Kulturwissenschaften und Europa 
oder die Realität der Virtualität 

Enzyklopädie vielsprachiger Kulturwissenschaften

David Simo (Yaounde)

Kultur und "Entsprechungen" in der Sprache ghom'ala

 

Über Bezeichnungen und Bedeutungen von Kultur in nicht-europäischen Sprachen zu schreiben, ist ein komplexes Unterfangen. Denn das Wort Kultur hat in Europa eine Geschichte. Und es hat daher unterschiedliche historische Bedeutungen entfaltet, die heute zum Teil noch wirksam sind. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den außereuropäischen Kulturen hat den Begriff "Kultur" dazu auch mitgeprägt. Kultur ist ja das zentrale Objekt der Anthropologie. Und die Kultur, die hier gemeint ist, ist nicht immer mit dem gleich zu setzen, was in bezug auf Europa Kultur genannt wird. Dieses zur Beschreibung der außereuropäischen Wirklichkeit verwendete Wort Kultur ist natürlich kein endogener Begriff der analysierten Völker, sondern eine europäische Wissenschaftskategorie.

Kultur ist daher ein europäisches Instrument zur Identifikation und Segmentierung eines Wirklichkeitsteils. Und dieses Instrument schreibt sich ein in eine gesamte Vorstellung und in einen Wahrnehmungsmodus, der alles andere als selbstverständlich und universell ist.

Die Entsprechungen des Begriffes Kultur in anderen Sprachen zu suchen, ist daher nicht unproblematisch, aber es ist ein lohnendes Unternehmen, denn es ermöglicht, die Historizität und Bedingtheit des Begriffes deutlich zu machen.

In einem der systematischsten Versuche der Definition des Begriffes Kultur identifizierte Robert Bolock im Englischen fünf Bedeutungen, die in unterschiedlichen "Epochen" geprägt wurden, die aber alle noch wirksam sind:

  1. culture: cultivating the land, crops, and animals
  2. culture: the cultivation of the mind, the arts; civilisation
  3. culture: the general process of social development; culture as an universal process/the enlightement conceptions of culture
  4. culture: the meanings, values, ways of life (cultures) shared by particular nations, groups, classes, periods (following Herder)
  5. culture: the practices which produce meaning: signifying practices.

Von diesen fünf Bedeutungen können nur drei eine Entsprechung in ghom'ala finden. Aber da die erste Bedeutung im Gegensatz zu den europäischen Sprachen keinen semantischen Bezug zu den anderen Bedeutungen hat, braucht sie hier nicht erwähnt zu werden. Es bleiben nur zwei Bedeutungen und zwar die zweite und die vierte.

In ghom'ala wird aber ganz deutlich unterschieden zwischen Bildung und Kunst. Bildung läßt sich übersetzen durch einen Infinitiv-Ausdruck: nejie jwé (etwas wissen). Damit bezieht man sich auf den Zustand, wo man Wissen erworben hat. Das drückt sich im Schulerfolg und Studiumergebnis aus. Damit wird weder konnotiert, daß man dadurch weiser geworden ist, noch daß man geistig besser geworden ist. Damit wird nur festgestellt, daß man im modernen Leben, wo solches Wissen gefragt ist, seinen Platz finden kann. Damit ist also noch keine soziale Hierarchie impliziert, auch wenn man durch dieses erworbene Wissen Karriere machen und sich sozial profilieren kann. Die Beherrschung eines traditionellen Wissens wird vor allem im Bereich der Medizin immer noch honoriert und verleiht dem Betroffenen eine bestimmte Aura. Die anderen traditionellen Fertigkeiten und Wissenseinheiten werden kaum mehr als Wissen betrachtet. Es gibt aber im Bereich der Landwirtschaft und im handwerklichen Bereich immer noch ein traditionelles Wissen, dessen Wert neu entdeckt wird.

Kunst dagegen gilt immer noch als Produkt einer besonderen Fähigkeit, die teils erlernt, teils angeboren ist. Kunst heißt ve und der Künstler heißt gain mve (der Besitzer der Kunst). Früher gab es bestimmte Tätigkeiten und Produkte, die als mve betrachtet wurden: die Körpermalerei und Tattoo, die Bildhauerei, das Bauen von Häusern. Der gain mve war in diesem Zusammenhang vor allem derjenige, der die Kalkulation vornahm und genau bestimmte, wie das Material nach Maß geschnitten und zusammengesetzt werden sollte. Es war immer ein großer Moment des Triumphs des Künstlers, wenn einzeln geschnittenes Material einmal zusammengefügt genau zusammenpaßte und zum Beispiel ein rundes Dach abgab. Inzwischen wird der Begriff gain mve verwendet, um alle plastischen Künstler zu bezeichnen. Dabei wird nicht wie in Europa zwischen Handwerkern und Künstlern unterschieden. Nur "begnadete" konnten ve betreiben, aber es handelte sich nicht um eine elitäre Tätigkeit, insofern als sie sozial nützlich und allen zugute kam. Heute ändert sich die Beziehung zur Kunst immer mehr und sie wird immer mehr für eine kleine Schicht, die genug Geld hat und sie sich zu leisten, Vorbehalten.

Kultur im Sinne von Bräuchen, Lebensweisen und Werten läßt sich durch zwei Worte übersetzen: ma und mko. ma wird auch gebraucht in bezug zu einer Person, um seine Charakterzüge, das was sie von anderen unterscheidet, zu bezeichnen. Dasselbe Wort wird auch auf Gruppen angewandt und bedeutet so etwas wie Lebensweise, Habitus. mkò ist ein komplexer Begriff. Er verweist auf ein von den Ahnen festgelegtes Grundgesetz, das jedes Mitglied einer Gruppe einzuhalten hat. Damit sind ein Netz von Werten, Riten, nicht hinterfragbare Regeln, die das Verhalten bestimmen sollen und Tabus festlegen, Institutionen und Gesetze gemeint, die als Fundament der Gemeinschaft betrachtet werden.

Die traditionelle Erziehung, die in Einweihungsriten, aber auch in Erzählungen, im Erlernen von Fertigkeiten bestand, zielte darauf, die Grundlage für die Führung eines Erwachsenenlebens zu vermitteln. Ihr Ziel war aber vor allem, dieses mko zu verinnerlichen. Auf dem Dorf wird dieses zweite Ziel in jeder Familie immer noch anvisiert, während das erste Ziel der modernen Schule überlassen wird.

Während das mko gleich bleibt, kann sich der Modus seiner Umsetzung ändern, ohne daß das als Verrat betrachtet wird. Aber manche Institutionen und Riten verlieren mit der Zeit ihren Bezug zur Wirklichkeit, werden nicht erneuert und entarten zur Folklore und zur Kuriosität. Andere haben sich ihre Adaptierungsfähigkeit erhalten und organisieren weiterhin mit großem Erfolg das Leben in einer veränderten Welt.


BEGRIFFE

SPRACHEN

UPDATE-INFO

THEMENÜBERSICHT

REFLEXIONEN

© INST: Institut zur Erforschung und Förderung österreichischer und internationaler Literaturprozesse, 2000