Das Verbindende der Kulturen

SEKTION:

Literatur versus Nation bei deutschsprachigen Künstlern des XIX. und XX. Jahrhunderts

Giuseppe Dolei (Università degli Studi di Catania)
Das Individuum und die Geschichte. Zwei Beispiele

Wir haben soviel über den Nationalsozialismus gesehen und gelesen, dass man sich kaum des Eindrucks erwähren kann, dass wir einen Überfluss an den betreffenden Dokumentationen hätten. Und doch, wie es bei jedem Umbruch der menschlichen Geschichte der Fall ist, bleiben das Zustandekommen und der Erfolg des Dritten Reichs ein unerschöpfliches Ereignis. Zwei kürzlich erschienene Autobiographien (M. Reich-Ranicki, Mein Leben; S. Haffner, Geschichte eines Deutschen) sind ein Beweis dafür. In beiden Fällen handelt es sich nicht um eine Opposition gegen einen politischen Gegner, sondern um eine innere Spaltung zwischen Nation und Kultur, um eine Infragestellung der eigenen Identität.

Der Jude Marcel Reich wuchs in Berlin auf und war einer der besten Schüler am Lessing Gymnasium. Als Jude musste der begabte Germanistikstudent nach Polen emigrieren, wo er versteckt lebte und knapp dem Tode entkam. Als im Krieg die Lage verzweifelt war und Hitler unbesiegbar schien, hat der Emigrant Reich-Ranicki keine Sekunde an Hitlers Niederlage gezweifelt. Nicht weil er an Gott oder an die Überlegenheit der Alliierten glaubte, sondern einem fundamentalen Prinzip des preußischen Gymnasiums folgend, wonach am Ende das Böse unterliegen muss. Ein kleines Kulturwunder.

Im Gegensatz zu Reich-Ranicki lag Haffners Schicksal nicht auf der Seite der Verfolgten. Er war weder ein Jude noch ein Kommunist, sondern der Sprössling einer großbürgerlichen Familie, der Sohn eines preußischen Beamten und selber ein Jurist. Warum hat er sich schon 1933 entschlossen, nach Paris auszuwandern? In seiner Familie hatte er die Grundsätze des Rechtsstaates mit der Muttermilch eingesaugt. Zu diesen Grundsätzen gehörte die Unantastbarkeit der Justiz. Nun wird unter den Augen des Praktikanten Haffner der Gerichtshof in Berlin, der Tempel der Gerechtigkeit also, von den SA zunichte gemacht: Die jüdischen Richter werden davongejagt und die arischen nehmen die unerhörte Gewalt stillschweigend hin. Sebastian Haffner muss einen schmerzlichen Abschied nehmen. Er gilt nicht nur der Nazidiktatur, sondern auch einem Teil Deutschlands, seiner eigenen Heimat. Das geheime Deutschland, worauf Haffner stolz ist, ein Land der Humanität, der Offenheit nach allen Seiten, der gründlichen Philosophie ist vom neuem Regime systematisch zerstört worden. Sich von dieser Zerstörung zu distanzieren fällt dem altliberalen Haffner ziemlich leicht. Aber es gibt eine andere deutsche Eigenart, die Nationalismus heißt und nicht erst von den neuen Machthabern erfunden wurde. Es ist eine tiefverwurzelte Krankheit, die ein im gesunden Zustand sehr menschliches Volk in eine hasserfüllte Bestie verwandelt, welche den Kern ihrer Existenz, ihres Selbst verliert. Auch diese Krankheit gehört zur deutschen Identität. Haffner muss eine unerbittliche Bilanz ziehen: "Ein Deutscher, der dem Nationalismus verfällt bleibt kein Deutscher mehr; er bleibt kaum noch ein Mensch."

DAS VERBINDENDE DER KULTUREN