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Enzyklopädie vielsprachiger Kulturwissenschaften

Larissa Cybenko (Lviv/Lemberg)

Der Kulturbegriff in der ukrainischen Sprache

 

1. Zur Etymologie und Semantik des Begriffes Kultur im Ukrainischen

Der Begriff Kultur - - stammt im Ukrainischen, wie in den übrigen indoeuropäischen Sprachen vom lateinischen Verb colo, colui, cultum, ere - 1) bearbeiten, den Boden anbauen, pflegen; 2) aufziehen, züchten; 3) leben, bewohnen; 4) Fürsorge haben bzw. geben, 5) eifrig studieren; 6) verzieren; 7) verehren, sich verneigen vor j-m; 8) Aufmerksamkeit schenken; 9) j-n behandeln;(1)

und, dementsprechend, vom Substantiv cultura, ae f, das vom Perfekt Partizip dieses Verbs abgeleitet ist - 1) Anbau, Fürsorge; 2) Ackerbau, Landwirtschaft; 3) Erziehung, Ausbildung, Entwicklung; 4) Verehrung.

Als Fremdwort im Ukrainischen bedeutet Kultur folgendes: (2)
1) Anbau, Bearbeitung, Pflege;
2) im übertragenen Sinn - Gesamtheit der geistigen und materiellen Leistungen der Menschheit, Ausbildung.

Der Begriff Kultur wird im Neuen Definitionswörterbuch der ukrainischen Sprache folgendermaßen gedeutet:

1. Die Gesamtheit der materiellen und geistigen Werte, die von der Menschheit im Laufe ihrer Geschichte geschaffen werden: Er, ein Kaufmann, der ständig mit einem anderen Volk zu tun hatte, der mehrere fremde Länder bereiste,[...] begeisterte sich für Glanz und Reichtum der europäischen Kultur, mehr aber für die äußere Seite (M. Kocjubyns'kyj); // Entwicklungsniveau einer Gesellschaft in einer bestimmten Zeit. // Das, was für die Befriedigung der geistigen Bedürfnisse der Menschen geschaffen wird: Jetzt gibt Franko... alle seine Kräfte der ukrainischen Literatur und Wissenschaft, er kann für unsere Kultur noch viel machen (M. Kocjubyns'kyj).

In diesem Sinne werden folgende Komposita und Redewendungen gebraucht: a) Kulturhaus (Kulturpalast) - eine Institution, wo die Kultur- und Bildungsarbeit durchgeführt wird; b) Kulturarbeiter - die Personen, die auf dem Gebiet der Bildung, der Literatur etc. arbeiten. c) materielle Kultur - die Gesamtheit der Produktionsmittel und der anderen materiellen Werte der Gesellschaft auf jeder historischer Stufe ihrer Entwicklung.

2. Bildung, Erziehung: - Sie unterscheidet sich sehr von ihren Zeitgenossinnen. Mir scheint, sie hat Kultur auch im Herzen (O. Kobyljans'ka).
3. Das Niveau, die Stufe der Vollkommenheit eines Zweiges der wirtschaftlichen oder der geistigen Tätigkeit.(3)
4. Die Zucht, das Gepflanzte // die Pflanze, die gezüchtet wird.
5. Mikroorganismen, die in den Laborbedingungen gezüchtet werden.[dt. Übersetzung L.C.](4)

Im neuen Ukrainischen universellen Lexikon findet man unter Kultur - : "Gesamtheit des materiellen und geistigen Eigentums der Menschheit, die im Laufe der Geschichte akkumuliert, befestigt und bereichert wird. Diese Gesamtheit wird von einer Generation zur anderen weitergegeben".[dt. Übersetzung L.C.]

