelle Opfer gebracht und Preislieder zu ihren Ehren und Andenken gesungen. Die Geister leben auch in Tieren, im Wald und in Höhlen. Ein weiblicher Geist - iNkosazana yaseZulwini (Zulu: die Herrin, die Himmelsprinzessin, auch uNomkhbulwane genannt) - wird von den Frauen um Regen angefleht, sie läßt den Mais wachsen und wird im Frühling gefeiert (Nomhoyi - der Ruf nach Befruchtung). Bei dieser Feier kleiden sich die Mädchen in Kleidungsstücke ihrer Liebhaber (früher ihrer Brüder), hüten das Vieh (eine sonst strikt "männliche" Beschäftigung), wünschen sich eine frühe Heirat und sprechen in obszönen Ausdrücken. Deswegen heißt das Fest auch Nomdede (Abweichung, nämlich von den guten Sitten). Trotz der obszönen Sprache lehrt uNomkhbulwane aber die guten Sitten.

Es sind die Ahnen, zu denen und durch die man den Zugang zu jener Welt sucht, die das Leben der Menschen wesentlich beeinflussen kann. Die Erinnerung an alle Ahnen muß im Gedächtnis der Familie wach gehalten werden, denn wenn sie vergessen werden, dann bringen sie sich oft schmerzhaft in Erinnerung. Unglück, Krankheit, Verluste, Niederlagen sind Zeichen, daß die Nachkommen sich nicht um die Ahnen und ihre gesellschaftlichen Regeln kümmern.

Dann wendet man sich an einen Sangoma, einen geistlichen Heiler. Während der Inyanga körperliche Krankheiten behandelt, ist der iSangoma für psychische, spirituelle und soziale Krankheiten und Mißverhältnisse zuständig. Seine Aufgabe ist es auch, die Ursache des "Bösen" herauszufinden, das den Menschen zustößt, die Menschen vor bösen Geistern zu beschützen und unsoziale Individuen zu entdecken.7 Er muß feststellen, ob die Ursache eine Vernachlässigung der Ahnen und Geister ist, ein Streit in der Familie, eine Vernachlässigung der Riten, oder eine Verhexung, ein Schadenszauber. Der Heiler nennt die Krankheit und kann die Ursache erkennen (ukubhula - wahrsagen). Falls die Ahnen sich durch ein Unglück in Erinnerung gebracht haben, muß ihnen ein Opfer gebracht werden, um den gesellschaftlichen Frieden wieder herzustellen, indem man den Ahnen Respekt erweist. (ukushweleza). Dabei dürfen die Lebenden sich allerdings auch über die Ahnen beschweren und ihnen vorwerfen, daß sie sich ihnen gegenüber schlecht verhalten haben (ukuThetha). Durch eine solche Aussprache wird dann die Familie wieder spirituell vereint. Weil sie nicht reden können, weil sie Menschen krank machen müssen, um Fleisch zu bekommen, und dann noch nicht einmal helfen, heißen die Ahnen manchmal auch izithutha, Narren.

Der iSangoma ist ein von den Ahnen Auserwählter. Die Ahnen machen die so Erwählten besessen (ithwasa), sie träumen von der Pythonschlange (inhlwathi), die sie im Viehkraal töten müssen, und deren Haut sie als Zeichen ihrer Erwähltheit tragen. Im Verlauf der Initiation zum iSangoma müssen Ziegen und Rinder geschlachtet werden, und der Initiant trägt gekreuzte Fellstreifen dieser Opfertiere (iminqwamba) als Abzeichen seines neuen Status. Weigert sich ein solcher Erwählter, sich der Initiation zu unterziehen, wird er krank. Ist er iSangoma geworden, sprechen die Ahnen durch ihn, er kann Knochen werfen (Orakel) und wahrsagen. Krankheiten können auch durch böse Geister bewirkt werden (z.B. Übelkeit, Fieber, Schreien, Hysterie). Er kann auch den Schadenszauberer benennen, der Krankheit und Unglück verursacht.

Die Zulus glauben nicht an "Schicksal". Alles, was geschieht, geschieht aus einem bestimmten Grund. Es gibt Krankheiten mit einem natürlichen Ursprung, z.B. Grippe, und angeborene Neigung des Körpers zu Krankheiten. Gegen die helfen Ärzte und Kräuter (amakhambi). Hält eine solche Krankheit aber zu lange an, dann liegt der Verdacht nahe, es könne sich um Zauberei handeln. Solche Übel (ukugulisa - jemanden krank machen) sind den asozialen Zauberern zuzuschreiben, und die müssen entdeckt und (so war es zumindest früher) zum Besten des Clans getötet werden. Schadenszauberkrankheiten kommen nur bei Einheimischen vor und heißen daher isifo sabantu, Bantukrankheiten. Die, die so angeklagt werden, wehren sich meistens nicht, denn sie glauben ein böser Geist könne sie auch ohne ihr Wissen in Besitz genommen haben. Da früher nicht nur die Zauberer selbst, sondern auch ihre Familien zum Tode verurteilt wurden und ihr Besitz in den des Häuptlings oder Königs überging, geschah es oft, daß besonders Reiche ständig in Gefahr waren, als Hexer "entdeckt" zu werden. Armut konnte einem also ein längeres Leben bescheren als Reichtum.

