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Birgit Mersmann (Seoul National University/Korea) [BIO]

Virtualität

Versuch einer terminologischen Verdichtung

 

Seit Entwicklung der Computertechnologie und Entdeckung des Cyberspace, eines computergenerierten fraktalen Raums, der es uns möglich macht, Modellwelten zu simulieren, d.h. sogenannte virtual reality zu erzeugen, ist der Begriff Virtualität zu einem inflationär verwendeten Modewort aufgestiegen, das die neue digitale Verfasstheit der sogenannten dritten Kultur an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine zum Ausdruck bringen soll. Die Überstrapazierung des Begriffs in einer auf Computertechnologie ausgerichteten Medien- und Informationsgesellschaft führte dazu, dass der Begriff konzeptuell immer einseitiger an den Computer als Ort und Medium einer technischen Wirklichkeitskonstruktion rückgebunden und dadurch - vor allem im alltäglichen Sprachgebrauch - ein Gegensatz zwischen Virtualität und Wirklichkeit aufgebaut wurde. Dieser verengende Blick soll durch eine sowohl historisch-kultursoziologische Perspektive auf das Phänomen der Virtualität als auch eine nähere Verhältnisbestimmung der Trias "Virtualität - Realität - Kunst" aufgebrochen werden. Ausgangspunkt für die terminologische Bestimmung ist eine multiperspektivische Annäherung an den Begriff der Virtualität unter folgenden Aspekten: 1.0. Virtualität als ästhetischer Begriff 2.0. Kunst und Virtuelle Realität 3.0. Virtuelle Realität(en) 4.0. Realien der virtuellen Realität und Virtualisierung der Realität 5.0. Virtuelle Realität als enzyklopädischer Hyperlink.

 

Beginnen möchte ich mit einer Begriffsdefinition von "Virtualisierung", wie sie Manfred Faßler im Glossar seines Buches über "cyber-moderne. medienrevolution, globale netzwerke und die künste der kommunikation" gegeben hat. Dass im Glossar gerade nicht der statische, terminierende Begriff der Virtualität, sondern der dynamisch-prozesshafte der Virtualisierung Aufnahme gefunden hat, scheint mir mehr als bezeichnend, da sich darin bereits die zeitliche Ungebundenheit und Unabschließbarkeit ausdrückt, die, wie die folgende Definition zeigt, die geschichtliche Kontinuität des Virtuellen untermauert:

"Da dem Menschen keine unmittelbare Wahrnehmung von Welt zu eigen ist, macht er sich Modelle dieser Welt. Er be-zeichnet, be-schreibt, er-zählt, erzeugt Zeichnungen, Schriften, Bilder, Gedichte, Romane, in denen das, was er für wahr und wirklich hält, der Möglichkeit nach vorhanden ist. Sie öffnen phantastische, glaubwürdige, fiktionale und überprüfbar gemachte Wahrnehmungsräume der Literatur, der Wissenschaften, der Poesie und der Kunst. Die Bewegung in diesen virtuellen Räumen war eine ausschließlich gedankliche. Durch die programmierten digitalen Virtuellen Realitäten sind die Bewegungen physikalische und physiologische, taktile und audiovisuelle Berühungen mit (stochastisch und kulturell) wahrscheinlichen Möglichkeiten geworden."

Das Virtuelle wird also nicht erst mit dem Computer geboren, es ist, um mit Constantin von Barloewen zu sprechen, eine anthropologische Grundkonstante in der Zivilisationsgeschichte des Menschen. Mit der Erfindung der Sprache als Medium der Bezeichnung tritt der Mensch bereits in den virtuellen Raum ein. "Die menschlichen Sprachen", heißt es bei Barloewen, "virtualisieren die wirkliche Zeit, die materiellen Dinge, die aktuellen Ereignisse. Sie fügen der Welt eine neue Dimension zu, das Ewige, das Göttliche. Die Technik wird zu einer Virtualisierung der Aktion." Wenn Werkzeuge, wie André Leroi-Gourhan und Marshall Mc Luhan behaupten, Verlängerungen des Körpers sind, dann erzeugen sie einen expandierten Raum, den man als virtuell bezeichnen kann. Wenn sich also "das Werkzeug als Kristallisierung des Virtuellen fassen" lässt, dann unterliegen das Werkzeug der Sprache sowie andere Kulturtechniken im selben Maße einer Virtualisierung wie technische Werkzeuge, Maschinen und der Computer. Wie schon von Faßler erwähnt, sind neben Technik und Wissenschaft die Künste aufs Engste mit dem Virtuellen vernetzt. Ob Literatur oder bildende Kunst, hier kristallisiert sich das Virtuelle als Ort der Imagination und (utopischer) Entwurf von (Gesellschafts-)Wirklichkeit in gebündelter Form. Die bildende Kunst bietet noch einmal einen Sonderfall, da sie aus dem Handwerk hervorgegangen und immer der techné symbiotisch verhaftet blieb - was in der heutigen Medienkunst, die sich als Technokunst versteht, eine neue Zuspitzung erfährt. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass der Begriff des Virtuellen vor allem in der philosophischen Denktradition der Ästhetik schon früh auftaucht.


