Internationale Kulturwissenschaften
International Cultural Studies
Etudes culturelles internationales

Sektion III: Neue wissenschaftliche Institutionen

Section III:
New Scientific Institutions

Section III:
Nouvelles institutions scientifiques


Penka Angelova (Rousse) [BIO]

Englisch

Französisch
Transdisziplinarität, Unterricht und Forschung
Die Erfahrung der "Europäistik" in Rousse

 

                          Ex tempore, ex necessitate
                          Sofort, bei Notwendigkeit

 

Die Fachrichtung Europäistik an der Universität Rousse ist eine Fachrichtung, die ein multikulturelles und transdisziplinäres Ausbildungsmodell anstrebt. Sie wurde nach dem Beispiel außereuropäischer Institutionen wie den European Studies in England und Amerika errichtet, um Fachleute für Kontakte mit Mittel- und Westeuropa mit Kenntnissen in je zwei Fremdsprachen auszubilden. Gleichzeitig wurde sie in einer Zeit aufgebaut, als die Prozesse in ganz Europa umstrukturiert wurden, sodaß die Ausbildung und die Forschung einem sich ständig entwickelnden und verändernden Europa Rechnung tragen mußten und immer noch tragen müssen.

Hiermit stelle ich meine erste These auf, daß für das neue Kultur- und Wirtschaftsmanagement in Europa eine neue Ausbildung von Akademikern gefragt ist, die den europäischen Umstrukturierungsprozessen Rechnung trägt. Im Zuge der Veränderungen in der Europäischen Union sind Akademiker gefragt, die sich in den neuesten Prozessen eines Europas der Regionen auskennen.

Die Europäistik an der Universität in Rousse wurde im Jahre 1993 gegründet, als das Abkommen für die Assoziierung von Bulgarien mit der Europäischen Union unterzeichnet wurde. Es war das Gebot der Stunde. Angeregt wurde die Gründung dieser neuen Fachrichtung von ein paar jungen Dozentinnen von der Roussener Universität, die an Universitäten in England hospitiert und Teilstudien absolviert hatten und die von den European Studies in England angeregt wurden, eine ähnliche Fachrichtung auch in Bulgarien einzuführen und die mit ihrem Enthusiasmus und positiven Visionen auch die Hochschullehrerschaft gewannen. Die größte Leistung für die Strukturierung der Lehrpläne und der Curricula für die Fachrichtung in Bulgarien haben die Dozentinnen Mimi Kornazeva und Juliana Popova, die dem Gebot der Stunde gefolgt waren und in Zusammenarbeit mit den englischen Partnern ein auf die neuen Verhältnisse in Bulgarien orientiertes und strukturiertes Curriculum ausgearbeitet haben. Gemeint war damals einerseits die Außenposition Bulgariens in Bezug auf die mittel- und westeuropäischen Prozesse, eines Erdteils, der nach dem Usus schlechthin als Europa bezeichnet wurde, andererseits aber auch das Einsetzen neuer Prozesse der Erweiterung, die auch zu innereuropäischen Umstrukturierungen führen sollten und neue interkulturelle und interdisziplinäre Kenntnisse von den künftigen Akademikern forderten. Die interkulturelle Erfahrung, orientiert nicht auf bestimmte Philologien, sondern in einem breiteren Rahmen schien gefragt zu werden, und so reagierte auch die Universitätsleitung sehr offen und zukunftsbewußt auf diese Idee, zumal zu der Zeit die Universitäten ihre Autonomie auch für Eröffnung neuer Fachrichtungen hatten. Durch Tempus-Projekte wurde dabei hauptsächlich die Erfahrung englischer Universitäten verwertet, die auf eine 25-jährige Tradition der European Studies zurückblicken können. Curricula und Lehrpläne wurden an die bulgarischen Besonderheiten angepaßt und im Laufe der sechs Jahre vervollständigt.

