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Begriffe/Concepts/Concepts: Kultur | Culture | Culture

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Dagmar Koštálová (Bratislava) [BIO]

Kulturbegriff in der slowakischen Sprache

 

Das Wörterbuch der slowakischen Sprache erklärt das Wort Kultur ("kultúra") zum einen als den Komplex von Ergebnissen der schöpferischen Tätigkeit der Menschen im Entwicklungsprozess der Gesellschaft. In diesem Sinne ist Kultur dem Begriff der Zivilisation ("civilizácia") gleichgesetzt. Zum anderen deutet es Kultur als den Komplex von materiellen und geistigen Werten in einer bestimmten Epoche. In diesem Zusammenhang sind als Bespiele die byzantinische und die Volkskultur angeführt. Der Begriff Zivilisation wird als eine höhere Entwicklungsstufe der Menschheit, vor allem auf dem Gebiet des technischen Fortschritts definiert. Diesmal wird Zivilisation wiederum mit der Kultur einer solchen Gesellschaft gleichgestellt.

Ähnlich deutet auch die Enzyklopädie der Slowakei den Begriff Kultur als den Komplex von materiellen und geistigen Werten, die die Menschheit im Prozess historischen Entwicklung produziert. Darüber hinaus wird hier versucht, die Spezifik der slowakischen Kultur zu umfassen. Von grundlegender Bedeutung ist die Behauptung, dass sich die slowakische Kulturentwicklung nicht grundsätzlich von der Entwicklung anderer Nationen Mitteleuropas unterscheide, obwohl die Slowaken staatliche Autonomie erst seit dem 20. Jahrhundert kennen. Konstituierend für diese Entwicklung und somit auch für die Handhabung des Begriffs war der definitive Sieg des westeuropäischen Kultureinflusses auf dem Gebiet der heutigen Slowakei im 11. Jahrhundert, in nicht unbeträchtlichem Masse auch die Orientierung der überwiegend von Deutschen bewohnten Städte in dieser Region am deutschsprachigen Kulturraum. Ähnlich wie bei den Tschechen, deren vom diesem Raum ebenfalls stark geprägte Kultur auf die slowakische Entwicklung zusätzlich immer starken Einfluss ausübte, beginnt für die Slowaken gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein reger nationaler und kultureller Selbstbewusstwerdungsprozess, in dem die Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff eine wichtige Rolle spielt. Gegenüber der dominierenden Kultur Ungarns - als Oberungarn war die heutige Slowakei bis 1918 Bestandteil des ungarischen Königreichs und einem starken Magyarisierungsdruck ausgesetzt - wollen sich die Slowaken als ein eigenständiges Kulturvolk behaupten, dessen Kultur im Gegensatz zu der gebildeten herrschenden Schicht primär in der Lebensweise des einfachen Volkes gründet und von den Trägern der nationalen Wiedergeburtbewegung nicht selten stark idealisiert wird. So begründet Ludovít Štúr, die Leitfigur dieser Bewegung, sein Konzept der slowakischen Nationalkultur auf dem Volksschrifttum, das wiederum auf der eigenen Sprache als dem wichtigsten Ausdrucksmittel des nationalen Emanzipationsprozesses baut.

Ein unumgänglicher Bestanteil aller dieser Bemühungen ist von Anfang an der Kampf der slowakischen Kultur mit der eigenen "Geschichtslosigkeit", mit dem offiziellen Nichtvorhandensein der Slowaken in der Geschichte Mitteleuropas. Zugleich zeugen diese Bemühungen spätestens seit Ende des 18. Jahrhunderts von der erstarkenden Präsenz des unfreien, weil unterdrückten, doch eigenständigen kleinen Volkes, dessen Kultur somit entsprechend plebejisch geprägt und antiherrschaftlich ausgerichtet ist. Infolge der vermissten eigenen Geschichte ist ihr Blick nicht selten statt in die unerfreuliche Gegenwart utopisch in die Zukunft gerichtet. Im Sinne der anzustrebenden emanzipatorischen Ziele der Nation wird der Kulturbegriff auch von den Slowaken selbst in erster Lienie in produktiver Auseinandersetzung mit dem deutschsprachigen Raum definiert, wo viele Repräsentanten der Widergeburtbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihr Universitätsstudium absolvieren. Eine prägende Rolle spielt dabei ausserdem das tiefe Verbundenheitsgefühl mit anderen slawischen Völkern und deren Kulturen, vornehmlich mit dem schon erwähnten Nachbarvolk der Tschechen.

Da also zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Slowaken kaum eigene politische Autonomie in Aussicht haben, spielt in ihrem Überlebenskampf die Frage der kulturellen Eigenständigkeit, der slowakischen Nationalkultur und ihrer Spezifik die zentrale Rolle. Der Begriff Kultur wird somit ganz besonders häufig analysiert, zumal zwischen dem erwähnten plebejischen Charakter der bisher kaum in Erscheinung getretenen eigenen Kultur und den in Anlehnung etwa an den deutschsprachigen Raum definierten emanzipatorischen Ziele für die Zukunft ein beträchtlicher kulturhistorischer Abstand besteht. Es geht in der Auseinandersetzung mit diesem Begriff jedoch nicht so sehr um die Begründung einer spezifischen eigenen Auffassung von Kultur, sondern vielmehr um kulturelles Aufholen einer erwachenden Nation mitten in Europa, das vom produktiven Austausch mit anderen Kulturen in diesem Raum initiiert werden soll.

 

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