Im Lexikon der Ukrainekunde, das in der ukrainischen Diaspora in Deutschland 1949 in der ukrainischen Sprache veröffentlicht wurde und als Reprint 1995 in der Ukraine erschien, wird der Terminus Kultur folgendermaßen erklärt:

"Das Wort Kultur bedeutet die Vervollkommnung der äußeren und der inneren Welt, Schaffen und Pflege der Werte des geistigen und materiellen Charakters durch menschliche Gemeinden, - im Gegensatz zur "Natur", also ursprünglicher Faktoren, die ohne Einmischung des Menschen entstehen. Im deutschen Kulturkreis (manchmal auch bei uns) wird unter der Kultur und der Zivilisation unterschieden: beim Begriff Kultur wird der innere (subjektive) Aspekt des schöpferischen Aktes und die menschliche Blickrichtung hervorgehoben, beim Begriff Zivilisation sieht man den äußeren Aspekt, eine objektivierte Form der Kultur, die in den bestehenden Institutionen entfaltet ist (Lebensart und Lebensweise, soziale Formen etc.). Die Kultur, wie jeder schöpferische Prozeß, unterliegt nicht nur den natürlichen, sondern auch den historischen Gesetzen.

Die natürlichen Gründe der Kultur, wie das Klima, die territorialen Besonderheiten, die Rasse der Schöpfer u.a., wirken zusammen mit den historischen Faktoren auf die Gliederung der Kultur in verschiedene kulturelle Territorien (üblich werden sie " Kulturkreise" genannt) und auf die Folge der "kulturellen Epochen". Die Kulturkreise sind normalerweise kein Ergebnis der Tätigkeit einer Nation. Alle Kulturen sind vermischt, ihre Elemente wiederholen sich. Der Unterschied zwischen den nationalen Kulturen besteht in Auswahl und Zusammenstellung der Komponente der Kulturen der einzelnen Nationen und in der Funktion der ausgewählten Komponenten im allgemeinen. Sie gestalten "den Stil" der bestimmten Kultur. Der Prozeß der Auswahl, der Zusammenstellung und seine Verursacher sind noch wenig erforscht.

Zur Kultur gehören solche Bereiche, wie Sprache, Religion, Staat, Kunst, Literatur, Philosophie, Wissenschaft, Lebensart, Recht, ethische Normen etc. Eine besondere Bedeutung haben Religion, Staat und Kunst. Deswegen wird oft durch ihnen der Typ der Kultur bestimmt: christliche, islamische, byzantinische Kultur der bemalten Keramik etc.). Staat und Religion, die selbst Bestandteile der Kultur sind, gehören zu den Faktoren, die den Charakter der Kultur gestalten.

Über die Rolle des Staates und der Religion als Kulturgestalter soll man speziell bei der Hinwendung an die Kulturen der sogenannten "staatslosen" Völker nicht vergessen. Bei ihnen üben auf die Gestaltung der eigenen Kultur der Wille und die Interessen der fremden herrschenden Gemeinschaft Einfluß aus und bewirken Disproportionen und Dissonanzen im Stil.(5)

Mit der wissenschaftlichen Erforschung der Kulturentwicklung, ihrer Zustände und Änderungen beschäftigt sich die Geschichte der Kultur. Ihre wichtigsten Quellen sind - 1) Gegenstände der materiellen Kultur; 2) Gegenstände der geistigen Kultur, insbesondere die Sprache; 3) die historischen Quellen."[dt. Übersetzung L.C.]

 