1.0. Virtualität als ästhetischer Begriff

Das Konzept der virtuellen Existenz ist Aristotelischen Ursprungs. Eine virtuelle Existenz ist eine latente Existenz, die sich nicht manifestiert, jedoch Realisierungs- und Wirkmöglichkeiten beinhaltet. Während das Mögliche ein latentes Wirkliches ist, ist das Virtuelle ein latentes Aktuelles. Bereits hier bei Aristoteles scheint eine Grunddefinition auf, die den weiteren Diskurs über Virtualität bis in die gegenwärtige Diskussion in der Philosophie hinein bestimmt. Das Virtuelle steht nicht dem Wirklichen, sondern dem Aktuellen gegenüber. Die Artikulierung des Virtuellen erscheint als Manifestation eines Ereignisses. Virtuelle Existenzen sind latente Wirkmöglichkeiten eines Seins, die nicht notwendigerweise eintreten müssen, d.h. sich aktualisieren. Zur Erläuterung führt Aristoteles in seiner Poetik das Beispiel eines Musikers - genauer gesagt: eines Instrumentalisten an - der gerade nicht sein Instrument spielt, der aber, aufgrund des von ihm Gelernten, virtuell die Fähigkeit besitzt, dieses sein Instrument zu spielen und diese Fähigkeit oder Wirkkraft, eben seine Virtualität nur durch Aktualisierung unter Beweis stellen kann. Dass Virtualität nur eine Wirkmöglichkeit und Wirkmächtigkeit ist, die vielleicht nie den Sprung in die Aktualität schafft, kann das vielzitierte Beispiel belegen, dass künstlerische Begabung vielleicht ein Leben lang unentdeckt, d.h. latent bleibt, wenn keine Möglichkeit zur Aktualisierung besteht. Wie virtuell jedes Kunstwerk ist, konnte ein Film über Picasso dokumentieren, in dem gezeigt wurde, wie der Künstler während des Malprozesses immer neue virtuelle Existenzen aktualisierte und so das Bild einem beständigen Transformationsprozeß unterzog, bis er sich schließlich für eine bestimmte Möglichkeit als definitives Bild entschied. Das Virtuelle kann in diesem Sinne als Futurum seines physischen Werdens bestimmt werden. In dem Maße, in dem sich die Kunst auf ihren Entstehungsprozess beruft und sich als "work in progress" begreift, beginnt sie sich selbst zunehmend über das Virtuelle zu definieren. Die Kunst der Moderne wird von einem solchen Virtualisierungsschub größeren Ausmaßes erfasst. Wenn Faßler von einer Cyber-Moderne spricht, weil er in ihr die Fortsetzung der Moderne mit kybernetisch-elektronischen Mitteln sieht, dann scheint es auch legitim, die Moderne auf diese ihre Virtualität hin zu befragen. Dabei wird es um eine Ontologie des Virtuellen und damit auch um eine Realität des Virtuellen gehen, wie sie im Zentrum der sich auf Bergsons Überlegungen zum Virtuellen und Aktuellen berufenden Deleuzeschen Philosophie als Theorie der Mannigfaltigkeiten steht.

