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Zalina A. Mardanova (Vladikavkask)

Kulturbegriff im ossetischen Diskurs

 

Im Ossetischen, das zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehört, bewahrt der vorhandene Kulturbegriff sowohl die Form - "kulturæ" (kul'tura) - als auch die tradierten Bedeutungen der gesamteuropäischen Entlehnung aus dem Lateinischen - "cultura", von der Urbedeutung "Landbau" bis zur allgemeinen Bezeichnung von verschiedenen Gesamtheiten der materiellen und geistigen Leistungen einer Gemeinschaft, sowie deren Verhaltens- und Denkgewohnheiten, die den Menschen von anderen Naturwesen bzw. anderen seinesgleichen unterscheiden. Wichtig ist in diesem Kontext also, welche Aspekte des Kulturbegriffs bei der jeweiligen Ethnie/Nation aktualisiert und besonders aktiv reflektiert werden:

Im postsowjetischen Ossetien wird zwar der Kulturbegriff selbst kaum zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion (was sich nicht zuletzt durch die mangelnde Entwicklung von culture studies hierzulande erklären lässt), aber mit dem Auseinanderfallen der ehemaligen Sowjetunion, mit der fortschreitenden europäischen Integration, mit den Globalisierungsprozessen in den Brennpunkt zahlreicher politischer und wissenschaftlicher Diskussionen gerückt, die die akut gewordenen Probleme der nationalen Identität thematisieren. In diesem Zusammenhang soll aber ein wesentlicher Umstand betont werden, der wenigstens für den Fall Nordossetien-Alanien gilt: diese auf der Folie allgemeiner Instabilität im postsozialistischen Raum durchaus verständliche Aktualisierung der vorwiegend identitätsstiftenden und -bewahrenden Funktion der Kultur führt zwar dazu, dass die Kultur als Identität aufgefasst wird, bedeutet aber keineswegs eine Gleichsetzung mit der berüchtigten Abgrenzungs- und Behauptungspolitik einiger ethnischen Gruppen im "Krisenherd"- Kaukasus. Im Gegenteil, die im ossetischen Diskurs nachdrücklich betonte Akzeptanz der ethnischen Kultur - der Gesamtheit von jenen Werten und Vorstellungen, Normen und Standardisierungen, die das ethnische Spezifikum ausmachen, wird als Vorbedingung für ihre (Re)präsen(tan)z nicht nur in den vertrauten Landschaftsnischen, sondern auch in den Informationsfeldern der sich globalisierenden Welt, wo sich die gegenwärtige Ethnogenese vollzieht.

Von dieser Integration in die Weltprozesse erhofft sich Ossetien die Gewährleistung ihrer "Sichtbarkeit" auch in der Globalkultur, indem seine Ethnokultur zu einem ihrer unterscheidbaren Bestandteile wird.

Zum anderen soll berücksichtigt werden, dass angesichts einer an Ruhm und Taten reichen Geschichte ihrer Urahnen - Alanen -, sich Osseten bei der Selbstidentifikation eher auf ihre glorreiche Vergangenheit orientieren, wodurch besondere Akzentsetzungen auf Phänomene wie Gedächtnis, Geschichte, Tradition erfolgen und somit die historische Dimension des Kulturbegriffs in den Vordergrund rückt. Die symbolische Inszenierung von diesem "Vergangenheitsrausch" erfolgt in Form von Denkmälern, Ritualen, Feiern, Namenwechsel (so wird z.B. die Nordossetische Republik in die Republik Nordossetien-Alanien umbenannt, die Hauptstadt Ordshonikidse bekommt ihren historischen Namen Wladikawkas zurück). Der Bedarf an Historizität als Identifikationsfaktor aktualisiert jene durch ihre Verwurzelung in Traditionen bewährten Formen sozialer Einbindung des Individuums, die auch in der heutigen Situation der Herauslösung aus geschichtlich vorgegebenen Sozialformen und - beziehungen als integrativ gelten könnten. So kommt es letztenendes dazu, dass der Begriff der Kultur im kollektiven Bewusstsein von Osseten auf einige - eben noch vorgeblich identitätsbewahrende - mentale Konstrukte hinausläuft. Als das wichtigste unter ihnen gilt offensichtlich der Begriff von "ægdaw" (achdaw), den man als metaphysischen Kern des Kulturbegriffs von Osseten auffassen kann.

Nach dem kanonischen Historisch-etymologischen Wörterbuch der ossetischen Sprache von Waso I. Abajew, lässt sich das Wort "ægdaw" auf das avestische Wort "haxta-" zurückführen, was in etwa "gerecht", "rechtschaffen", "wahr" bedeutet. Das ossetische Wort "ægdaw" wird als "Sitte, Verhaltensnorm, Gesetz" definiert, es wird aber gleich hervorgehoben, dass im Vergleich zu einer anderen Bezeichnung für "Sitte, Gesetz" - "fædg" (von: "fæd" = Spur, zu: altiran. pada-), die auf lokale, kultische und Familientraditionen beschränkt ist, "ægdaw" einen breiteren, ja universellen Verwendungsbereich hat. Im ossetischen wissenschaftlichen Diskurs rekurriert man dabei auf den vedischen Begriff "rta", der als universelles kosmisches Gesetz alles Ungeordnete zum Bestandteil seiner Ordnung macht und allen Lebewesen ihr richtiges ethisches Verhalten vorschreibt. Osseten, die sich in gewissem Sinne als Nachfolger der indoiranischen Welt verstehen (ein auffallendes Differenzierungsmerkmal im kaukasischen Kontext), bewahren in ihrer Weltanschauung den Begriff ægdaw, der der vedischen rta entspricht.

Im kollektiven Bewusstsein von Osseten werden weder Abstammung, noch Sprache, noch Raum als Beweis der ethnischen Zugehörigkeit eines Individuums akzeptiert, die Einordnung eines Menschen in die Gemeinschaft soll erst durch Befolgung des Universalprinzips "ægdaw" erlangt werden, das alle Lebensbereiche und Dimensionen des Menschen, der Gesellschaft und Natur umfasst und ihrer Existenz zugrunde liegt.

Betrachtet man die Identitätsstruktur als Ausdruck relevanter typischer Situationen, durch die sie sich teilweise auch beschreiben lässt, so lässt sich feststellen, dass trotz zunehmender Politisierung der ethnischen Identität - was für den ganzen postsozialistischen Raum charakteristisch ist - im "Fall Ossetien" immer noch ritualisierte Formen primärer Beziehungen dominieren: Hochzeiten, kuvd - rituelle Festmähler, Beerdigungen, Gedenkfeiern. Gerade in diesen Situationen der "Teilnahme", wie wissenschaftliche Untersuchungen der letzten Zeit ergaben, manifestiert sich der Kern ossetischer Identität.

 

Literatur

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7. 2. 1999. - Thscertschessov A.G. (Sost.): Westnik Instituta zivilisazii. Wypusk 2. Wladiakwkas, 1999. - (Alan G.Tschertschessow (Hrsg.): Beitraege des Instituts der Zivilisation. Heft 2. Wladikawkas, 1999).


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