2. Geschichte und Zustand des Wissens über die ukrainische Kultur

Eine vollständige und umfassende Geschichte der ukrainischen Kultur ist noch nicht geschrieben, obwohl diese Kultur zu den alten und eigentümlichen Kulturen Mitteleuropas gehört. Das ist mit der Tatsache verbunden, daß dieses Land ca. ab Mitte des 14. Jh. unter verschiedene fremdländische Herrschaften geriet (Litauen und Polen) und zur Grenze sowie zum Treffpunkt des Einflusses von zwei wichtigen Kulturtraditionen wurde - der lateinischen und der byzantinischen. Die Zersplitterung zwischen zwei Großmächten - dem zaristischen Rußland und der Habsburger Monarchie (ab Mitte des 17., dementsprechend Ende des 18. Jh. bis 1918/1919) und neue Teilung (in der Zwischenkriegszeit unter Polen und Sowjetrußland), die nach dem Zweiten Weltkrieg in die volle Zuordnung dem totalitären Sowjetsystem überging, prägten den Charakter der ukrainischen Kultur. Das verlieh ihr, von einer Seite, bestimmte plebejische Prägung, die besonders in der Zeit der sowjetischen Kulturpolitik gefördert wurde; von der anderen Seite aber hatte diese Kultur infolge der antiherrschaftlichen Bestrebungen Kulturphänomene vom Weltrang produziert. Als unabhängiger Staat existiert die Ukraine erst ab 1992. In der postkolonialen und posttotalitären Zeit steht die Kultur dieses Landes vor vielen Problemen der unerfreulichen Gegenwart.

Ungeachtet dieses Umstandes, wurden schon ab den 20-er Jahre des 20. Jahrhunderts die ersten Proben gemacht, einen allgemeinen Überblick der ukrainischen Kultur zu machen. 1923 erschien in Leipzig die Arbeit von I. Ohijenko "Ukrainische Kultur", 1931 wurde in Charkiv die populäre Skizze von A. Kozacenko "Ukrainische Kultur, ihre Vergangenheit und Gegenwart" veröffentlicht. Einzelne Themen zur ukrainischen Kultur findet man im dritten Band "Allgemeines ukrainisches Lexikon", das 1934-35 in Lviv-Stanislaviv-Kolomyja erschien. 1937 veröffentlichte in Lviv I. Krypjakevyc "Geschichte der ukrainischen Kultur". Diese Arbeit bleibt bis heute eine wichtige Quelle vieler Daten der ukrainischen Lebensart.

Die besten Darstellungen der ukrainischen Kultur erschienen aber außerhalb der Grenzen der Ukraine, da in der Zwischenkriegszeit und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg viele führende Wissenschafter im Exil - in den ukrainischen Diasporen - in Westeuropa, in den USA und in Kanada lebten und arbeiteten. Eine der ersten Veröffentlichungen war die Artikelsammlung, die V. Zalozec'kyj 1930 in Münster in der Reihe "Deutschtum und Ausland" herausgab. Außer den Artikeln des Herausgebers selbst gibt es hier die Beiträge von D. Antonovyc, L. Bilec'kyj, D. Dorosenko, Z. Kuzela und I. Mircuk.

Eine große Leistung war der Kurs der Vorlesungen im Ukrainischen Technisch-wirtschaftlichen Institut in München von D. Antonovyc (Hg.): "Ukrainische Kultur", der 1940 in Podebrady und 1947 in Regensburg-Berchtesgaden erschien. Dieses Buch hatte mehrere Neuauflagen gehabt. Das umfangreiche Werk umfaßt folgende Teile: Bildung und das Schulwesen; U. Handschriften und Druckwesen; U. Presse; U. Philosophie; U. vorchristliche Religion und Kirche; U. Jurisprudenz; U. darstellende Kunst (Architektur, Skulptur, Malerei, Graveurarbeit, Ornament) und Tonkunst (Musik, Theater, Kinematographie). Unter den Autoren der einzelnen Kapitel sind, neben D. Antonovyc selbst, namhaften ukrainischen Wissenschafter: V. Bidnov, D. Dorosenko, O. Lotoc'kyj, S. Nariznyj, S. Siropolko, V. Sicyns'kyj, D. Cyzews'kyj, A. Jakovliv. Diese Arbeit hat die Öffentlichkeit mit den kulturellen Werten der Ukrainer in der Zeit bekanntgemacht, als viele Themen in der sowjetischen Kulturschreibung verboten waren (z.B. Einfluß der Kirche, des Christentums, der Ikonographie, Beitrag der ukrainischen Kultur in die Weltkultur etc.).