2.0. Kunst und Virtuelle Realität

Das Sein als Virtuelles zu problematisieren, heißt, Leben als immanente Macht, als lebendige Produktion seiner Modi zu begreifen. Auf dieses vitalistische Modell, das Sein als fortgesetzte Schöpfung, als Form des Werdens interpretiert, stoßen wir bereits in der abstrakten Kunst, vor allem bei Kandinsky, der den Lebensschwung im "Leben der Formen", ihrer schöpferischen Entwicklung einfangen wollte. Mit seiner organischen Abstraktion strebte er ein offenes, vielschichtiges Kunstwerk an, das der Vorstellungskraft sowohl des Künstlers als auch des Betrachters Interpretationsspielraum lässt. Abstrakte Kunst bietet dem Betrachter eine "virtualiter" vorhandene Welt an, die dieser erst aktualisieren muss. In gewisser Weise hat schon der Impressionismus dem Betrachter eine solche Aktualisierung des Virtuellen zugemutet, indem er von ihm die Mischung der Farben auf der Netzhaut verlangte, und der Kubismus führte diesen Ansatz weiter fort, indem er den multiperspektivisch latent vorhandenen Gegenstand zum Seh-Ereignis werden ließ. Die in der Moderne aufbrechende Tendenz zur Virtualisierung wurzelt in einer Krise des bis dahin geltenden Realitätsverständnisses. Wie ein Kartenhaus stürzt die alte Vorstellung, dass die Natur etwas ab- und nachbildet, Wirklichkeitsaneignung also auf dem Mimesisprinzip basiert, zusammen. Bei Malewitsch heißt es: "Dass in der Natur eine Idee herrscht, ist Wahnvorstellung des Menschen. Die Natur bildet nichts nach, geschweige denn ab. Allein der Mensch sieht in ihr die Abbildung eines Systems, einer inneren Ordnung." Da die Wirklichkeit selbst nicht zu erreichen ist, da sie immer ein menschliches Konstrukt bleibt, sieht sich Kunst nicht mehr gezwungen, Wirklichkeit abzubilden, sie kann daher Welt neu schöpfen. Indem der ungegenständlichen Kunst mehr Wirklichkeit als der Realität zuerkannt wird, erhält die Kunst eine neue Wirkmächtigkeit, die ihr den Weg in eine Virtuelle Realität bahnt. Die abstrakte Kunst ist so abstrakt nicht, wie man es ihr gerne unterstellen möchte. In dem Moment, wo Kunst selbst schöpferisch tätig wird, wie dies exemplarisch im Konstruktivismus der Fall ist, drängt sie nach Konkretisierung und "Verwirklichung". Die Geschichte der abstrakten Kunst hat gezeigt, wie das Bild, zunächst von Kandinsky noch ganz immateriell als "in der Luft schwebendes Wesen und Geist" definiert, zunehmend den dreidimensionalen Raum zu erobern, im gesellschaftlichen Lebensraum Fuß zu fassen und sich am Weltaufbau zu beteiligen beginnt. Dieser Verwirklichungsanspruch geht so weit, dass die Künstler zu Ingenieuren einer gerechten, ästhetisch geprägten Wirklichkeit werden sollen. Ob man utopische Gesellschaftsentwürfe der Konstruktivisten und Bauhäusler oder aber Beuys künstlerisches Lebensmodell der "sozialen Plastik" in Betracht zieht, verbindend ist, dass die Kunst gestaltend in die Lebenswelt eingreifen und diese durch Ästhetisierung in eine bessere Welt umgestalten soll. Die gesellschaftliche Wirklichkeit soll durch Kunst neu geschaffen werden. Das Innere (der Kunst) soll das Äußere (der Wirklichkeit) hervorbringen. Die von den Konstruktivisten entworfenen Kunst(lebens)räume sind virtuelle Räume, sie sind durchaus dem Prinzip des "artificial life" und der VR verpflichtet, wenn man davon ausgeht, dass es sich bei virtueller Realität um realisierte Virtualität im Sinne einer Verbindung von Kunst und Leben handelt. Bezeichnend ist, dass der mit dem Konstruktivismus als Kunstrichtung eingeleitete Aufbau einer System- und Kunstwelt von einer starken Internationalismusbewegung getragen war. Der Gründungsaufruf der "Union internationaler fortschrittlicher Künstler" hob den menschen- und völkerverbindenden ebenso wie den grenzauflösenden Anspruch der neuen Kunst hervor. Wenn Kandinsky im Vorwort zum Katalog der "Ersten Großen Internationalen Kunstausstellung" vom "großen Geistigen" und von der "großen Synthese" spricht, so klingt dies in unseren Ohren wie eine Vorahnung des "global brain", als das heutzutage das world wide web fungiert. Mit dem Konstruktivismus, der das "Leben als Wirklichkeitssimulation" begreift, dies meine These, tritt in der Kunst eine erste Stufe virtueller Realität in Erscheinung. Dies hängt mit einer Drift der Bedeutungsordnung von der Mimesis zur Autopoesis und von der Ontologie zur Mediologie zusammen. Wo sich die Kunst zum ersten Mal mit technischen Medien (Fotografie, Film, Presse) konfrontiert sieht, da wird sie sich ihrer selbst als Medium und Technik erneut bewußt. Die Geschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert dokumentiert diesen Prozeß der Medialisierung und Technisierung der Kunst, der schließlich über eine zunehmende Kinetisierung in die elektronische und digitale Medienkunst mündet. Medialisierung bedeutet immer auch Virtualisierung. Die Erfahrung einer Mensch-Maschine-Schnittstelle wird zum ersten Mal in der Moderne virulent, wobei die Maschine jedoch dem Menschen noch als Werkzeug dient. Mit der computergenerierten virtuellen Realität gewinnt diese Erfahrung eine neue Dimension hinzu: die der Interaktivität. Der Mensch selbst kann zum Werkzeug und Medium der Maschine werden.


