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Begriffe/Concepts/Concepts: Kultur | Culture | Culture

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Alexandr W. Belobratow (St. Petersburg) [BIO]

Der Kulturbegriff in Rußland

 

In der russischen Sprache etablierte sich der Begriff "Kultur" (KUL`TURA) relativ spät. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts empfand man dieses Wort eher als etwas Fremdes, nicht Eingebürgertes und nicht allgemein Verständliches. Obwohl einige Lexika der 1830er und 1840er Jahre dieses Wort schon aufgenommen haben [mit der Erklärung: 1) Bodenbearbeitung; 2) Bildung, Erziehung; Ehrerbietung], gilt doch die Meinung, daß es "eine überhaupt überflüssige, nutzlose und durch nichts begründete Entlehnung" sei (I. Pokrovskij: "Denkblatt der Fehler in der russischen Sprache", 1853). Einen interessanten Fall der Verwendung und Übersetzung der Begriffe culture und civilisation kann man in den "Philosophischen Briefen" von Petr Tschaadaew (Cdaev) verfolgen (geschrieben auf Französisch Ende der 1820er Jahre, veröffentlicht 1836 in der russischen Übersetzung): culture wird als "Aufklärung" und civilisation als "Bildung" übersetzt.

In den 1860er Jahren kommt es zu einer markanten Steigerung bei der Verwendung des Begriffs "Kultur". Dabei verlagert sich das Bedeutungsfeld von der agrikulturellen Semantik in Richtung eines kulturphilosophischen Begriffs. Diese Situation wird im Lexikon von Vladimir Dal´ (1863-1866) fixiert: neben der "Bearbeitung und Pflege, Anbau" spielt die "Bildung, sowohl geistige und als auch sittliche" eine gewichtige Rolle. Parallel dazu werden folgende Wörter im annähernd gleichen semantischen Feld verwendet: "Zivilisation", "Aufklärung", "Bildung".

In den philosophischen und ideologischen Auseinandersetzungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind zwei Hauptstränge zu beobachten: die sogenannten "Slawophilen" bevorzugen den Begriff der russischen "Aufklärung", den sie der europäischen "Zivilisation" gegenüberstellen. Die sogenannten "Westler" tendieren zum Begriff "Zivilisation", der mit einer offenen Gesellschaft, den Bürgerrechten verbunden wird.

Der Begriff "Kultur" besaß dabei einen höheren Neutralitätsgrad im Vergleich zum Begriff "Aufklärung". Man strebte oft danach, in der russischen Weltauffassung die Leidenschaft zur Aufklärung zu entdecken, die Bereitschaft zur Selbstaufopferung und die Bewertung der Aufklärung als einer heiligen Arbeit, als eines hohen Dienstes. Diese Linie kann man bis in die postkommunistische Zeit verfolgen (mit einer unterirdischen, verborgenen Phase in Sowjetrußland). Um die letzte Jahrtausendwende mehren sich in Rußland die Stimmen, die auch den Begriff "Kultur" sakralisieren und die "wahre" Kultur ("Geistigkeit" - "duchovnost´") von einer "falschen" unterscheiden wollen. Die Bestreiter eines "besonderen", "unikalen" geschichtlichen Weges von der "heiligen Rus´" betrachten die geistige Kultur des Landes als eine einzigartige, die die wahren Gebote des Christentums behalten hat und "den Weg des Jesus Christus" beschreitet in krasser Konfrontation zur europäischen geistigen Tradition, in der die individualistischen und pragmatischen Prinzipien gesiegt haben und wo die Idee des diesseitigen Lebensstandards und der Absage an "die transzendentale Aufgabe" dominiert, "vom Lucifer" jubelnd unterstützt (A. Kazin, 319).

Erste Versuche der kulturphilosophischen Begriffsbestimmung wurden in Rußland von Nikolaj Danilevskij gegen Ende des 19. Jahrhunderts unternommen, der den Begriff eines "kultur-geschichtlichen Types" eingeführt hat, um verschiedene Völker und Kulturen entsprechend den vier möglichen "Stützen" der Kultur zu charakterisieren. Dabei besaß für Danilevskij nur "der slawische Kulturtyp" alle vier "Stützen" der Kultur und somit auch Einzigartigkeit, Einmaligkeit, Außerordentlichkeit.

Unter dem Einfluß der deutschen mythologischen Schule verbreitete sich im russischen Kulturbewußtsein die Idee der vollen Synonymie der Begriffe "Volk" und "Sprache". Entsprechend dieser Einstellung beurteilte man die Sprache als Ausdruck "nicht nur der denkerischen Kraft des Volkes, sondern des ganzen Alltags, der Sitten und Bräuche, des Landes und der Geschichte" (Fedor Buslaev, zit. nach Asajan). Diese Position wird auch heute aktiv auf vielen Ebenen vertreten, und "für inländische Slawisten war und bleibt das Prinzip der unzertrennbaren Bindung der Muttersprache und der heimatlichen Kultur als Hauptgrundlage" (Verescgin, Kostomarov, 5).

Zu den aktivsten Kritikern des ethnopsychologischen Zuganges zur Kulturproblematik zählt man Vjacslav Solov´ev, der in seinen Publikationen am Ende des 19. Jahrhunderts der Idee des kulturellen Partikularismus die Vorstellung über die "Alleinheit" der Kultur gegenübergestellt hat. Es wird von Solov´ev die Kultur beschrieben, "die nichts ausgrenzt". Er unterscheidet zwischen der "Weltallkultur" und "einzelnen Kulturen". Seine Ideen (Symbolismus der Kultur, Alleinheit, das heile Wissen) haben die russische Kulturgeschichte wesentlich geprägt, besonders die "symbolistische" Linie darin (Andrej Belyj, Pavel Florenskij, Aleksej Losev). Parallel zur "symbolistischen" Linie entwickelt sich in der russischen Kulturologie und Kulturphilosophie eine "euroasiatische" Linie, vertreten u.a. von Lev Gumilev.