Einige Überlegungen von D. Antonovyc über den Begriff Kultur, die er in der Einleitung anführt, wären nicht uninteressant: "[...] vor allem soll man sich klarmachen, was wir unter dem Begriff Kultur verstehen. Das ist deswegen notwendig, weil in verschiedenen Fällen sich unter diesem Wort verschiedene Bedeutung verbirgt. Im breiteren Sinne drücken diese Worte alles, was der Mensch oder die Gemeinde nicht von der Natur, sondern vom eigenen Verstand und eigenem Schaffen hat, wie auf dem materiellen Gebiet, so auch auf dem geistigen, auf dem Gebiet des gemeinschaftlichen Lebens, der Sitten und Bräuche. [...] Diese breite Bedeutung des Wortes Kultur ist aber vielleicht nur für die Historiker wichtig, die sich mit der Kultur der primitiven Völker beschäftigen, für die Forscher der genetischen Soziologie etc. Im allgemeinen Gebrauch wird dieser Begriff im engeren Sinne verwendet - mit diesem Wort bezeichnet man die Kultur, die einer bestimmten Stufe der Entwicklung entspricht. Wo soll hier die Grenze, die Kulturvölker von den anderen trennt, gezogen werden? Eine genaue Antwort auf diese Frage kann man kaum geben, weil bei verschiedenen Völkern verschiedene Kulturzweige nicht gleich entwickelt sind. Bei einigen ist die materielle Kultur mehr entwickelt, fehlt aber die geistige, bei den anderen sind materielle und geistige Kultur mehr als die gesellschaftliche Kultur entwickelt usw. Also, eine genaue Trennung zwischen den Kulturvölkern und Nichtkulturvölkern kann man hier nicht ziehen.

Die nächste Schwierigkeit besteht in der grenzenlosen Verzweigung sowohl der materiellen als auch der geistigen Kultur. Jeder Zweig entwickelt sich so weit, daß man für seine Erforschung eine spezielle wissenschaftliche Disziplin braucht. Es ist nicht schwer zu sehen, daß die Grundzweige der Kultur, solche, wie materielle,(6) geistige und die gesellschaftliche, sich untereinander verflechten und einige Wissenschaften, wenn sie ihr Objekt erforschen, können z.B. die Äußerungen der geistigen und der materiellen, der materiellen und der gesellschaftlichen Kultur von sich nicht trennen [...]. "Der Verfasser schlägt vor, den Begriff Kultur im engeren Sinne zu gebrauchen, und zwar, die Grenze zwischen der Kultur der Volksmassen, der Mehrheit des Volkes, und der Kultur des intellektuellen Teiles von diesem Volk (der eigentlich der Zahl nach viel kleiner, aber viel fortschrittlicher sein wird) zu ziehen. Hier unterscheidet man zwischen "der Ethnographie (die Synthese) und der Kultur der intellektuellen Schichten des Volkes, die im Unterschied zur Ethnographie im engeren Sinne(7) dem Begriff Kultur entspricht, wie er in der deutschen wissenschaftlichen Literatur gebraucht wird, oder, wie die Franzosen und die Engländer sagen, der Zivilisation." Die Hauptaufmerksamkeit wird im Werk der Kultur dem engeren Sinne des Wortes (dementsprechend der Zivilisation) gewidmet, man solle, laut D. Antonovyc, die Ethnographie aber auch nicht vergessen. Er betont den Mangel des Wissens über die ukrainische Kultur. Es gebe wenig wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema, und man könne nicht objektiv einschätzen, was die Ukrainer für die eigene Kultur gemacht haben, und wie groß ihr Beitrag in die Weltkultur sei. Schließlich solle man, so der Verfasser und Herausgeber der "Ukrainischen Kultur", nicht aus der Acht lassen, daß die Kulturentwicklung von jedem Volk im Prozeß des ständigen Zusammenwirkens verschiedener Völker untereinander verläuft. Eine eigenständige Kultur, die bei einem Volk von Anfang an sich selbständig entwickeln würde, existiere nicht. Die Fähigkeit, die kulturellen Einflüsse wahrzunehmen, sei die notwendige Bedingung der kulturellen Entwicklung und des Fortschritts bei jedem Volk: "Die hohe Kultur des ukrainischen Volkes wird dadurch bedingt, daß es im Laufe von Tausenden Jahren seines prähistorischen und historischen Lebens unter den kulturellen Einflüssen mehrerer(8) Völker stand, die durch das ukrainische Land zogen, mit ihm kontaktierten oder grenzten." Bei der Erforschung des gegenwärtigen Zustandes der Kultur von jedem Volk sei, laut D. Antonovyc, die historische Methode notwendig, also, die Erforschung nicht nur der Kultur des Volkes, sondern auch der Geschichte seiner Kultur.