3.0. Virtuelle Realität(en)

In engerem Bedeutungssinn wird dort von Virtueller Realität gesprochen bzw., da nicht nur eine neue Welt, sondern eine Vielzahl von Universen entworfen werden kann, von virtuellen Realitäten im Pluralis, wo Denkmodelle und Weltentwürfe durch Computergenerierung in Realität umgesetzt werden. Das von Buckminster Fuller Ende der 60er Jahre entwickelte "World Game", der erste Welt-Simulator, kann als Vorform heutiger virtueller Realitäten gelten, bevor dann der Computer zum eigentlichen Erzeugermedium virtueller Realität wurde. Mit der Erfindung der Computertechnologie erhält der klassische Virtualitätsbegriff nicht nur Konkurrenz, sondern auch ein technizistisches Fundament. Das virtuell Reale menschlichen Denkens fließt mit der programmierten virtuellen Realität zusammen. Mentale Virtualität, die als Modell der Wirklichkeitswahrnehmung und auch Wirklichkeitsveränderung fungiert, stößt auf sich selbst im Spiegelbild computertechnischer Virtualität und beginnt diese als Extension ihrer selbst auf einer Metaebene zu begreifen. Gedankliches kann sich als Cyborg materalisieren und "verkörpern", ohne den immateriellen Raum des "In-between" zwischen Vorstellung und physischer Objektwelt aufgeben zu müssen. In diesem Sinne kann man Virtuelle Realität, wie es Lucien Sfez in seinem Aufsatz "Das Netzwerk regiert unser Denken" formuliert hat, auch als "Technik des Denkens" verstehen. Die Bezeichnung des Internet als "global brain" beruht auf ebendieser Vorstellung. Die Vernetzung von mentaler und technisch erzeugter Virtualität, virtuell Realem und virtueller Realität führt zu einer Erweiterung menschlichen Denkens und Wahrnehmens. "Es ist eine Transformation der Kultur, die - dem Charakter der Zeichen gemäß - eher Rettung des Geistes als seinen Verlust bedeutet". Die eine Technik des Denkens berührt sich mit der anderen Technik des Denkens und entwickelt dadurch neue Techniken des Denkens. Faßler umreißt dies mit dem Begriff der Künstlichkeit, den er über den der Virtualität stellt. In seiner sechsstufigen Gliederung einer sozialen Technik- und Mediengenese, die er in Anlehnung an Bleike Eggers vierstufiges Modell entworfen hat, definiert er Virtualität als "sozialen Kunst-Raum bzw. programmierte räumlich-skulpturale Kunstformen der Konzepte von Abstraktionen" und Künstlichkeit als "mediale Sphäre, in der Virtualitätsgattungen als informationelle Realität neue Techniken des Wahrnehmens, des Denkens und pragmatischer Entscheidungen bewirken".


3.1. Kunst - Virtuelle Realität - Künstlichkeit

Zu fragen ist, wie sich nun die computergenerierte Virtuelle Realität auf die Kunst, jenen Bereich, dem das Virtuelle von Anfang an eingeschrieben war und in dem beständig Virtuelle Realität(en) hervorgebracht wurden, auswirkt. Inwieweit entsteht hier im Zusammenprall zweier Virtualitäten, einer Virtualität erster und zweiter, mental-technischer und computertechnologischer Ordnung, eine neue Ästhetik? Die Symbiose von Kunst und Computertechnologie führt zu einer neuen Künstlichkeit der Kunst, einer Artifizialisierung des Artefakts. Ästhetik verschmilzt mit der Materialität der Medien. Faßler leitet hieraus eine mediale Poiesis als neue Form einer kommunikativen und informationellen Ästhetik ab. Lange Zeit war Kunst in die Sphäre des Geistigen und Ideellen verbannt. Ihre mentale Virtualität fungierte als Gegenentwurf zur Wirklichkeit. Wo Technologie und Kunst verschmelzen, wo die technologische Generierung mit dem schöpferischen Genius zusammenfällt, da wird Kunst zur Medienkunst und zum Medienereignis.