 

Die Herangehensweise

Grundsätzliche Zielsetzung bei diesem Unternehmen war auch der Aufbau einer Fachrichtung, der integrativen transdisziplinären Unterricht ermöglicht und die Studierenden über die Grenzen jener engen Spezialisierung hinausführt, die für das bulgarische Fachschulsystem besonders charakteristisch war und immer noch ist. Die Europäistik bietet einen transdisziplinären Unterricht an, der nicht nur Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt, sondern auch ein Wertemodell, welches unter den Bedingungen der posttotalitären Wertekrise einen Gegenentwurf anbietet.

Bedingt kann man von zwei Planebenen dieser Herangehensweise reden: einem äußeren Plan und einem inneren Plan. Im äußeren Plan wird die Idee und die Erfahrung Europäische Integration anvisiert, verstanden als ein Prozeß der Gegenwart, der auf Multidisziplinarität und Multikulturalität ausgerichtet ist: Kultur und Geschichte, Wirtschaft und Politik, sowie als ein Dialog, der die Grundlage für die zivilisatorische Wahl der Entwicklungsstrategien bildet. Im inneren Plan ist es das Kommunikationsmanagement als Theorie und Praxis, sowie als Funktion der gegenwärtigen Verwaltung unter den sich wandelnden Bedingungen des Marktes. Auf der Grundlage des demokratischen pluralistischen Denkens gebaut, stellt er eine Vision für die Bewältigung der kommando-administrativen Denkweise dar und bietet positive Imagestrategien an. Diese zwei Planebenen sind nur bedingt voneinander zu trennen, da auch die Integrations- und Kommunikationsprozesse innerhalb von Europa in einem raschen Wandel begriffen sind und immer neue Subsidiaritätserscheinungen aufweisen.

 

Die Struktur

Die fünfjährige Ausbildung ist folgendermaßen aufgebaut. Die Studierenden werden mit einer Prüfung in einer der drei zu unterrichtenden Sprachen aufgenommen: Englisch, Französisch und Deutsch. Obwohl Deutsch noch nicht zu den offiziellen Sprachen der EU gehört, in etwa einem Drittel der EU-Staaten jedoch Deutsch als offizielle (Mutter-)Sprache gesprochen wird und diese Fremdsprache langjährige Unterrichtstraditionen in Bulgarien aufweist, wurde die deutsche Sprache als eine der Komponenten des Europäistikunterrichts aufgenommen. Während des Studiums erlernen die Studierenden eine zweite von den übrigen zwei zur Auswahl stehenden Sprachen. Die fünfjährige Ausbildung verbindet folgende vier Unterrichtskomplexe:

Europäische Integration, zu der folgende allgemeinausbildende Fächer gehören:

Etwa 70 bis 80% dieses Unterrichts wird in Fremdsprachen geführt, zum beträchtlichen Teil auch mit Gastlektoren aus dem Ausland.

Kommunikationsmanagement:

 

Die Lehre

Die Lehre wird seit der Formierung des 1994 gegründeten Instituts für Europäistik an der Roussener Universität neben den am Institut tätigen Lehrkräfte auch von auswärtigen Professoren und Fachkräften aus anderen bulgarischen Universitäten (Sofioter Universität, Wirtschaftsuniversität, aus der Universität Veliko Tirnovo), aus der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften, aus dem bulgarischen Außenministerium, sowie von auswärtigen Professoren und Dozenten aus England, Amerika, Frankreich und Deutschland über Universitätsprojekte oder über die Organisation "Civic education project" organisiert. In allen diesen Fällen sind hochqualifizierte Lehrkräfte involviert, die mit NachwuchswissenschaftlerInnen arbeiten, Doktordissertationen betreuen und Betreuung von Magisterarbeiten übernehmen. Inzwischen sind zwei Doktorarbeiten und eine Habilitationsschrift am Institut vorgelegt worden.

Ihr Praktikum führen die Studierenden aus der Europäistik je nach der Ausrichtung ihrer Magisterarbeit an verschiedenen kulturellen Institutionen, Firmen, seit 1999 auch am bulgarischen Außenministerium.