Als nächsten wichtigen Schritt soll man den Kurs der Vorlesungen von I. Mircuk erwähnen, der 1944 unter dem Titel "Die ukrainische Kultur in ihrem geschichtlichen Werden. Aus den Vorlesungen im Ukrainischen Wissenschaftlichen Institut in Berlin"(9) erschien. Ukrainisch wurde das Buch 1948 in München veröffentlicht, die letzte Auflage war 1994 unter dem Titel "Geschichte der ukrainischen Kultur". Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf der Betonung des Einflusses der Unabhängigkeitsbestrebungen auf die Gestaltung der ukrainischen Kultur. So betont M. Antochy in einer Vorbemerkung: "Die Ukraine hat immer(10) danach gestrebt, frei zu sein, schrieb Voltaire 1731 in einer berühmten Geschichte Karls XII. Der Kampf um Freiheit, Selbstbestimmung und ungeschmälerte nationale Existenz zieht sich fürwahr wie ein roter Faden durch die wechselvolle Geschichte des ukrainischen Volkes." Das Buch wird folgend aufgeteilt: I. Der Werdegang des ukrainischen Volkes. 1. Allgemeine Voraussetzungen. 2. Vorgeschichte.3. Frühgeschichte. 4. Altertum. 5. Mittelalter. 6. Neuzeit. II. Die geistigen Merkmale des ukrainischen Volkes. III. Die ukrainische Kultur - Grundzüge und Merkmale. IV. Sprache. V. Volkskunde. VI. Kirche. VII. Das philosophische Denken in der Ukraine. VIII. Die Leistungen auf dem Gebiete der Wissenschaft. IX. Schrifttum. X. Musikalische Kultur XI. Theater. XII. Bildende Künste. XIII. Das Schulwesen in Vergangenheit und Gegenwart. XIV. Museen, Archive und Büchereien. Zum dritten Kapitel, in welchem unmittelbar das Problem der ukrainischen Kultur behandelt wird, bemerkt M. Antochy: [...] die "scharf und klar ausgeprägte geistige Eigenart des ukrainischen Volkes hat auch Bedeutung für die richtige Beurteilung der zweifellos komplizierten Verhältnisse im osteuropäischen Raum, denn sie widerlegt mit Leichtigkeit zunächst die bis nun geltende These von der Gleichförmigkeit dieses Raumes; andererseits zeigt sie(11) die Gefahren auf, denen sich die von der falschen Voraussetzung der Homogenität Osteuropas ausgehende Forschung aussetzt."