Das radikal Neue an der elektronischen Kunst ist, dass der Betrachter nicht in seinem Beobachterstatus verbleibt, sondern mit dem Werk auch physisch in Dialog treten kann. Seine Betrachtung und sein Verhalten vor dem Bild steuern das Bild und die Maschine. Virtuell daran ist die Doppelhelix von Außen und Innen, Selbstbeobachtung und Selbstschöpfung. Der Kunstbetrachter betrachtet nicht mehr nur einseitig das Bild, sondern das Bild selbst betrachtet ihn und reagiert auf seine Betrachtung. Damit gesellt sich zur Autopoiesis des Systems die Allopoiesis, sprich Fremderzeugung, hinzu. Fred Forest hat dies die Krise der Selbstbeobachtung genannt: "Die Bilder, so scheint es, werden 'intelligent'... gestern habe wir sie noch betrachtet, heute betrachten sie uns bereits. In einer interaktiven Relation, in der mir keineswegs klar ist, ob wir noch das Privileg der Initiative und der Kreativität besitzen, testen sie unsere Fähigkeiten, Antworten zu geben. Die Bilder fordern ihre eigene Identität und kämpfen um ihre Autonomie." Der Kampf der modernen Kunst um die Autonomie des Bildes, dessen Befreiung aus der Wirklichkeitsgebundenheit, ist hier im neuen Stadium einer Hyperautonomie angelangt. Die sich selbst erschaffende Kunst wird zum handelnden Subjekt, das auf einer Stufe mit dem Menschen agiert und reagiert. Die Relation des menschlichen Betrachters zum elektronischen interaktiven Kunstwerk ist eine doppelgesichtige, ein Interface zwischen Aktivität und Passivität. Der Betrachter reißt das Steuer an sich, er navigiert das Bild und wird doch auf der anderen Seite vom Bild gesteuert. Eben diese Drift zwischen Mensch und Medium ist symptomatisch für maschinentechnisch erzeugte Virtualität.

3.2. Virtuelle Realität und Kultur

Die Schaffung von Virtualitäten kann als Kulturleistung schlechthin angesehen werden. Kulturgeschichte als Geschichte metaphysischer Wirklichkeitsentwürfe ist Ausdruck von Virtualitäten. Rötzers und Weibels Definition von Kultur lautet dahingehend: "Eigene Wirklichkeiten und damit gewissermaßen immer auch Virtualitäten zu schaffen ist vermutlich eine bessere Definition von Kultur als diejenige, dass Kultur eine Wirklichkeit an sich im Sinne anthropologischer Konstanten interpretiert." Die Anbindung des Kulturbegriffs an den des Virtuellen hat zur Folge, dass Kultur nicht mehr als feststehender und fest zu umreißender Ist-Zustand, sondern als transitorisch-dynamisches Modell von Wirklichkeit, als "Aktualisierung immer nur einiger von potentiell vielen möglichen Kontexten" (Vilém Flusser) definiert wird.

Wie wirkt sich nun aber die Existenz virtueller Realität(en) zweiten Grades an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine auf die Kultur aus? Inwieweit potenziert sich das der Kultur immanente Virtualisierungspotential? Häufig hat man von der Entstehung einer "dritten Kultur" gesprochen, wobei natürlich zunächst einmal zu fragen ist, was eigentlich mit erster und zweiter Kultur gemeint sein soll. Der Begriff stammt ursprünglich von dem amerikanischen Wissenschaftshistoriker C.P. Snow, der ihn 1963 der Neuauflage seines Buches über "Zwei Kulturen" hinzufügte. Die dritte Kultur sollte die Kultur der literarisch geprägten Intellektuellen und die der (Natur-)Wissenschaftler auf einer höheren Ebene zusammenführen. Der Begriff "Dritte Kultur" wurde später dann auf die sich neu herausbildende Technokultur übertragen. Er taucht dort zum einen als "low culture"-Begriff mit der sogenannten "Nerd"-Kultur, der Pop-Kultur der Nintendo-Kids auf, und ebenso als "high-culture"-Begriff einer interdisziplinären und transnationalen Wissenschaftskultur, die im world wide web Geisteswissenschaften, und hier vor allem die Kommunikations- und Medienwissenschaften mit den Naturwissenschaften vernetzt.

Wie formt sich nun in einer solchen durch die Netzwerke der Telepräsenz entstehenden dritten transnationalen Kultur kulturelle Identität aus? Die dritte in der virtuellen Realität des Internets sich herausbildende Kultur, die auf der Grundlage der Cyberculture entsteht, jedoch nicht mir ihr notwendigerweise zusammenfallen muss, kann und wird sich nicht mehr primär über geografische territoriale Bindungen definieren. Morley und Robinson sprechen von "territories of transmission". Die Übertretung und Überkreuzung von Territorien führt zu einer neuen transnationalen kulturellen Identität, deren Identitätsgewinnungsprozess in der Kulturtheorie lange Zeit dichotomisch entweder als Homogenisierung oder als Heterogenisierung beschrieben wurde. In letzter Zeit hat aber vor allem die Hybridkultur als interkulturalistisches Synkretismuskonzept, das Globalität und Lokalität, Prämoderne und Moderne miteinander verzahnt, von sich reden gemacht. Hybridkultur bezieht sich vor allem auf Kultur als Durchmischung und Vermischung, Verkettung und Vernetzung, sozusagen auf Kultur als Hyperlink. Als hybrid kann zum Beispiel eine Kultur gelten, die mit dem Ziel, eine transkulturelle Kommunikation zu gewährleisten, Kultureme einer anderen Kultur so übernimmt, dass sie intern anschlussfähig sind, extern aber kaum identitätsstiftendes Gewicht haben. Hinzu kommt, dass die auf der Grundlage von virtueller Realität entstehende dritte transnationale Kultur in ihrer kulturproduktiven Dimension als "andauernder Übersetzungsvorgang" (Manfred Faßler) erkannt und interpretiert werden muss.

