Internationale Kulturwissenschaften
International Cultural Studies
Etudes culturelles internationales

Sektion II: Transformation alter wissenschaftlicher Institutionen

Section II:
Transformation of Old Scientific Institutions

Section II:
Transformation dans les anciennes institutions scientifiques


Richard Jochum (Wien)
Innovation in Wissenschaft und Kultur

 

Ich freue mich, daß Sie da sind, und daß ich die Gelegenheit habe, zu Ihnen zu sprechen. Der Titel meines Vortrags lautet "Innovation in Wissenschaft und Kultur". Das Thema ist großmundig, zumal in der zur Verfügung stehenden Zeit. Da ich meine Ausführungen deshalb bis an die Grenze des Seriösen vereinfachen muß, beschränke ich mich auf drei Simplifikationen.

 

1. Zum Stichwort Innovation

Das, was wir als Innovation zu bezeichnen uns angewöhnt haben, das permanente Erfinden und unablässige öffentliche Bewerben von Erfundenem ist etwas, zu dem wir durchaus ein ambivalentes Verhältnis einnehmen.

Höher besser schneller sind Maximierungsstrategien, mit denen wir uns alle mehr oder weniger identifizieren. Ein noch immer leiseres Auto mit immer noch weniger Verbrauch ist ebenso wünschenswert wie ein leistungsstärkeres Modem oder neueste Update-Versionen von Softwareprogrammen.

Allerdings sind wir uns auch der Kehrseite bewußt: Innovationen - oder das, was gemeinhin als solches verstanden wird - sind schnelllebig. Was jetzt noch als besonders hype (oder heißt es hip?) vorstellig gemacht und verkauft wird, ist - insbesondere im Bereich der Computertechnologie oder Telekommunikation - in ein paar Monaten bereits ein alter Hut.

Von Innovation ist sehr häufig im Zusammenhang mit Marketingstrategien die Rede. Das betrifft nicht nur die Produktvermarktung durch Wirtschaftsunternehmen, aber auch die Wissenschaftspolitik. Vermutlich haben wir alle hier bereits Erfahrungen darin gemacht, daß es gut kommt, wenn wir unsere Forschungsanträge mit derlei Begriffen schmücken. Eine bestimmte Abnützung des Begriffs geht damit einher.

Hinzu kommt, daß Innovationen selbst nicht einfach nur rücksichtslos positiv wirken, sondern - janusköpfig - Folgeerscheinungen nach sich ziehen, die z.B. durch Joseph Schumpeter beschrieben worden sind. - Für ihn, einen der ersten Innovationsforscher überhaupt, ist Innovation Schöpfung durch Zerstörung. - Oder auch durch Boris Groys, wenn er sagt, daß jede Innovation für eine Kultur die Abwertung der bestehenden Werte bedeutet; das sei ein notwendiger Aspekt jedes innovativen Gestus'. Par example ist das Ready made von Duchamp, das heute ziemlich unbestritten zu einem "klassischen" Kunstwerk geworden ist, zu Beginn als das Ende der wertvollen Kunst und Einbruch der profanen, wertlosen Nicht-Kunst empfunden worden.

Ein angemessenes Sprechen über Innovationen macht sich der Gültigkeit beider Seiten bewußt: Innovation als das Lösen bestehender Probleme verstanden, impliziert das Erzeugen und Hervorbringen neuer Probleme.

Man kann die Geschichte der Wissenschaften als eine Geschichte des kontinuierlichen bzw. dis-kontinuierlichen Fortschritts durch Vermehrung und Akkumulation von Wissen - und das ist häufig genug geschehen - beschreiben.

Aber man kann sie auch als eine Geschichte des Verlusts an Wissenschaft lesen, wie dies z.B. im Gesetz der abnehmenden Ertragsraten (durch die französische Epistemologie und Wissenschaftshistorie) zum Ausdruck kommt.