1964 erschien in Kanada in der ukrainischen Sprache eine gründliche "Geschichte der ukrainischen Kultur" in 2 Bänden, die von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von P Tyktor geschrieben wurde. Sie besteht aus folgenden Teilen: Band I.: Mythologie. Lebensart. Band II. Schrifttum. Kunst. Theater. Musik. Im Vorwort zur ersten Auflage bemerkt der Herausgeber: "Die Arbeit an diesem Buch hatte Schwierigkeiten schon beim Entwurf gehabt. Es geht darum, daß es bis jetzt keine allgemeingültige Definition der Kultur gibt und, wahrscheinlich, keine geben wird. Einige verstehen unter diesem Begriff die Ergebnisse der tausendjähriger Arbeit der Menschheit sowohl auf dem materiellen Felde als auch auf dem geistigen; hier wäre man bereit, zur Kultur alle Phänomene des menschlichen Lebens zuzuzählen. Die anderen sind der Meinung, daß zur Kultur nur die Entwicklung der Erzeugung von Waren und Gütern, die Erfindungen, den Fortschritt in den Produktionsprozessen einzurechnen wäre; sie begrenzen sich nur mit der sogenannten materiellen Kultur. Es gibt auch die Stellungsnahmen, die Kultur erst bei den Spitzenleistungen der geistigen Entwicklung des Menschen sehen - in der Kunst, Wissenschaft, Philosophie. Einige möchten die Geschichte der Kultur zur Erforschung der ständigen, typischen Lebensformen reduzieren, die anderen sehen sie in ihrer Mannigfaltigkeit. Einige bemühen sich bei der Entwicklung der Kultur Hauptrichtungen zu finden, die anderen sind mit der Erforschung der einzelnen Gebiete des kulturellen (12) Lebens zufrieden. Wenn man die Lehrbücher aus der Geschichte der Kultur der europäischen Völker anschaut, so sieht man, daß jedes von ihnen nach einem anderen Plan zusammengestellt ist." Dementsprechend wird der Umfang des vorliegenden Buches auf drei Hauptgebieten beschränkt: Lebensart, Literatur und Kunst, einschließlich Theater und Musik.

In der Sowjetukraine, als alle Prozesse in der Kultur ausgeprägt zentralisiert waren und unter die ideologische Kontrolle gestellt wurden, durfte man nur über die sowjetische Kultur, die einen internationalen Klassencharakter hatte, sprechen. Alles, was aus dem Rahmen fiel, wurde als "bourgeois", und automatisch "feindlich" bezeichnet. Die Definition des Kulturbegriffes war für alle "Brüdervolker" der Sowjetunion unifiziert. So wird er im Ukrainischen sowjetischen Lexikon, das 1962 von der Akademie der Wissenschaften der ukrainischen Sowjetrepublik veröffentlicht wurde, gedeutet: "Kultur - (vom lat. cultus - Art des Lebens, Beschäftigung, Bildung) bedeutet die Gesamtheit der materiellen und geistigen Werte, die von der Menschheit im Laufe ihrer Geschichte geschaffen wurden. Alle materiellen Werte[...] gehören zur materiellen Kultur der Gesellschaft. Auf jeder Etappe der historischen Entwicklung widerspiegelt die materielle Kultur das Niveau und den Charakter der produktiven Kräfte der Gesellschaft. Die Ergebnisse auf dem Gebiet der Ausbildung, der Wissenschaft, der Kunst, der Literatur und anderen Gebieten der geistigen Tätigkeit einer Gesellschaft bilden ihre geistige Kultur. Sie widerspiegelt das Niveau der intellektuellen, ethischen, ästhetischen und emotionellen Entwicklung der Gesellschaft. Die materielle Basis der Kultur ist die Produktionsweise der materiellen Güter. Das Niveau der geistigen Kultur wird durch das Niveau der Entwicklung der Gesellschaft und den Zustand der materiellen Produktion bestimmt. Die geistige Tätigkeit der Menschen wirkt ihrerseits auf die Entwicklung der Produktionskräfte der Gesellschaft ein. Die Entwicklung der Kultur ist eine progressive Bewegung auf dem Weg des historischen Fortschrittes. Jeder gesellschaftlichen Formation (13) entspricht ihre Kultur. Jede neue gesellschaftliche Formation vererbt die kulturellen Leistungen der früheren, bearbeitet sie für das Schaffen der eigenen Kultur. Die geistige Kultur, indem sie verschiedene Lebensbedingungen und den Klassenkampf widerspiegelt, wird unvermeidlich zur Kultur verschiedener Klassen." Bei solcher Deutung des Begriffes Kultur wird die Rolle des Staates im kulturellen Prozeß, die Klassenabhängigkeit und die Parteilichkeit der Kultur betont. Im Laufe der "kulturellen Revolution" sollten, laut solchen Zugängen, verschiedene Kulturen zusammenfließen und eine sozialistische Kultur mehrerer Nationen bilden, dabei wird die "brüderliche Hilfe", in erster Reihe des russischen Volkes, betont. Ukrainische Kultur solle zum untrennbaren Bestandteil der internationalen sowjetischen sozialistischen Kultur werden, die eine höhere Stufe der Entwicklung der Weltkultur sein solle. Die kreative Tätigkeit solle dabei für alle Mitglieder der Gesellschaft ermöglicht sein.

