Kulturwissenschaften und Europa

Existiert Europa?
Geschichte, Möglichkeiten und Probleme europäischer Identitäten

  
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Die Nicht-Existenz von nationalstaatlichen Merkmalen war immer wieder mit der Frage verbunden, ob ein Staat, eine Union in einem solchen Fall überhaupt existieren. Der Nationalstaat hat sich aber - wie das vom Informationsdienst des Europäischen Parlaments formuliert wurde - als eine Ursache für Unterdrückung und Kriege herausgestellt(1). In jüngster Zeit wurde diese These durch die Kriege im früheren Jugoslawien wiederum bestätigt.

Dennoch wird immer wieder versucht, auf ein künftiges Europa jene Modelle zu übertragen, die in der Vergangenheit für Nationalstaaten in Europa "erfolgversprechend" waren. Ihre Basis ist im Zeitalter der Massenkommunikation die Instrumentalisierung der Kultur (Homogenisierungen der "Ethnizitäten", Sprachen, Künste, Wissenschaften...). Oder - als eine weitere machtpolitisch orientierte Variante - die Beschränkung der Politik auf die Felder Finanzen, Technologien, Militär, wobei sich verantwortlichen politischen Kräfte mehr oder weniger der daraus resultierenden Spannungs- und Polarisierungsfelder bewußt sind.

Sowohl in Europa als auch in anderen Ländern (z.B. Indien, Australien, Kamerun) existieren bzw. existierten andere Formen des Zusammenlebens. Die reichsten Kulturen (wie im alten Griechenland oder in Spanien vor 1492) entstanden durch die Integration einer Vielzahl kultureller Prozesse. Die "militärische Revolution" und ihre "Siege" dagegen brachten vor allem Zerstörung mit sich.

Die Formen der nationalstaatlichen Identitäten sind erst sehr spät und unter bestimmten Konstellationen (aber keineswegs zwangsläufig) entstanden. Es ist daher notwendig, auf einige Aspekte einzugehen, um die verschiedenen perspektivischen Möglichkeiten eines produktiven Zusammenlebens in Europa ausloten (aber nicht ableiten) zu können.

Zunächst muß man sich bewußt machen, daß Fragen der Ethnizitäten erst im Zusammenhang mit der Modernisierung, mit der Herausbildung von Nationalstaaten eine Rolle zu spielen beginnen.(2) Es ist daher kein Zufall, daß sich nach 1848 in Europa Sprachenstreit und nationalkulturelle Bestrebungen verbinden. Gemeinsam ist den nationalstaatlichen Legitimierungen die Berufung auf einen (mythischen) Ursprung, der - um das Ansehen zu steigern - möglichst weit in der Vergangenheit zurückliegen soll. In Deutschland - und als Gegenreaktion mit unterschiedlichen Ausprägungen bald in ganz Europa - werden Kulturen im engen Sinne der Ideengeschichte für nationalkulturelle Zielstellungen instrumentalisiert.(3)

Die Lage in der Habsburgermonarchie war eine besondere. Anders als zum Beispiel in Rußland und Frankreich war die "herrschende Ethnizität" zahlenmäßig schwach und trachtete durch eine Angliederung von Süddeutschland die Kräfteverhältnisse zu ändern. Als diese Option 1866 nach einer militärischen Niederlage gegen Preußen ausschied, kam es zu einem Ausgleich, der als Folge besondere Entwicklungen mit sich brachte: mehrere Universitäts- und Verwaltungssprachen, ein vielsprachiges Kulturleben, das aber immer von Nationalitätenstreitigkeiten überschattet blieb. Es entstand noch keine transnationale Zivilgesellschaft, aber die Habsburgermonarchie wurde auch kein Nationalstaat. Und so wurde zwar eine österreichische Literaturgeschichte entworfen, für die zumindestens 12 Sprachen zu berücksichtigen seien, aber diese Geschichte wurde bisher nicht geschrieben.

