Innovationen und Reproduktionen in Kulturen und Gesellschaften (IRICS) Wien, 9. bis 11. Dezember 2005

 
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Archäologie des Reisens und der interkulturellen Kommunikation

Reinhard Krüger (Universität Stuttgart)

 

ABSTRACT:

Es scheint so, als habe aus europäischer und mediterraner Sicht bis in die Spätantike hinein eine Grunddynamik der großräumigen Bewegung nach Osten vorgeherrscht. Die Bestrebungen Alexanders des Großen nach Indien zu gelangen, die Expansion des Römischen Reiches nach Osten, schließlich vor allem die seit der vorchristlichen Zeit nachgewiesenen Handelsbeziehungen nach Ostasien bezeugen diese Orientierung nach Osten. Nicht unbedeutend ist, daß alleine schon das Wort Orientierung die Ausrichtung nach Osten meint, die Weltrichtung, von der die Sonne kommt.

Schon in der Römerzeit setzt eine Gegenbewegung ein, das offensichtlich in Folge von Verbesserung der Lebenslage und nachfolgend einsetzender Überbevölkerung die Räume des Ostens für die dort lebenden Menschen nicht mehr ausreichen. Es kommt zu einer allmählichen Wanderungsbewegung nach Westen, die im Laufe vieler Jahrhunderte zu einer kontinuierlichen Ansiedlung germanischer und slavischer Völker im bisherigen keltischen Siedlungsgebiet führt: die sogenannte Völkerwanderung. Trotz dieser Entwicklung bleibt im Imaginarium vom geographischen Raum dieser Welt der Osten, jetzt der Ort, wo das Paradies liegen soll, als Weltregion, welche Stoffe, Gewürze, Speisen, Hölzer und vieles mehr birgt, attraktiv. Die zahlreichen Chinareisen des 13. Jahrhunderts ebenso wie der transatlantische Aufbruch, der ja nach Indien und China zielt, belegen die weitere Gültigkeit dieser Ausrichtung der europäischen und mediterranen Kulturen nach Osten. Daß die islamischen Kulturen den dauerhaften Kontakt nach Ostasien gefunden haben, entbindet sie von der Notwendigkeit, nach Westen aufzubrechen, um den Osten zu suchen.

Auf dem Wege der Europäer nach Ostasien und Amerika wird das geographische Wissen um die Reisemöglichkeiten in immer neuen Formen präsentiert. Eines der bemerkenswertesten Denkmäler dafür ist John Mandevilles "Livre des merveilles du monde" aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. Hier wird zu didaktischen Zwecken - so weit zu sehen - erstmals, das gesamte verfügbare geographische Wissen entlang dem Strang einer fiktiven Reiseerzählung ausgebreitet und vorgeführt. Der Leser wird hier Station für Station mit den geographischen wie kulturellen Fakten der einzelnen Länder vertraut gemacht, wobei Mandevilles Buch trotz seiner Fiktionalität noch bis in die Frühe Neuzeit hinein als Modell für die schriftliche Verfassung der Wahrnehmungen fremder Kulturen wirksam bleibt. Ebenso weist Mandeville bereits über die alte Ost-West-Orientierung hinaus: er schreibt davon, daß der Mensch sich ubiquitär auf der Erdkugel in jede Richtung bewegen könne: In der Imagination eines didaktischen Textes des 14. Jahrhunderts wird der Mensch hiermit erstmals als Global Player gedacht.


Innovations and Reproductions in Cultures and Societies
(IRICS) Vienna, 9 - 11 december 2005

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