Wie wichtig trotz oder gerade wegen der Entstehung einer Transkultur die eigene kulturelle Identität und Perspektive ist, möchte ich kurz an den "virtual beauties", digitalen 3D-Illustrationen eines in Japan zum Sexsymbol aufgestiegenen Pin-up-girls veranschaulichen, das von Sonehachi entworfen wurde. Traditionellerweise beruht die visuelle Sprache in Japan auf einer subjektiven Wahrnehmung von Raum und Zeit. Perspektivische Raumkonstruktionen sind der japanischen Kultur grundsätzlich fremd und sie tauchen erst mit westlichem Einfluss auf. Daher rührt, dass Japaner visuell stark an zweidimensionale Gestalten, die für 2D-Präsentationen geschaffen wurden, gewöhnt sind. Realistisch wiedergegebene 3D-Computergraphiken von menschlichen Figuren wurden daher lange Zeit nicht angenommen. Erstaunlicherweise macht hier die Virtualität als mentales Wirklichkeitsmodell der technisch generierten virtuellen Realität als Wirklichkeitssimulation einen Strich durch die Rechnung. Dieses Beispiel führt noch einmal deutlich vor Augen, wie sehr unsere Wirklichkeitswahrnehmung von Virtualität bestimmt wird und wie sehr Virtualität, auch die der Transkultur, nach wie vor an "cultural territories of perception" - kulturell definierte Wahrnehmungräume - gebunden ist.

3.3. Virtuelle Interaktionen

Im Zuge der Herausbildung einer Transkultur auf der Basis computergestützer Kommunikation entstanden naturgemäß auch neue soziale Beziehungsnetze. Diese hat man häufig als "virtual communities", virtuelle Gemeinschaften bezeichnet, ein Begriff, der von Howard Rheingold geprägt wurde und aus dem Angelsächsischen ins Deutsche übertragen wurde. "Gemeinschaft" und "Gruppe" sind Begriffe, die aus den Sozialwissenschaften stammen und als Erklärungsmuster für die neuen virtuellen Kontaktbeziehungen herangezogen wurden. Die Frage, die Udo Thiedeke zu Recht stellt und auch zu beantworten sucht, ist die, ob virtuelle Beziehungen denn überhaupt den herkömmlichen soziologischen Definitionsmustern einer sozialen Gruppe entsprechen. Während ein Teil der CMC-gestützten Kommunikationssysteme wie vor allem IRC (= Internet Relay Chat= Schwatzforum mit überwiegend synchroner Kommunikation), MUDs (= Multi User Dungeons) und MOOs (= Object Oriented MUDs) Merkmale einer sozialen Gruppe aufweisen, lassen sich andere Formen vor allem deswegen, weil die Interaktionsdauer zu kurz bzw. die Interaktionsdichte zu reduziert und zu sehr auf informelle Austauschprozesse beschränkt ist, nicht als soziale Gruppe beschreiben. Aus diesem Grunde plädiert Thiedeke dafür, virtuelle Kommunikationsbeziehungen als "virtuelle Interaktionen" zu definieren, wobei sich Interaktion hier vor allem auch auf das Shifting des Kommunikationsteilnehmers zwischen Produzenten- und Rezipientenrolle bezieht.