In der russischen Kulturologie der letzten Jahrzehnte dominieren zwei Zugänge zum Kulturbegriff:

Erstens die kultursemiotische Richtung, die auch die Naturwissenschaften als Phänomene der Kultur mit einbezieht und unter dem Zeichen eines evolutionären Natur- und Wissenschaftsverständnisses steht. Dabei fußt diese Auffassung auf der Idee des Biogeochemikers und Philosophen Vladimir Vernadskij, die die Entwicklung von der Geosphäre über die Biosphäre zur Noosphäre beschreibt. Die Noosphäre wird als eine Semiosphäre erfaßt, als ein "Raum, der einer bestimmten Kultur eigen ist" (Lotman, I-165). Dabei "(ist) Kultur die Gesamtheit aller nicht vererbten Information zusammen mit den Verfahren ihrer Organisation und Speicherung" (Lotman, II-26). Die Semiosphäre wird als ein Kontinuum beschrieben, das "von auf verschiedenen Organisationsniveaus befindlichen semiotischen Gebilden verschiedener Typen ausgefüllt wird." (Teichgräber, 212.) Die Semiosphäre ist also ein einziger Organismus, der nicht Summe einzelner Sprachen ist, sondern eine Bedingung für deren Existenz und Funktionieren bildet, und in dem die Semiosis stattfindet. Lotmans Kultursemiotik ist dabei durch das dynamische Verhältnis von Zentrum, Grenze und Peripherie einer Kultur gekennzeichnet. Diese Konzeption wird durch eine bestimmte russische Wissenschaftstradition der Ganzheit und Einheit geprägt, die in einem deutlichen Widerspruch zur postmodernistischen Grundhaltung des Fließenden, Offenen und Ungeordneten steht (Eismann, 15).

Zweitens sind es die Versuche, die "organizistische" Konzeption weiterzuführen und die Kultur (als etwas Einheitliches) mit den einzelnen Kulturen zu vergleichen, von denen jede als ein Organismus betrachtet wird, dessen Grundlage bestimmte "Konzepte" (Stepanov, 43), "Schlüsselwörter der Kultur" (Michajlov, 537) bilden. Mit Stepanov ist "Kultur die Gesamtheit der Konzepte und der Beziehungen zwischen ihnen, die in verschiedenen "Reihen" (in den evolutionären semiotischen Reihen, in den Paradigmen, Stilen, Isoglossen, Konstanten) ihren Ausdruck finden" (Stepanov, 40). Das Konzept wird dabei als die "Grundzelle der Kultur in der mentalen Welt des Menschen" bezeichnet. Die Semiosphäre wird also durch eine Konzeptosphäre ersetzt und die Welt einer nationalen Kultur als eine "nationale Konzeptosphäre" bezeichnet. Konzepte der Kultur werden den Kulturbegriffen gegenübergestellt. Es wird auch hervorgehoben, daß die wissenschaftliche Erkenntnis und Beschreibung der Konzepte ihre deutlichen Grenzen hat. Hinter diesen Grenzen "liegt eine geistige Wirklichkeit, die nicht beschrieben, sondern nur erlebt werden kann" (Stepanov, 83). Dieser apophatische Zugang erweist eine deutliche Konnotation mit einem der theologischen Prinzipien der russischen ortodoxen Kirche, mit der Absage an die sprachliche Begrifflichkeit, und kann als Produkt einer Weltbildlinguistik bezeichnet werden, die in Rußland ihre Renaissance erlebt in ihren Bemühungen, den "Geist der russischen Sprache" zu ermitteln.

 

Literatur

Asojan Ju., Malafeev A.: Otkrytie idei kul´tury. Moskva 2000.

Dal´ V.: Tolkovyj slovar´ zvogo velikorusskogo jazyka. Bd. 2. Moskva 1979.

Eismann, Wolfgang: Kultur und Kulturwissenschaft in Russland. In: kultur-wissenschaft-russland. Beiträge zum Verhältnis von Kultur und Wissenschaft aus slawistischer Sicht. Hrsg. von Wolfgang Eismann und Peter Deutschmann. Frankfurt a.M. u.a. 2000, S. 9-20.

Ionin L.: Sociologija kul´tury. Moskva 1996.

Kazin A.: Filosofija iskusstva v russkoj i evropejskoj duchovnoj tradicii. Sankt-Peterbrug 2000.

Lotman J.: Kunst als Sprache. Untersuchungen zum Zeichencharakter von Literatur und Kunst. Hrsg. von Klaus Städtke. Leipzig 1981.

Ders.: Vnutri mysljasch mirov. Moskav 1996.

Michajlov A.: Obratnyj perevod. Hrsg. von D. Petrov und S. Churumov. Moskva 2001.

Ozgov S., Svedova N.: Tolkovyj slovar´ russkogo jazyka. Moskva 1993.

Stepanov, Jurij S.: Konstanty: Slovar´ russkoj kul´tury. - 2., verb. u. erg. Aufl. Moskva 2001.

Teichgräber, Stephan-Immanuel: Kultur und Grenze. Der Kulturbegriff bei Jurij M. Lotman. In: kultur-wissenschaft-russland, S. 211-224.

Verescgin E., Kostomarov V.: Jazyk i kul´tura. - 4., erg. U. verb. Aufl. - Moskva 1990.

 

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