Einer der "bösen" Geister, die in der Vorstellung der Zulu eine große Rolle spielen und gefürchtet werden, ist der Tokoloshe, in etwa mit der Vorstellung eines Zombies vergleichbar. Zauberer können einen Leichnam benutzen, ihm die Augen ausstechen, seine Zunge abschneiden, und den Kopf mit Hilfe eines rotglühenden Eisenstabs auf Kindergröße schrumpfen, und dann diesen toten Körper mit Hilfe eines magischen Pulvers wiederbeleben. Um sich gegen nächtliche Besuche solcher Untoten zu schützen, werden die Betten auf Ziegelsteine gestellt, und nachts bei keinem Klopfen die Tür geöffnet.

Das Leben und die Kultur spielt sich in einem festen räumlichen Rahmen ab, dessen Mittelpunkt der Kral ist, wo die Ahnen begraben sind, und wo die rituellen Opfer dargebracht werden. Mit den Ahnen kann man nur zu Hause sprechen. Deswegen sind die meisten rituellen Funktionen in der Stadt, weit entfernt vom Heimatkraal nicht wirksam. Viele empfinden die Stadt daher als fremd, ein Ort, an dem sie nicht nur ohne ihre noch lebende Familie, sondern auch ohne die Ahnen allein sind. Die traditionelle Kultur ist also eine bäuerliche, und paßt sich nur schwer an die neuen Bedingungen der Industriekultur des modernen Südafrika an.

 

 

REFERENCES

Bright, W. 1992. "Narrow Bantu 'S'" in International Encyclopedia of Linguistics, Vol. 4, edited by W. Bright, 52 53. New York: Oxford University Press.

Campbell, G. L. 1991. Compendium of the World's Languages, Vol. 1 2. London and New York: Routledge.

Doke, C. M. 1954. The Southern Bantu Languages. London: Oxford University Press for the International African Institute.

Europa Publications. 1993. "South Africa" in: The Europa World Year Book 1993, Vol. 2, 2567 2591. London: Europa Publications Limited.

Grimes, B. F., ed. 1992. Ethnologue: Languages of the World. Dallas, Texas: Summer Institute of Linguistics.

Grobler, E., K. P. Prinsloo, and I. J. van der Merwe. 1990. Language Atlas of South Africa: Language and Literacy Patterns. Pretoria, Republic of South Africa: Human Sciences Research Council.

Gunner, Liz (Hrsg.), Musho! Zulu popular praises. Transl. and ed. by Liz Gunner. East Lansing, Mich.: Michigan State Univ. Press 1991

Lademann-Priemer, Gabriele, Heilung als Zeichen für die Einheit der Welten - religiöse Vorstellungen von Krankheit und Heilung in Europa im vorigen Jahrhundert und unter den Zulu mit einem Ausblick in unsere Zeit. Frankfurt am Main: Lang Europäische Hochschulschriften: 1990.

Linguistic Society of America. 1992. Directory of Programs in Linguistics in the United States and Canada. Washington, DC.

McFerren, M. 1984. Country Status Report: South Africa. Washington, DC: Center for Applied Linguistics.

Poulos, George; Bosch, Sonja E. Zulu München: LINCOM Europa 1997.

Raum, Otto F., The social functions of avoidances and taboos among the Zulu. Berlin: de Gruyter 1973.

Webb, Colin de B. (Hrsg.); [Stuart, James] The James Stuart archive of recorded oral evidence relating to the history of the Zulu and neighbouring peoples. Ed. and transl. by C. de B. Webb. Pietermaritzburg : Univ. of Natal Press 1982.

Ziervogel, Dirk; Louw, Jacobus A.; Taljaard, Petrus C., A handbook of the Zulu language. Pretoria : van Schaik 1985.

 

NOTES

1 Jeremy Cronin, Inside. Johannesburg: Ravan Press 1983, p. 18

2 Antjie Krog, Country of my skull. London: Vintage 1999: 165f

3 Der Begriff wird, vor allem bei christianisierten Zulus auch für "Gott" gebraucht. Ob es einen Begriff eines höchsten Gottes vor der Christianisierung gegeben hat, und ob unKulunkulu mit Mveliqangi in eins gesetzt wurde, ist umstritten.

4 Andere Namen für die Ahnen sind: okhokho (die Großväter), obaba (die Väter), abadala (die Alten). Ob Frauen und Kinder "Ahnen" werden, ist umstritten.

5 Gabriele Lademann-Priemer, Heilung als Zeichen für die Einheit der Welten. Religiöse Vorstellungen von Krankheit und Heilung in Europa im vorigen Jahrhundert und unter den Zulus mit einem Ausblick in unsere Zeit. Frankfurt am Main: Peter Lang 1990, S.103

6 H. Callaway, The religious system of the AmaZulu, Kapstadt 1870, S.7; A.I. Berglund, Zulu Thought-Patterns and Symbolism. London 1976, S. 35f.

7 Früher dauerte eine Ausbildung zum Sangoma etwa 25 Jahre, heute nur noch 5 bis 7 Jahre, manchmal sogar nur noch ein paar Monate.

 

 

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