Was sind nun die Charakteristika virtueller Kommunikationsbeziehungen? Wie wirkt sich die Virtualität der Kommunikation auf die Realität des Menschen, seine Beziehung zu anderen Mitmenschen im Netz und zu sich selbst aus? Das besondere an virtuellen Interaktionsformen ist, dass mit ihrer Hilfe gerade soziale Gruppenzugehörigkeiten und Rollenerwartungen durchbrochen werden können. Die Beziehungen im Netz zeichnen sich in erster Linie durch Anonymität aus. So kann man seine nationale, ethnische, kulturelle, soziale, geschlechtliche und persönliche Identität hinter Tarnnamen, Imagoidentitäten und grafischen Avataren verstecken. Das führt zu einer maßlosen Freiheit und Selbstentgrenzung, mit der aber auch eine grenzenlose Emotionalisierung aufkommt. Nonkonformen Verhaltens- und Gefühlsäußerungen wird so ungehemmt freier Lauf gelassen, dass es sogar zum sogenannten "Flaming", gezielten Beleidigungen durch verbal-textliche Attacken und ganzen Kill-Wars kommen kann, im Verlauf derer sogar Kommunikationsteilnehmer ausgeschlossen werden. Da es im virtuellen Kommunikationsraum nicht nur ein Leben, sondern unendlich viele Leben gibt, kann sich der zum Interaktionstod verurteilte Teilnehmer wieder unter einem neuen Nickname einklicken oder aber selbst einen eigenen Kanal eröffnen. Virtuelle Beziehungen sind daher immer auch von Optionalität geprägt: Es gibt eine unerschöpfliche Vielfalt von kommunikativen Interaktionsmöglichkeiten, aufgrund derer der Ausbruch aus der be- und eingrenzenden Realität so verlockend und befreiend erscheint. Virtuelle soziale Interaktionen, so streng formalisiert sie auch sind, werden aufgrund ihrer telepräsentischen Form primär von Emotionen und Imaginationen gesteuert. In den Emoticons, Links zwischen Gefühlsausdruck und Computersprache, kommt dies deutlich zum Ausdruck. Die Offenheit und Öffentlichkeit des Netzes lädt zu Vertrautheit und Intimität ein. Das Innerste kann sich im virtuellen Raum frei und ungehemmt entfalten.


