Kulturwissenschaften und Europa
Cultural Collaboratory
Fritz Peter Kirsch: Zukunft der Kulturwissenschaften*
 
 
Gegenwärtig häufen sich die Veranstaltungen zum Thema "Krise" und "Renaissance" der Kulturwissenschaften(1). Ein gutes Zeichen: Nach und nach werden die Kulturwissenschafter selbstbewußter, während auch eine breitere Öffentlichkeit allmählich zu ahnen scheint, daß Kulturwissenschaften viel mehr sind als ein Reservat der Schöngeisterei oder ein reaktionärer Aufschrei gegen den naturwissenschaftlich-technischen "Fortschritt". Aber die zahlreichen einschlägigen Kolloquien sind nicht allein im Hinblick auf den Abschied von einem (vielleicht nur eingebildeten) Aschenbrödeldasein wichtig. Sie bieten vor allem die Chance der Standortsdiskussion, also die Vorbedingung für Aufschwung und gedeihliche Entwicklung.

Die Chance, die es nun zu ergreifen gilt, liegt vermutlich – ein scheinbares Paradox – in der Reflexion über die geschichtliche Bedingtheit und somit Relativität aller theoretisch-methodologischen Ansätze, auch jener, deren Aktualitätsbezug den Anschein der Allgemeingültigkeit und Selbstverständlichkeit erweckt. Die aufklärerische Funktion der Kulturwissenschaften und damit ihre Dignität beruhen auf ihrer Fähigkeit, dem Zeitgeist in die Karten zu schauen. Wer jedoch einen kritischen Blick auf die Moderne werfen will, soll nicht glauben, daß ihm dies besser gelingen wird, wenn er sich eine modische Postmoderne als Aussichtswarte wählt.

Im Hinblick auf diesen Entwicklungszusammenhang ist, aus der Sicht der Literaturforschung,  auf eine Versuchung zu verweisen, mit der aktuelle Kulturwissenschaften zu kämpfen haben. Vielfach wird die Notwendigkeit des Sich-Lösens von der traditionellen Aufgliederung in nationalpolitisch motivierte Fächer und des Übergangs zu einem transkulturellen Arbeiten betont. Dem entspricht eine weltanschaulich-kulturhistorische  Entwicklung, die für unsere Epoche charakteristisch ist: Seit der Revolte des Dekonstruktivismus ist allenthalben die Abkehr von der traditionellen Verankerung in "Präsenz" und "Identität", Nationalkulturen und Nationalliteraturen zu beobachten: der Weg führt vom Haften an individuellen bzw. kollektiven Selbst-Bezügen, hin zu Differenz, Polyphonie, Pluralität. Gerade durch das Internet mit der Unabsehbarkeit seines Angebots kann der Eindruck eines gigantischen Medialraumes entstehen, in dem alles möglich und alles machbar ist. Wenn auch die bedrohteste Sprachminderheit durch eine aufwendige Homepage vertreten ist, so daß die reale Dramatik durch den Schein vielfältiger Aktivitäten überdeckt wird, liegt der Gedanke nahe, daß durch die Faszination der neuen Medien ein Schwelgen in undifferenzierten Informationswelten gefördert wird, vor dessen konformistischen Untertönen wissenschaftliches Tun keineswegs gefeit ist. Kulturwissenschaft, die allzu vertrauensvoll auf den neuen Medialzug aufspringt, riskiert damit, einer schlechten Universalisierung Vorschub zu leisten, die nicht das friedliche Nebeneinander der Kulturen einzementiert, sondern das Recht des sozioökonomisch Stärkeren, wodurch die Gegenreaktion neuer bzw. alter Chauvinismen eine neue Chance bekommt.

Damit soll keineswegs für rückschrittliche Maschinenstürmerei plädiert werden. Eine künftige Schwerpunktsetzung der Kulturwissenschaften sollte m. E. aber so erfolgen, daß die  identitär-nationalgeschichtliche Komponente von Kulturen nicht verdrängt, sondern mit großer Konsequenz unter die Lupe genommen wird, und zwar aus dem Geist der Transkulturalität heraus, den die neuen Medien so energisch fördern. Auf diese Weise kann dem Vormarsch einer planetarischen, von Beliebigkeit und Machertum geprägten Einheitskultur  entgegengearbeitet, bzw. nach Modalitäten gedeihlicher Koexistenz der Großen und Kleinen, Starken und Schwachen Ausschau gehalten werden. Kulturwissenschaften sind u. a. zuständig für das Ausleuchten von machtpolitischen Gefällen zwischen den Wert- und Normsystemen miteinander verflochtener menschlicher Gemeinschaften, für Kompensationsphänomene, Urängste und Feindbilder. Statt einen  "musischen Ausgleich" zur "harten Welt" von Technik und Naturwissenschaft zu bieten, finden Kulturwissenschaften ein aussichtsreiches Betätigungsfeld im Bereich von pathologischen Erscheinungen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Sofern sie sich ihrer volksbildnerischen Verpflichtung stellen, können sie unmittelbar der Friedensforschung dienen und durch Verbreitung einer bisher in unseren Gesellschaften nur wenig entwickelten Qualität des kulturellen Wissens (gepaart mit geschichtsorientierter Sensibilität) zu einer Hochform auflaufen, kraft derer ihr Beitrag zum allfälligen Überleben der Spezies nicht weniger bedeutsam ausfallen könnte als der analoge Beitrag des ökologischen Denkens im Rahmen der Naturwissenschaften.
 Die Vergangenheit wird man nicht los, indem man sie verdrängt, sondern indem man sie behutsam und zugleich kompromißlos aufhebt. Im Sinne einer Aufklärung ohne Guillotine, gewissermaßen.

Fritz Peter Kirsch (Wien)

* Ein Beitrag zur Podiumsdiskussion anläßlich der Präsentation der Ausstellung in Wien am 20.11.1998. 

(1) Vgl.: "Krise der Moderne" und Renaissance der Geisteswissenschaften, hg. von Gottfried Magerl u.a., Wien-Köln-Weimar: Böhlau, 1997. 
 
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