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Begriffe/Concepts/Concepts: Kultur | Culture | Culture

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Alessandra Schininà (Catania) [BIO]

Zum Kulturbegriff im Italienischen

 

Der Artikel 9 der Verfassung der italienischen Republik lautet:

La Repubblica promuove lo sviluppo della cultura e la ricerca scientifica e tecnica. Tutela il paesaggio e il patrimonio storico e artistico della Nazione.

Die Republik fördert die Entwicklung der Kultur [cultura] und die wissenschaftliche und technische Forschung. Sie beschützt die Landschaft und das historische und künstlerische Erbe der Nation.

Die Bedeutung von cultura wird in diesem Verfassungsartikel nicht genauer bezeichnet; das Wort wird aber in Zusammenhang mit Umwelt, Kunst und (Natur)wissenschaft gebracht. Der staatliche italienische Kulturbegriff steht also in Verbindung sowohl mit Bildung, Geschichte und Gesellschaft als auch mit der Natur. So heißt das derzeitige Ministerium für Kulturangelegenheiten "Ministero dei beni culturali e ambientali", indem man die Kulturgüter der Menschen und ihre Umwelt zusammenfaßt. In der allgemeinen gesellschaftlichen Praxis hat der italienische Begriff cultura mehrere, kontextbedingte Bedeutungen und wird oft von Eigenschaftswörtern begleitet, die ihn genauer bestimmen sollen. Einige dieser vielverwendeten Begriffe sind zum Beispiel:

Im allgemeinen Gebrauch verzeichnet der Grande dizionario italiano dell'uso von Tullio De Mauro1 zwei große Bedeutungsfelder für das Wort cultura. Einerseits cultura als Gesamtheit von intellektuellen Kenntnissen und Begriffen, die zur Bildung der Persönlichkeit beitragen, d.h. cultura als Synonym von Wörtern wie Wissen, Doktrin, Erudition, Erziehung, Bildung, Ausbildung, Gelehrtheit. Andererseits bezeichnet cultura die kollektive Produktions- und Arbeitsweise, die Hervorbringungen, das gesamte Wissen einer Gesellschaft oder einer gesellschaftlichen Gruppe. So gibt es z.B. eine cultura rinascimentale (Renaissance-Kultur), occidentale (westliche), contadina (Bauernkultur), industriale (Industriekultur), urbana (städtische), borghese (bürgerliche). Philosophische, individuell bezogene, abstrakte Verbindungen des Wortes cultura stehen also neben konkreten Vorstellungen von Institutionen und Gruppen.

Die angesehenste italienische Enzyklopädie, die Enciclopedia Treccani2 , führt die doppelte Bedeutung des Wortes cultura einerseits auf den lateinischen Ursprung des Begriffes (lat. cultura aus dem Verb colere, bebauen, aber auch sich kümmern) zurück, andererseits auf den Einfluß des deutschen Wortes Kultur. Die Bedeutung des heutigen italienischen Begriffs cultura ist also stark von der klassisch-humanistischen, pädagogischen Tradition gekennzeichnet, aber auch von den internationalen philosophischen, soziologischen, anthropologischen Theorien des XIX. und XX. Jahrhunderts. Laut der Enciclopedia Treccani, gleich anderer Wörterbücher und Lexika3 , ist cultura in erster Linie die Summe der durch Studium, Lesen, Erfahrung und Einfluß der Umgebung erworbenen Kenntnisse eines Individuums, die es geistig bereichern. Der Kulturbegriff wäre in diesem Sinne eine Art von höherer Bildung, die den Menschen bereichert und veredelt. Cultura bezeichnet aber auch die Gesamtheit der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Institutionen, der künstlerischen und wissenschaftlichen Tätigkeiten, sowie der geistigen und religiösen Erscheinungen einer bestimmten Gesellschaft in einer bestimmten Epoche. So wird cultura mit dem Begriff civilt (Zivilisation) identisch gesetzt, beide werden der Barbarei entgegengesetzt.

Obwohl das Wort cultura eine neutralere Bedeutung als das deutsche Wort Kultur hat, wird es meist mit den besten Hervorbringungen der Kunst und des Denkens einer Nation in Verbindung gesetzt. Stark ist noch die Nachwirkung einer klassischen, aristokratischen, idealistischen Auffassung, die alle materielle Tätigkeiten, Berufe und Handwerke vom Begriff cultura ausschloß. So bezeichnet noch heute der vielverwendete Ausdruck mondo della cultura (Kulturwelt), ausschließlich die Kreise der Intellektuellen. Durch den Illuminismus wurden auch die modernen Naturwissenschaften und die technischen Entwicklungen in den Kulturbegriff einbezogen. Einerseits behielt so der Ausdruck cultura die subjektive, individualbezogene Bedeutung von Bildung, andererseits gewann er einen objektiven, sozialbezogenen Wert. Im Laufe des XIX. Jahrhunderts bezeichnete cultura nicht lediglich die intellektuellen Tätigkeiten, sondern auch die Sitten und Bräuche einer Gesellschaft. Der Begriff cultura wurde im XX. Jahrhundert durch die modernen Theorien der Ethnologen, Soziologen und Anthropologen erweitert und differenziert. In diesem Zusammenhang stand die von Antonio Gramsci durchgeführte Analyse des Begriffes cultura popolare (Kultur des Volkes) am Anfang einer langjährigen Debatte über das Vorhandensein einer cultura nazionale (nationale Kultur) in Italien. Heute wird der Begriff cultura jeweils in seinem spezifischen geschichtlichen, philosophischen, soziologischen, anthropologischen Kontext gedeutet, indem man sich auch auf ausländische Studien und Bezeichnungen wie das englische Wort culture bezieht. In den letzen Jahren versucht man vor allem den Begriff cultura di massa (Massenkultur) in bezug auf die von den Massenmedien verbreitete und standardisierte Kultur der Industrie- und Kommunikationsgesellschaft erneut zu definieren4 .

 

ANMERKUNGEN

1 Tullio De Mauro:Grande dizionario italiano dell'uso, Torino 1999, Bd.2, S.439.

2 La piccola Treccani, Istituto dell'Enciclopedia Italiana fondata da Giovanni Treccani, Roma 1995, S.579-581.

3 Salvatore Battaglia: Grande Dizionario della lingua italiana UTET, Torino 1967, S.1045; Enciclopedia Einaudi, Torino 1978, B.IV, S.238-270; Enciclopedia Generale Mondadori, Milano 1986, B.IV, S.164; Grande Enciclopedia De Agostini, Novara 1994, B.7, S.479-481; Lo Zingarelli. Vocabolario della lingua italiana, Bologna 2001, S.480.

4 David Forgacs hat letztlich versucht, die Geschichte der italienischen Kultur im XX. Jahrhundert von einem allgemeinen, gesellschaftlichen Standpunkt aus zu rekonstruieren und sich nicht nur mit der Geschichte der "Hochkultur" zu befassen. Vgl. David Forgacs: L'industrializzazione della cultura italiana (1880-2000), Bologna 2000.

 

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