 

Die Durchsetzung

Als einzigartige Fachrichtung in Bulgarien hat die Europäistik einen sehr bemerkenswerten äußeren Werdegang gehabt. Während sie in den Jahren durch die sich immer mehr ansammelnde Erfahrung reifte und ihr Ansehen in der Öffentlichkeit wuchs, sodaß etwa für einen Platz 10 bis 15 Bewerber stehen, wurde die Europäistik zusammen mit etwa dreihundert anderen Fachrichtungen aus dem Register der vom Ministerium genehmigten und unterstützten Studienfachrichtungen gestrichen. Grundsätzlich war die Situation mit den durch die universitäre Autonomie explodierten vielen neuen, manchmal auch bis zur Unsinnigkeit gesplitterten Fachrichtungen nicht auszuhalten und das Ministerium mußte dem Splitterungsprozeß einen Halt gebieten. Was aber beschlossen wurde, war genauso unerhört: es wurden nur die althergebrachten traditionellen Fachrichtungen (etwa 169) belassen und von der ganzen Erneuerung blieb nur das Ersetzen der marxistisch-leninistischen Disziplinen mit allgemeiner Philosophie und Politologie, wo die alten Lehrer des ML sich sehr schnell auf Politologen und Marktwirtschaftswissenschaftler umschulten. Inter/bzw. Multidisziplinarität wäre in einem solchen vom gekürzten Register auf einzelne Sparten und reinlich voneinander getrennten Disziplinen reduzierten System nicht zu erreichen. Das traditionelle Denken der gerade vom Aussterben ihrer Fachrichtungen oder vor den Erneuerungen bangenden Professorenschaft hatte für eine gewisse Zeit gesiegt, das prästabilisierte Denken schien sich im Jahre 1997 noch einmal und schon wieder einmal befestigt zu haben.

Und wieder begann ein Kampf, die Chancen der Europäistik zu retten und zu bestätigen. Eigentlich waren alle überzeugt, von der Presse bis zu den Ministern, daß die Europäistik ihren Platz im Register haben soll und daß sie ihn nur im Zuge der rigorosen Streichung alles Neuen verloren hat, sie wurde auch gleich im Entwurf für das neue Register aufgenommen, aber von der Besprechung dieses Registers bis zu dessen Annahme vom Ministerrat sind drei Jahre verstrichen und dieses neue Register wartet immer noch auf die Annahme vom Ministerrat.

Inzwischen haben sich jedoch die Wirklichkeiten so verändert, daß jetzt die Fachrichtung Europäistik an mehreren Universitäten geplant wird, daß europäistische Fächer an verschiedenen Studienrichtungen als Aufbaustudium oder als Teil des Studiums, etwa an die Stelle der früheren ideologischen Fächer geplant werden, daß man bei einer nationalen Bildungskonferenz des Bildungsministeriums neben der Schul- und Hochschulausbildung auch eine Sektion über Europäistik geplant hatte, als wenn sie nicht zum sonstigen Studium gehöre.

Eine Schlußfolgerungen drängt sich mir im Angesichte dieser Betrachtungen auf, die ich als weitere These formulieren möchte:

Zweite These: Die neuen wissenschaftlichen Institutionen, die den Anforderungen der jüngsten Veränderungen entgegenkommen, sind eine Herausforderung für Wissenschaft und WissenschafterInnen vor allem aber für die Universitäten und das Ministerium, an denen alte Denkmodelle immer noch vorherrschend sind. Insofern stellt der Akademikermarkt eine Herausforderung an das Hochschulstudium, der ausschließlich mit einer marktorientierten Planung und mit integrativen Unterrichtsstrategien, die auch eine integrative Forschung anstreben und hervorrufen, entgegenzukommen ist.

Hier spielt der persönliche Faktor auch eine Rolle, da ich als Germanistin und Forscherin des deutschsprachigen Kulturareals seit 1994 dem Institut beigetreten bin und seit 1997 die Leitung des Instituts übernommen habe. Viel wichtiger ist aber die weitsichtige Überzeugung, daß die bulgarischen Kontakte mit den deutschsprachigen Ländern eine bewährte Tradition haben und die deutsche Sprache als Kultur- und Zivilisationssprache ihre Bedeutung in der EU hat und haben wird.



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© INST 1999

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