Die Identitätsklammer der Habsburgermonarchie - der Feind von außen (zunächst "die" Türken und später "die" Russen) - zerbrach nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg. Die transkulturellen und transdisziplinären Ansätze wurden zugunsten von nationalen Konzepten zurückgedrängt. Benachteiligungen, Unterdrückung, Gewalt waren allenthalben die Folgen. In der Zeit der Hitler-Okkupationen waren sie sogar mit dem Versuch verbunden, insbesonders die tschechische und die polnische Intelligenz auszurotten.

Auch während der Zeit der kommunistischen Diktaturen wurden weder die Nationalismen der Vergangenheit gründlich aufgearbeitet noch die nationalen Konzeptionen aufgegeben. Die Berufung auf die Vergangenheit (wenngleich in einer anderen Interpretation als vor 1945) spielte nach wie vor eine große Rolle.

Modifikationen erfuhr nach 1945 auch das Zusammenleben in Frankreich, Portugal, England durch den Zusammenbruch der Kolonialreiche bzw. in Deutschland durch einen ausgeprägten Föderalismus, wenngleich nach wie vor viele Fragen ungelöst bleiben und politische Prozesse in nicht wenigen europäischen Ländern erst langsam (z.B. in Irland) Auseinandersetzungen mit Gewalt abzulösen beginnen. Erst mit den neuen europäischen Prozessen begannen Entwicklungen in Europa, die in eine neue Zukunft weisen.

Weitgehend herrscht in diesem Zusammenhang Übereinstimmung, daß im Europa des 21. Jahrhunderts nationalstaatliche Konzeptionen an Bedeutung verlieren, Konzeptionen zur Integration bei Berücksichtigung der Diversitäten an Bedeutung gewinnen. Die Analyse-Felder sind in diesem Zusammenhang "Regionalität", "Nationalität", "Multikulturalität", "Interkulturalität", "Transkulturalität". Sie bezeichnen jene Prozesse, die heute mit-, gegen- und nebeneinander nicht nur in Europa existieren. Die wichtigste Erkenntnis in diesem Zusammenhang ist, daß Kultur nicht an "Ethnizität", nicht an Sprache, nicht an einen Nationalstaat gebunden ist. Zwar gibt es durchaus Spezifika regionaler und nationaler Kulturen. Und es gibt auch durchaus weltweite transkulturelle Prozesse. Aber ihnen ist gemeinsam, daß es sich um Mischkulturen handelt.

Dazu einige Beispiele: die deutsche Sprache ist - wie jede andere "Nationalsprache" in Europa - eine Mischsprache. Sie basiert auf lateinischer und griechischer Grammatik und enthält (bereits in den einschlägigen Wörterbüchern des 19. Jahrhunderts) mehr "fremdsprachige" als "germanische" Wörter. Wenn man nicht von den nationalen Mystifizierungen des 19. Jahrhunderts ausgeht, ist dies auch kein Makel. Vielmehr ist dies ein Merkmal für die Fähigkeit, nützliches verschiedener Kulturprozesse in Lebensweise, Produktionsformen, Künste, Wissenschaften, Recht usw. zur Bereicherung kultureller Prozesse zu integrieren.

Ein weiteres Beispiel: Eine wesentliche Grundlage heutiger "westlicher" Kultur ist eine Numerik, die auf die indische Mathematik zurückgeht und über Persien und von dort über die arabischen Länder nach Europa kam. Eine wesentliche Neuerung dieser Numerik war die Einführung der Zahl 0. Nur mit ihrer Hilfe können weltweit heutige Computerprogramme geschrieben werden.

