Pressekonferenz - Medieninformation
5. Oktober 2006

Informationen: Wiss.Dir.Dr. Herbert Arlt
Email: arlt@inst.at

Institut zur Erforschung und Förderung österreichischer und internationaler Literaturprozesse

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Neue Wege für Europas Wissenspolitik

INST präsentiert EU-Projekt "Virtualität und neue Wissensstrukturen" als Basis

 

Neue Wege für Europas Wissenspolitik schlägt das Institut zur Erforschung und Förderung regionaler und transnationaler Kulturprozesse (INST/Wien) vor. Basis dafür ist das EU-Projekt "Virtualität und neue Wissensstrukturen". Erstmals wurden die komplexen Ergebnisse der umfangreichen Studien (2004 bis 2006) und die gleichnamige Dokumentation am Donnerstag bei einer Pressekonferenz in Wien präsentiert.

Der Koordinator der EU-Studie - Herbert Arlt - nannte folgende zentrale Erkenntnis: in der bisherigen Wissenspolitik wird noch nicht gefragt, wie Wissensproduktion unter Bedingungen einer Überfluss schaffenden Agrar- und Industrieproduktion erfolgen soll. Vielmehr wird die Wissensproduktion bislang wie die alten, reproduktiven Produktionsformen behandelt und neue Möglichkeiten werden kaum berücksichtigt. Akademikerarbeitslosigkeit, strukturelle Massenarbeitslosigkeit und soziale Ungerechtigkeiten sind die Folgen. Für strategische Bereiche wie Sprachenentwicklungen, Kulturtourismus (auch zur Förderung regionaler Identitäten), öffentliche Verständigungen über Gesellschaftsperspektiven, neue Weltzugänge stehen deshalb bisher keine relevanten Ressourcen zur Verfügung.

Für Europas Wissenspolitik nannten die ExpertInnen - Gertrude Durusoy (Izmir), Peter Horn (Johannesburg) und Zoltán Zsávolya (Győr) - auf Basis der Ergebnisse des EU-Projektes "Virtualität und neue Wissensstrukturen" sowie der Projekt-Dokumentation bei der Pressekonferenz folgende sechs, neuen Denkanstöße als Basis:

1. Denken statt Stundenleistung

Die Produktion von Wissen ist sui generis (sie hat ihre eigene Art). Ihr wesentlichstes Element ist Erneuerung (Innovation). Im Gegensatz zu Agrar-, Industrie- und Verwaltungsgesellschaften steht nicht die Reproduktion im Zentrum. Innovation, die Wissen ermöglicht, kann nicht nach Stunden- und Stückzahlen gemessen werden. Der Wert der Erkenntnis wird durch ihr Potenzial zur Neuerung für Produktion und Gesellschaft bestimmt. Denken, Kreativsein, Handlungs- und Kooperationsfähigkeit entwickeln - dies sind die geforderten Tätigkeiten und nicht Anpassungen an Reproduktionsstrukturen.

2. Von den Humboldtschen Reformen zur Wissensgesellschaft

Parallel zu bisherigen Produktionsstrukturen hat sich in der Moderne eine Vielzahl an Institutionen herausgebildet bzw. neu strukturiert, die Wissen produzieren und/oder vermitteln. Ihr Charakter ist sehr unterschiedlich. Er reicht von den Universitäten, deren Anpassung an die Bedingungen der Moderne oft mit dem Namen Humboldt verbunden ist, über die Öffentlichkeit (Bibliotheken, Medien, Museen) bis hin zu Forschung und Künsten. Diese Strukturen sind heute in Europa noch wesentlich von alten Mächten geprägt. Die jetzige Kommerzialisierung ist ein Teil des Erscheinens alter Strukturen im neuen Gewand. Gefordert ist aber ein Wandel der Arbeitsweisen sowie der Institutionen unter Berücksichtigung der Bedingungen der Wissensgesellschaften.

3. Die neuen Bedingungen

Die Geschwindigkeit und Qualität der Innovationen wird durch die Qualität der Öffentlichkeit bestimmt. Das Internet bietet in diesem Zusammenhang nach wie vor völlig neue Möglichkeiten, die allgemein noch zu wenig genutzt werden. Grundlegend verbleiben Prinzipien wie Offenheit, Pluralität, sachlich-demokratische Umgangsformen, Kooperation statt Konkurrenz. Die Künste müssten in diesem gesellschaftlichen Wandel eine zentrale Bedeutung bekommen. Die kulturfeindliche Machtpolitik der letzten Jahre verstärkte die Gewalt, brachte Rechtsunsicherheit sowie soziale Ängste und Vernichtungen von Leistungen und Leben mit sich.