2001 erschien der erste Band der modernen "Geschichte der ukrainischen Kultur in fünf Bänden". Sie wird unter den Bedingungen der eigenen Staatlichkeit geschrieben. Im Vorwort zu dieser Veröffentlichung bemerkt der Hauptherausgeber B. Paton, daß man in den letzten Jahrzehnten - unter den Bedingungen des totalitären Regimes - das gemacht habe, was möglich gewesen sei. In dieser Zeit seien auch einige gründliche Arbeiten erschienen. Es habe aber keine synthetische Arbeit gegeben, in der mehrere Jahrhunderte dauernde Geschichte der ukrainischen Kultur,(14) ihre Eigentümlichkeit und Beziehungen zu den anderen Kulturen, ihr Anteil am Weltkulturerbe systematisch durchleuchtet würde. Bezüglich des wissenschaftlichen Aspektes betont er, daß das Ignorieren der Deutung der nationalen Kultur als eines einheitlichen eigentümlichen Systems, das die Entstehung, den Erhalten und die Verbreitung der geistigen Werte sichert und ein lebendiger Teil der Kultur der Menschheit sei, zur episodischen Erforschung und konjunkturabhängigen Deutung der Geschichte und der Gegenwart der ukrainischen Kultur führte: "Viele wichtige Ergebnisse der ukrainischen Kultur waren vulgär verzerrt und vereinfacht, sie wurden vom Standpunkt der 'Theorie der zwei Kulturen' interpretiert. Die Ideale der patriotischen Freiheitsbestrebungen wurden öfters als Nationalismus bezeichnet; die Bemühungen, die Grenzen des dogmatischen Denkens zu überschreiten wurden als der sowjetischen Ideologie feindliche eingeschätzt", so B. Paton. Weiter hebt er hervor, daß die neusten Ergebnisse der Kulturologie (darunter die historisch-vergleichende, strukturelle und interdisziplinäre Methode) in der Sowjetzeit nur begrenzt verwendet sein konnten. Einseitig seien die bedeutendsten Perioden der Geschichte des ukrainischen Volkes,(15) sowie seine Teilnahme am weltkulturellen Prozeß im Zeitalter der europäischen Renaissance und Aufklärung, besonders im Zeitalter des Barocks, der Romantik und der Neoromantik gedeutet worden. "Wir waren eigentlich künstlich aus der europäischen Völkerfamilie ausgeschlossen" - betont der Leiter des Autorenkollektivs. In dieser Arbeit wird die Kultur und die Ethnogenese auf dem ukrainischen Boden erforscht, die Kultur von Kyjiver Rus' als wichtige Etappe der Entwicklung der ukrainischen Kultur betrachtet, der Zustand der ukrainischen Kultur in der Zeit von Litauen und Polen gezeigt (bis Mitte des 17. Jh.), die Bedeutung von Zaporizer Sic objektiv eingeschätzt, der Gang und die Resultate des Befreiungskrieges von Bohdan Chmel'nytzkyj gedeutet, die tragischen Nachfolgen der Liquidierung des Het'manenstaates gezeigt. Bei der Darstellung der nationalen Wiedergeburt im 19./20. Jh. werden nicht nur künstlerischen, sondern auch andere kulturelle Werte analysiert (Familie, Lebensart, Bildungssystem, Bibliotheken, Archiven, Museen). Es werden solche Bestandteile der Kultur erforscht, wie Religion, Gesetzgebung, Philosophie, Wissenschaft. Die Entwicklung der ukrainischen Kultur im 20. Jh. wird vom Autorenkollektiv neu eingeschätzt; es wird gezeigt, wie in den Bedingungen der Unterdrückung der nationalen Initiativen das ukrainische Volk die Kulturwerte allgemeiner Gültigkeit schuf. Außerdem wäre wichtig zu betonen, daß diese Arbeit vom Standpunkt des methodologischen Pluralismus durchgeführt wurde, der für die ukrainische Kulturgeschichte und Kulturwissenschaft neu ist.