An Grenzen hält sich auch keine Kunstform. Trotz der Identität der Habsburgermonarchie durch das Feindbild Rußland, ist Rokoko sowohl in St.Petersburg als auch in Wien zu finden. Die Commedia dell'arte hat ein annähernd gleiches Figurenrepertoire und dramatische Formen in Persien, Italien, Österreich, Süddeutschland, Frankreich (wenngleich die Aufführungen in unterschiedlichen Sprachen stattfinden). Surrealismus, Realismus sind Kunstströmungen, die weltweit rezipiert und entwickelt wurden.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, für eine integrative Politik (und damit ein neues Europa) die Politikfelder neu zu bestimmen. Das bloße Nebeneinander in Städten und Regionen (Stichwort: Multikulturalität), der bloße bilaterale oder multilaterale "Austausch" (Stichwort: Interkulturalität) entspricht keineswegs den produktiven Möglichkeiten kultureller Prozesse als Mischprozesse. Die genannten Kulturformen schreiben die Trennung bloß fort, wenngleich sie ein Schritt in die Richtung sind, gegenseitiges Verständnis zu fördern und Kultur nicht unbedingt als Mittel der Abgrenzung einzusetzen.

Noch gibt es keine tragfähigen politischen Konzepte in bezug auf kulturelle Prozesse, wohl aber richtungsweisende Diskussionen zum Thema "Cultural Policies for Europe". Das bisherige politische Vakuum führte dazu, daß "Kultur" vor allem von nationalistischen und populistischen Gruppen vereinnahmt wird (mit Ausnahme der modernen Kunst, die nicht zufällig sowohl für Le Pen als auch für die Taliban, für Jörg Haider und Vajpayee ein Feindbild darstellt). Doch die Rahmenbedingungen haben sich im Vergleich zu einem Europa der Nationalstaaten gewandelt und somit die politischen Möglichkeiten der Nationalisten potentiell geschwächt. Die neuen Rahmenbedingungen sind im wesentlichen die Notwendigkeit der Friedensförderung (und damit die Herausarbeitung des Verbindenden der Kulturen), der gemeinsame Wirtschaftsraum, die neuen Arbeitsstrukturen, die Möglichkeiten einer grenzübergreifenden Kommunikation, sozialer Interessensausgleich, die Notwendigkeit neuer Wechselverhältnisse von Gesellschaft und Natur, die Möglichkeit für die Menschen, auf allen Ebenen die Entwicklungen mitzubestimmen usw.

Diese Aufgabenstellungen können nicht im Rahmen einer Region oder eines Nationalstaates gelöst werden, sondern nur im Rahmen von europäischen und internationalen Prozessen, die regionale Interessen durchaus zu berücksichtigen haben. Neue Strukturen könnten sich daher im wesentlichen über Wechselwirkungen, Synergien regionaler und transkultureller Prozesse herausbilden. Und nur diejenigen politischen Kräfte werden sich nach den bisherigen weltweiten Erfahrungen als produktiv und zukunftsfähig erweisen, die die Vielfalt der kulturellen Prozesse berücksichtigen und im Interesse unterschiedlicher Strömungen integrierend handeln.

 


Anmerkungen:

(1) In dieser Informationsbroschüre des Europäischen Parlaments heißt es: "Der Zweite Weltkrieg hatte über Europa unermeßliches Leid gebracht. Nach 1945 war der Wunsch der Menschen groß, jene politische Struktur zu beseitigen, die mitverantwortlich gemacht wurde für die Kriege im 19. und 20. Jahrhundert: die Aufteilung Europas in mehr als zwei Dutzend uneingeschränkt souveräne Nationalstaaten." (Europa 2000, Köln 1996, S.6.)
(2) Vgl. dazu: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Nr.5 zum Thema "Internationalisierungen, Konflikte, Kulturwissenschaften": http://www.inst.at/trans/5Nr/inhalt.htm
(3) "Deutsche Denker des 19. Jahrhunderts unterschieden streng zwischen Zivilisation, wozu Mechanik, Technik und materielle Faktoren zählten, und Kultur, wozu Werte, Ideale und die höheren geistigen, künstlerischen, sittlichen Eigenschaften einer Gesellschaft zählten. ... Die angestrebte Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation hat sich jedenfalls nicht durchgesetzt, und außerhalb Deutschlands ist man sich mit Fernand Braudel weitgehend einig, daß es illusorisch wäre, 'die Kultur nach der Art der Deutschen von ihrer Grundlage, der Zivilisation, trennen zu wollen.'" In: Huntington: Kampf der Kulturen. München, Wien 1997, S.51.


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