Am Beginn einer Entdeckung - 1. Phase - herrscht Euphorie: die Einsätze sind gering, die Erträge groß. Mittel werden herbeigeschafft, eine Phalanx an Forschern und Wissenschaftern formiert sich, der Einsatz wird größer, aber das neue Forschungsgebiet gibt noch immer viel her (Phase 2), die Erträge sind beträchtlich. In dieser zweiten Phase werden nicht mehr nur Papers, aber Abhandlungen und Bücher geschrieben (Zwischenbemerkung: So etwa verhält es sich nun auch mit den Cultural Studies, zumal im deutsch-sprachigen Raum.). Die Phase 3 schließlich kennzeichnet sich durch extremen Mitteleinsatz, hohe Verwaltungskosten und bedenklich niedrige Erträge. Es handelt sich um die große Zeit der Institutionen. Am Anfang Goldgräberstimmung, am Ende Bürokratie, auf diese Weise schreibt sich eine bestimmte - mehr pessimistische - Seite der Innovation.

 

2. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kultur

Ich unterscheide - aus Gründen, die Sie gleich sehen werden - zwischen klassifikatorischen und produzierenden oder anwendungsorientierten Ansätzen. Ansätze der Klassifikation sind abgrenzungs- und ausschlußorientiert (hie diese Zelle der Enzyklopädie, da jene, hier die Geographie, dort die Paläontologie, fein säuberlich getrennt). Produzierende Ansätze gehen von anderen Voraussetzungen aus, sie interessieren sich für Phänomene des Austauschs, der Zirkulation und Transformation.

Weil ich den Austausch für fruchtbarer halte, als die Klassifikation, erscheint mir auch die distinkte Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Kultur von geringem heuristischen Wert. Hinzu kommt, daß diese Unterscheidung eine problematische ist und letzten Endes auf Spekulationen beruht.

Die Wissenschaft ist nur ein Teilbereich einer Kultur, aus der sie hervorgegangen ist. Und vice versa wird unsere Kultur in zunehmender Weise von Wissenschaft durchflutet. (Beispiele für die Verwissenschaftlichung unserer Lebenswelt werden meist durch quantitative Vergleiche dingsfest gemacht: durch den Verweise auf die wechselnde Anzahl von wissenschaftlich geschulten Experten, die Höhe der Forschungs- und Entwicklungsetats, die schier unglaubliche Menge an Publikationen, Informationsbestände usw.)

Wissenschaft und Kultur stehen in einem wechselseitig verschlungenen Verhältnis. Sie bilden einen gordischen Knoten. Um ihn zu zerschlagen oder zu lösen, bedürften wir einer Außenperspektive, die wir nicht haben.

Die bestehenden kulturellen Organisationen bzw. Institutionen reproduzieren teils die schwer zu haltende Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Kultur, währenddessen neuere Ansätze wie die deshalb und von ihrem Gegenstand her schwer zu vermittelnde Cultural Science - und bestimmt liegt darin deren originäre Leistung - an deren Auflösung oder besser Re-defintion arbeitet.

Daß wir die erwähnte Außenperspektive nicht haben, ist im Sinne der Innovation gar nicht so störend, im Gegenteil. Das perfekte Warenhaus besteht - im Sinne der Konsumption - in einer Ordnung, von der niemand weiß, wie sie ausschaut. Wenn wir nicht genau wissen, wo wir den Zucker finden, werden wir allerhand weitere Brauchbar- und Nützlichkeiten entdecken.

Daß wir den Über-Blick nicht haben und jedes System eine black-box ist, ist von heuristischem Wert. Es gibt kein anderes Kochrezept für Erfindungen als das Labyrinth. Weil es so ist, hat der Ausdruck Komplexität - im übrigen ebenfalls ein Keyword von Forschungsanträgen - zurecht Konjunktur.