4.0. Cyperspace: Realien virtueller Realität und Virtualisierung der Realität

Das gilt ganz besonders für den Cyberspace in seiner engeren Bedeutungsdefinition von "Virtueller Realität" als in der virtuellen Realität erzeugter sozialer Lebensraum, wie er in den Simulationswelten der MUDs und MOOs geschaffen wird. MUDs, Multi-User-Dungeons, sind virtuelle Spiel- bzw. soziale Interaktionsumgebungen, die ursprünglich aus einem Fantasy-Rollenspiel der 70er Jahre mit dem Namen "Dungeons and Dragons" hervorgegangen sind; darin erschafft ein Dungeon-Master eine Welt, in der Menschen Figuren erfinden und spannende Abenteuer erleben. Der Begriff Dungeon meint heute einen in einem technischen Gerät vorhandenen virtuellen sozialen Raum. Bei MOOs handelt es sich um sogenannte objektorientierte MUDs. Ihre Welt kann durch eigene Funktions- und Infrastruktursysteme wie E-Mail-Netz, internen IRC, eigenes Fernsehen etc. gesteuert und manipuliert werden. Dies führte zur Entwicklung einer eigenen VRML=Virtual Reality Modelling Language. Das Spannende und auch Absurde ist, dass die virtuellen Realitäten der MUDs und MOOs der sozialen Wirklichkeit im wirklichen Leben nachgebildet sind. Im LambdaMOO beispielsweise gibt es virtuelles Eigentum, virtuelle Güter, virtuelles Geld, virtuelle Haustiere etc. Dass die Virtuelle Realität der MUDs eine übersteigerte Wirklichkeit, eine Hyperrealität ist, kann die Aussage einer Spielfigur belegen, die da lautet: "Dies ist wirklicher als mein wirkliches Leben." Dieselbe Spielfigur übrigens entpuppt sich als Mann, der eine Frau spielt, die sich als Mann ausgibt. Multiple Identitäten sind angesagt im Cyberspace. Sie machen es möglich, das auszuleben, was im wirklichen Leben versagt bleibt - eine andere Daseinsform also. Sherry Turkle hat gezeigt, dass Spieler MUD-Welten nutzen, um unter dem Schutz der Netzanonymität Kontaktfähigkeit, Selbstvertrauen, Freundschaft, Liebe und Intimität auszubilden, den unbewussten Seiten der Person zum Bewusstsein zu verhelfen und die schwachen Seiten der Person im Ich-Ideal zu kompensieren. Da MUDs Raum zum Ausleben von geheimen Wünschen und unterdrückten Konflikten geben, erfüllen sie eine psychotherapeutische Funktion. Virtuelle Realität wird so zum integrativen Bestandteil des täglichen wirklichen Lebens und umgekehrt. Die Beziehung zwischen Mensch und Maschine ist zur einer persönlichen Interaktion geworden, die auch seelische Bedürfnisse stillt. Natürlich bleibt der Computer eine Ersatzwelt und wird menschliche Begegnung und sinnliche Erfahrung nie vollständig ersetzen werden können. Aber nicht zuletzt im Begriff Personal Computer scheint auch auf, dass es sich um eine sehr persönliche Beziehung handelt, dass die Person mit latenten, virtuellen Anteilen ihrer eigenen Persönlichkeit und Identität in Dialog treten und diese im Cyperspace bis zu einem gewissen Grad auch entfalten kann. Die tausend verschiedenen Leben, mit denen wir antreten, und von denen wir nur eines wirklich leben (Clifford Geertz), können in der virtuellen Welt ausgelebt werden. Ein stures Festhalten an der Dichotomie von Virtualität und Realität macht daher auch keinen Sinn mehr, würde ein Ausblenden neu entstehender Lebenswirklichkeit bedeuten. Die Mensch-Maschine-Beziehung ist eine fluktuierende, interaktive. Die Realisierung des Virtuellen in der Virtuellen Realität des Cyberspace wirkt zurück auf die Realität und mündet dort in eine Virtualisierung. So potenziert sich reziprok auch die Virtualität der Realität. Eine höhere Daseinsform, von der Sherry Turkle im Bezug auf die technisch erzeugte Virtuelle Realität sprach, realisiert sich nun auch im wirklichen Leben. Spiritualität und Mythos kehren über die Hintertür der Technik wieder ins Leben zurück. Auffällig ist, welch zentrale Rolle mythischen Figuren und märchenhaften Fantasyumgebungen in den Spielwelten der MUDs und MOOs zukommt. Mit dem Avatar wurde eine hinduistische Gottheit in der virtuellen Realität des Netzes wiedergeboren und zum Schutzbefohlenen der Programmierer erwählt. Rückkehr in ein Diesseits von Gut und Böse ist angesagt. Das Computerspiel Diablo I und II belebt den Schamanismus neu. In Korea wurde es daher zum Renner unter den Computerspielen. Das Spiel wurde vor allem von Studenten so exzessiv gespielt, dass an meiner Universität sogar ein Aufruf per Lautsprecher erfolgte, die Spieldauer doch einzuschränken. Transzendenz scheint sich in virtuellen Realitäten bestens entfalten zu können. Der Cyberspace als neue Metapher Gottes. Wird Aura im Computerzeitalter zurückgewonnen? Nähert der virtuelle Raum, wie Constantin von Barloewen zu bedenken gibt, den Menschen wieder Gott an? Schon Malewitsch hatte sein schwarzes Quadrat auf weißem Grund als Ikone bezeichnet und damit angezeigt, wohin sich das Göttliche verschoben hat. Im computergenerierten virtuellen Raum findet eine Begegnung mit dem Numinosen auf einer höheren Wirklichkeitsebene und in neuer Komplexität statt. Göttliche Kreation sieht digitaler (Er-)Zeugung von Realität ins Interface-Angesicht. In diesem Sinne erfüllt Virtuelle Realität unsere archaischsten und zutiefst menschlichen Wünsche.


5.0. Virtuelle Realität als enzyklopädisches Hyperlink

Unser Projekt, eine "Enzyklopädie vielsprachiger Kulturwissenschaften" zu entwickeln, steht ganz im Zeichen von Virtualität und Virtueller Realität. Wir, die Wissenschaftler unserer Projektgruppe, die aus verschiedenen Kulturen stammen und in verschiedenen Wissensgebieten beheimatet sind, arbeiten vor allem im virtuellen Raum des world wide web zusammen. Wir bilden eine virtuelle Gruppe, die Wissensaufbau und Wissensvernetzung via Internet leistet und beteiligen uns an der Entwicklung einer dritten transnationalen Kultur. Die Virtuelle Realität des Netzes macht mit ihrer Hyperlink- und Rhizomstruktur in neuer Form das möglich, was schon immer Ziel der Enzyklopädie war: die Vernetzung des menschlichen Wissens in seiner Gesamtheit. Virtuelle Realität kann als enzyklopädisches "global brain" fungieren. Die Hyperlink-Struktur des virtuellen Raums bietet der Wissensvernetzung ungeahnte Möglichkeiten. An einer interaktiven Enzyklopädie vielsprachiger Kulturwissenschaften zu arbeiten, erscheint mir in diesem Sinne ein vielversprechendes, zukunftsweisendes und auch unbegrenzt offenes Unternehmen zu sein.


Literaturhinweise:

C.P. Snow: The Two Cultures and the Scientific Revolution, New York 1963.
J. Brockmann: Die Dritte Kultur, München 1997.
http://www.sciencemag.org/cgi/content/full/279/5353/992
http://userpage.fu-berlin.de/~miles/Index.html
http://www.edge.org/3rd_culture/

 

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