Das Verbindende der Kulturen

SEKTION:

Vom Nutzen kultureller Differenzen (Vilém Flusser)

Marie Elisabeth Müller (Stuttgart)
Schöne, weiße Galerien? Pluralistische Konzepte und ethnische Kriterien in der Kunstwelt in der westlichen Kunstwelt 

Ohne die Berücksichtigung des kulturellen Beitrags der schwarzen Amerikaner ist die nord-amerikanische Geschichte unvollständig und bleibt unverständlich. Lange Zeit aber galten die schwarzen Amerikaner als "Wilde", die auch nach ihrer Befreiung aus der Sklaverei nicht als gleichberechtigte Bürger in den Genuß der kollektiven Bürger- und Menschenrechte kamen. Noch bis zu der sogenannten "Harlem Renaissance" war es für schwarze Amerikaner undenkbar, eine Karriere als Künstler zu machen. Der Erste Weltkrieg und der damit einhergehende industrielle Boom im Norden der USA lösten eine Massenwanderung schwarzer Amerikaner aus dem Süden in die Industriestädte des Nordens aus. Erst seit dieser Zeit wuchs auch das politische Bewußtsein, die öffentliche Repräsentation und das künstlerische Selbstbewußtsein der Angehörigen der schwarzen Minderheit. Doch bis heute haben es afro-amerikanische Künstler schwer, in den großen Museen und Galerien ausgestellt zu werden.
Gleiches gilt für die Angehörigen, Künstler und Künstlerinnen anderer ethnischer Minderheiten sowohl auf dem europäischen als auch auf dem nordamerikanischen Kontinent: Sie alle tragen zu der kulturellen und soziopolitischen Geschichte der Länder und Kontinente bei, in denen sie leben, arbeiten und rezipiert werden.
Ganz unterschiedlich allerdings wird der kulturelle Beitrag der verschiedenen ethnischen Gruppierungen in der europäischen und nord-amerikanischen Kunstwelt und Kunstgeschichte veröffentlicht, anerkannt und dokumentiert. Der Kolonialismus hat die globalen Migrationsbewegungen seit dem 16. Jahrhundert wesentlich in Gang gesetzt. Die internationale kapitalistische Expansion und die Auflösung der Kolonialstaaten im 20. Jahrhundert haben die globalen Migrationsbewegungen zudem beschleunigt. Die dadurch verstärkt multikulturellen und transnationalen Identitätsprozeße und die komplexe Produktion von Identitätsmustern werden aber in den europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften sowohl in den Institutionen ihrer Wissensproduktion als auch in der eurozentrisch orientierten Kunstwelt oftmals ignoriert und/oder gewaltsam umgeschrieben.
Der indianisch-amerikanische Künstler Jimmy Durham erinnerte 1991 daran, daß die westlichen Kolonialmächte üblicherweise sogar die Existenz der Ureinwohner leugneten:
"Golda Meir behauptete, es gäbe keine Palästinenser, und Südafrika hat immer betont, daß es auf seinem Staatsgebiet vor der Ankunft der Siedler keine Eingeborenen gegeben habe. In Australien werden die Aborigines erst seit kurzem bei der Volkszählung berücksichtigt; und die amerikanischen Pioniere haben natürlich eine "Wildnis" vorgefunden und kultiviert."
Den indianisch-amerikanischen Bürgern werden deshalb - da es sie ja offiziell gar nicht gab beziehungsweise gibt - bis heute kollektive Rechte vorenthalten, und sie gehören nach wie vor zu der ärmsten Bevölkerungsschicht in den USA. Im offiziellen Kunstdiskurs repräsentieren die indianisch-amerikanischen Künstler sogenannte "primitive" Kunstformen, die vor allem mit Sandmalerei und ritueller Gegenstandskunst assoziiert werden. Politische Performance- und Installationskünstler und abstrakte Künstler fügen sich nicht problemlos in diese stereotype Betrachtung ein und werden in der Folge in den großen Museen und Galerien gar nicht oder seltener ausgestellt, und ihre Werke werden nicht systematisch gesammelt. Der von weißen, eurozentrisch orientierten Galeristen und Kunsthistorikern dominierte Kunstbetrieb in Europa und Nordamerika formuliert stattdessen pluralistische Konzepte, die problematisch sind, weil sie zu neuen Formen von Aussperrungen führen:
So wird beispielsweise eine gemeinsame amerikanische - oder andere ethnisch definierte - Einheits-Kultur proklamiert. Doch dagegen wehren sich viele Künstler und Künstlerinnen, die darin die Fiktion einer homogenen oder sogar reinen Kulturgeschichte sehen, in der ihre Stimme wieder nicht vorkommt und eingeebnet wird. Wird aber ein "pluralistischer Multikulturalismus" definiert, taucht das Problem auf, daß dadurch die kulturellen Formen oft nicht gleichberechtigt repräsentiert werden; vielmehr ist der "Multikulturalismus" nicht frei von binnenhierarchischen Wertemustern, die - hier vereinfacht gesagt - "Hochkultur" gegen "Ethnokultur" ausspielen. Jimmy Durham sieht diese problematische Struktur in der geopolitischen und kolonialen Geschichte der westlichen Staaten und - im Hinblick auf die Situation der Indianer - vor allem der Geschichte der USA begründet:
"Letzten Endes ist uns allen bekannt, daß die Gründung der Vereinigten Staaten mit dem Überfall auf andere Völker und deren Ausrottung einherging, Völker, die Millionen von Menschen zählten und die von Staats wegen hingemetzelt wurden. Ich will hier gar nicht zur moralischen Seite dieses Phänomens Stellung nehmen, auch keine Anklage erheben, sondern betrachte dies als unsichtbaren (und zwar auf gefährliche Weise unsichtbaren), aber wesentlichen Bestandteil eines machtproduzierenden Apparats, der von der Gesamtheit des Kulturmechanismus nicht zu trennen ist; es ist der zentrale Kern dieses Mechanismus. Stellt man das Szenario in den Kontext der Geschichte, und zwar der Geschichte als Kontinuität von Ereignissen, Ursachen und Wirkungen und nicht der offiziellen Geschichtsschreibung, so kommt man nicht umhin zu begreifen, daß das gewaltsame Eindringen und das gleichzeitige Ableugnen dieser Tatsache das kulturelle und politische Fundament der Vereinigten Staaten darstellen. Mit Fundament meine ich nicht etwas, auf dem das Land aufgebaut ist; ich meine hier wieder den zentralen Kern."