4. Die Bedeutung der Weltzugänge

Eine Wissensproduktion ist ohne das allgemeine, in der Gesellschaft verankerte Verständnis von Zeichen, Bildern, Sprachen, der Fähigkeit zu ihrer Interpretation, von Denken, der Umsetzung von Denkergebnissen als erlerntem Handlungspotenzial nicht möglich. Die bloße Förderung von Produktion unter dem Stichwort "Forschung & Entwicklung" greift bei weitem zu kurz. Es bedarf neuer Verständigungsformen über gesellschaftliche Ziele, aber auch neuer gesellschaftlicher Partizipationen, um Wissen zu entwickeln und anzubieten, sonst führt auch die beste Ausbildung zu Arbeitslosigkeit.

5. Die anderen Strukturen

Mit Basel II, Vereinsgesetzgebungen, Umstellungen im Versicherungsbereich (leichtere Möglichkeit der Kündigung von Betriebsunfallsversicherungen im Krankheitsfall), größeren Sozialkosten für "neue" Beschäftigungsformen (aber ohne größere soziale Sicherheit), Übertragung alter Strukturen in neue Produktionsbereiche fand eine Demobilisierung der Gemeinnützigkeit statt. Hier bedarf es neuer Ansätze, um auf der Basis des Verständnisses von sich neu entwickelnden Gesellschaftsstrukturen Möglichkeit der (gemeinnützigen) Selbstorganisation zu schaffen. Diese können im Bereich des Alltagswissens, der Alphabetisierung, der Humanisierung der Produktionen, der anderen Nutzung touristischen Potenzials, der Begegnung, der Senkung der Geldverschwendung im "Sicherheitsbereich" wesentliches beitragen. Dieser Ansatz birgt damit auch enorme ökonomische Möglichkeiten - zum Beispiel andere Formen der Defizitbekämpfung von Staatsausgaben durch weniger Ausgaben (z.B. weniger Arbeitslosigkeit, weniger Ausgaben für "Sicherheit") und mehr Einnahmen (mehr Arbeit, neue ökonomische Ansätze).

6. Die Bedeutung anderen Wissens

Die Forschung in Europa berücksichtigt kaum andere Denkergebnisse bzw. andere Formen der Wissenschaftskommunikation in Asien, Afrika, aber auch Amerika. Sie konzentriert sich vielmehr derzeit auf die Herausbildung einer neuen Europäischen Forschungsstruktur in Form eines Konzerns, die zum Teil sensationell neue Möglichkeiten bietet und sich in den letzten Jahren dynamisch entwickelt hat. Sie bedarf aber der Berücksichtigung der Kulturforschung als dem strategisch wichtigstem Forschungsbereich auch für die Ökonomie in Europa. Anstatt mit militärischen Mitteln erfolglos die Folgen der Differenzen zu bekämpfen, ist es notwendig, die kulturellen Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Europa ist in diesem Sinne ein Kontinent im Aufbruch, der seine spezifischen Stärken noch nicht herausgearbeitet hat. Es kommt nun darauf an, nicht nur neue Gewänder überzustreifen, sondern neue, sozial gerechte Lebensverhältnisse zu schaffen. Und die sind ohne Kulturforschung und Kulturpolitik nicht denkbar.

ProjektvertreterInnen

Wiss.Dir.Dr. Herbert Arlt ( Wien, Projektleiter)

Univ.Prof.Dr. Zoltán Zsávolya ( Győr, U ngarischer Projektpartner, Edierung/Übersetzung in Ungarisch, IRICS-Arbeitsgruppenleiter)

Univ.Prof.Dr. Gertrude Durusoy ( Izmir, Edierung/Übersetzung in Französisch, IRICS-Arbeitsgruppenleiterin)

Univ.Prof.Dr. Peter Horn ( Johannesburg, Edierung/Übersetzung in Englisch, IRICS-Arbeitsgruppenleiter)

versandt: 2006-10-05


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 Location (URL): http://www.inst.at/presse/20061005.htm
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