 

3. dis-positiv

Da ich nicht nur wissenschaftlich-publizistisch, sondern auch im Segment der bildenden Kunst beheimatet bin (besser hieße es: arbeite), habe ich vor einem Jahr etwa damit begonnen, ein Projekt zu organisieren, das - als eine Ausstellungsreihe konzipiert - sich mit der Frage beschäftigt: Wo geht es hin mit der modernen Kunst? Im Rahmen dieses Projekts habe ich in verschiedenen Städten bekannte Kunsthistoriker-, theoretiker, Ausstellungsmacher und -kuratoren gebeten, sich hinter Glas in einem leeren Präsentationsraum ausstellen zu lassen.

Die Idee dahinter: Wenn die Kunsttheorie und Kunstgeschichte Bild für Bild für obsolet erklärt, Skulptur für Skulptur, das Werk als solches für überholt, dann steht am Schluß nur noch der Theoretiker, die Theoretikerin, der Historiker, die Historikerin, der Kurator, die Kuratorin selbst hinter Glas im Ausstellungsraum. So leer es darin dann auch immer sein mag.

Das Projekt hat eine ironische Pointe ohne Zweifel. Darüberhinaus thematisiert es auf ernsthafte Weise das Verhältnis zwischen Produzenten der Kunst - den KünstlerInnen - und ihren TheoretikerInnen.

Das Verhältnis ist -- leider - problematisch. Man kann es - und das habe ich aus meiner wissenschaftstheoretischen Arbeit gelernt - mit dem vorurteilsreichen Verhältnis zwischen den exakten und den humanen Wissenschaften vergleichen.

Deren Feindseligkeiten werden im Bereich der Kunst redupliziert. Beispiele für die Polemik zwischen den TheoretikerInnen der Kunst und ihren ProduzentInnen sind, das ist die Erfahrung, die ich mit dem Projekt "dis-positiv" mache, gibt es zahlreiche. Künstlerkollegen, die stolz darauf sind, daß sie von den Katalogbeiträgen, die sie sich von namhaften KunsttheoretikerInnen anschreiben lassen, selbst explizit nichts verstehen.

Umgekehrt erübrigte sich viel Papier und paternalistische Herablassung, wenn Kunsttheoretiker mehr von der echten Arbeit der Kunst verstünden.

Meine Erfahrung lehrt mich, daß die Bereiche Produktion und Reflexion von Kunst in einem anwendungsorientieren Ansatz nicht zu trennen ist. Da sich Kunst nicht mehr auf das Bemalen von Höhlen mit einfachen Zeichnungen reduziert, sondern - aufgrund seiner langen Geschichte und Spezialisierung - bereits ausdifferenziert ist, haben sich auch die Produzenten von Kunst (grundlegend) reflexive Strategien angeeignet, ist Kunst und Diskurs ebenfalls in das Verhältnis eines gordischen Knotens und dessen Verschlingung übergegangen.

Die Fächer der Enzyklopädie - hier umfassend verstanden - berühren einander, sie arbeiten miteinander zusammen, sie begründen sich inter- und intrareferenziell, sie produzieren aufgrund ihrer wechselseitigen Zusammenarbeit. Innovation gründet auf Konzepten des Transports. Sie ist eine Tochter der Schnittmenge.

 

Schluß

Vielleicht stimmt es, daß der Zeitgeist, wie Gerhard Mader gemutmaßt hat, engagierter Intellektualität und Kunst entgegengesetzt ist.

Das mag so sein. Gleichzeitig gilt, daß aus der Perspektive des Produzenten es dazu sowieso keine Alternative gibt.

Es geht nicht um Erklärungen, sondern aufs Anwenden und Produzieren kommt es an. Die alten wissenschaftlichen Institutionen transformieren sich auf diese Weise von selbst.

 

Literatur:

Metzlers Lexikon philosophischer Grundbegriffe, 1996: Stichwort Innovation.
Rainer Specht, 1992: Innovation und Folgelast. Beispiele aus der neueren Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Suttgart-Bad Cannstatt.
Boris Groys, 1992: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München Wien.
Richard Jochum, 1998: Komplexitätsbewältigungsstrategien in der neueren Philosophie. Michel Serres. Frankfurt/M.



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