Seit Mitte der 1980er Jahr gibt es vor allem durch die "Postcolonial Studies" eine starke internationale Gegenbewegung zur eurozentrischen Wissensproduktion und Geschichtsschreibung. Seitdem wird die Kolonialzeit nicht mehr als eine Einbahnstraße betrachtet, deren Auswirkungen bloß auf die kolonialisierten Länder und Menschen abfärbten. Viele Einzelstudien dokumentieren vielmehr die konkreten strukturellen, ideologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen, die die Kolonialzeit auch bei den westlichen Staaten hinterließ. Doch der indisch-britische Kurator Rashid Araeen wies 1991 darauf hin, daß der postmoderne Pluralismus auch wieder zu neuen Arten von Ausschlüssen führt:

"Als die anderen langsam auch ihren Teil vom Kuchen der Moderne haben wollten, wurde die Moderne zu Postmoderne: Und nun wirft man ‚westliche' mit ‚anderen' Kulturen in denselben zeitgenössischen Topf. Die Vorstellung vom ‚anderen' als bloßem Opfer vorherrschender Kultur wird nur dazu dienen, anderen Kulturen ihre Fähigkeit abzusprechen, ihre Unterdrückung in Frage zu stellen und sich von ihr zu befreien."

DAS VERBINDENDE DER KULTUREN