 

ANMERKUNGEN

1 Latynsko-russkij slowar'. - Moskva: Russkij jasyk, 1976. - S. 205, 276. - Lateinisch-russisches Wörterbuch. - Moskva: Russkij jasyk, 1976. - S. 205, 276.

2 Slovnyk cuzomovnych sliv. Hg. I. Bojkiv, O. Isjumov, H. Kalysevs'kyj, M. Trochymenko - Kyjiv: Rodovid, 1996. - S. 228. - Das Fremdwürterbuch. Hg. I. Bojkiv, O. Isjumov, H. Kalysevs'kyj, M. Trochymenko - Kyjiv: Rodovid, 1996. - S. 228.

3 Novyj tlumacnyj slownyk ukrajins'koji mowy v 4 t. - Hg. V. Jaremenko, O. Slipusko. - Kyjiv: Akonit, 1999. Bd. 2. - S. 417. - Das neue Definitionswörterbuch der ukrainischen Sprache in 4 Bd. - Hg. V. Jaremenko, O. Slipusko. - Kyjiv: Akonit, 1999. Bd. 2. - S. 417.

4 "USE" - universalnyj slovnyk-enzyklopedija. - (Hg.) M. Popovyc, - Kyjiv, "Iryna", 1999. - S. 734 - Universalles Wörterbuch-Lexikon. - (Hg.) M. Popovyc, - Kyjiv, "Iryna", 1999. - S. 734.

5 Lexikon der Ukrainekunde. Allgemeiner Teil. Wiederauflage in der Ukraine. - Kyjiv: NAW der Ukraine. Institut für Archeographie, 1995. Reprint der Auflage von 1949. S. 694.

6 Antonovyc D. Ukraijins'ka kultura. - München: Ukrainisches Technisch-wirtschaftliches Institut, 1988. - S. 9. - Antonovyc D. Ukrainische Kultur. - München: Ukrainisches Technisch-wirtschaftliches Institut, 1988. - S. 9.

7 Ebenda.

8 Ebenda, S.14.

9 Mirtschuk I. Geschichte der ukrainischen Kultur. - München: Ukrainisches Technisch-wissenschaftliches Institut, 1994.

10 Mirtschuk I., Op. cit., S.5.

11 Ebenda.

12 Tyktor P. (Hg.) Istorija ukrajins'koji kultury. W 2-ch tomach. - Winnipeg: Ukrainian Book club, 1964. Vstupne slovo. - Tyktor P. (Hg.). Geschichte der ukrainischen Kultur. In 2 Bd. - Winnipeg: Ukrainian Book club, 1964. - Vorwort.

13 Ukrajins'ka radjans'ka enzyklopedija. AN URSR. Ò. 7. - Kyjiv: Holovna Redakcija Ukrajins'koiji radjans'koji encyklopediji, 1862. - S. 483. - Das ukrainische sowjetische Lexikon. AW USSR. Kyjiv: Holovna Redakcija Ukrajins'koiji radjans'koji encyklopediji, 1862. - S. 483.

14 Istorija ukrajins'koji kultury u p'jaty tomach. Holovna redkolejija: B. Paton, H. Verves, I. Kuras, P Tolocko, V. Danylenko. - Kyjiv: Naukowa dumka, 2001. - S.5. - Geschichte der ukrainischen Kultur in fünf Bänden. - Hg. B. Paton, H. Verves, I. Kuras, P Tolocko, V. Danylenko. - Kyjiv: Naukowa dumka, 2001. - S.5.

15 Ebenda.


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