Internationale Kulturwissenschaften
International Cultural Studies
Etudes culturelles internationales

Sektion VII: "Interkultureller" Austausch, transkulturelle Prozesse und Kulturwissenschaften

Section VII:
"Intercultural" Exchange, Transcultural Processes and Cultural Studies

Section VII:
Echange interculturel, processus transculturel et études culturelles


Ulf Birbaumer (Wien)

Englisch 
Theater - Intrakulturalität - Intersoziabilität

Der Innsbrucker Romanist Hans Joachim Müller spricht von einem polyglotten Dialog als einer lingua franca in seiner Disziplin (zum Unterschied zur Germanistik, die sich immer mehr zu einer "Deutschistik" entwickle), von einer überaus positiven "Kreolisierung" somit, die den interkulturellen Austausch fördere. Ich sehe darin ein durchaus ausbaufähiges Modell für die Kulturwissenschaften im Zeitalter der "Globalisierung". Das Gesagte bezieht sich natürlich auf Literatur- und Sprachprozesse bzw. ihre Erforschung durch die Literatur- und Sprachwissenschaft. Die Literatur im allgemeinen, sehen wir einmal von der Lautdichtung und der "konkreten Poesie" und ihrem transkulturellen Charakter ab, bedarf der Übersetzung, die ja - folgen wir dem altbekannten Diktum traduttore traditore - nur eine versuchsweise sinngemäße Übertragung bis Nachdichtung in eine andere Sprache sein kann, scheint mir in allen ihren Genres im transkulturellen Prozeß gegenüber der Malerei und der Musik, aber auch im Bereich des Theaters im Nachteil zu sein. Theater ist internationaler, inter(intra)kultureller, intersoziabler. Das hängt auch mit seiner Multimedialität zusammen, mit seiner im Vergleich zur Literatur ganz und gar unterschiedlichen Rezeption.

Der Rezeptionsvorgang von Literatur, auch des Dramas als literarischer Text, ist ein linearer, er erfolgt diachron. Der literarische Text wird durch textuale Zeichen konstituiert. Theater, vor allem wenn man es weniger traditionell als spectacle (bzw. in seiner Kontemporaneität als spectacle vivant), als "Spektakelkunst" definiert, wird mit Hilfe von szenischen Zeichen einem Publikum kommuniziert, der Vorgang erfolgt synchron. Die szenischen Zeichen sind visuell oder akustisch; textuale Zeichen können in beide Zeichensysteme umgesetzt werden; als Dialoge und Monologe akustisch durch die Schauspieler, auf Banderolen, Projektionen aber auch durch die körperliche Interpretation der Schauspieler ebenso visuell. Zu den auditiven und visuellen Zeichen auf der Bühne gesellen sich noch haptische und olfaktorische. Sie erscheinen in der Aufführung synthetisiert und der Zuschauer befindet sich in einer simultanen Rezeptionssituation (1). Das heißt, er muß eine Auswahl treffen, durch die er unterstreicht oder vernachlässigt. Er kann auch textuale Zeichen, die für ihn nicht decodierbar sind, durch szenische ersetzen und sie so durch die In-szenierung (mise en scène) (2) zumindest teilweise erschließen.

Aus Ubersfelds Überlegungen resultieren wichtige Erkenntnisse, was den Status von Theater vis à vis der Literatur bezüglich Interkulturalität und Transkulturalität angeht. Erstens ist Theater ein Kommunikationsprozeß, weil es mehrere Sender, mehrere Botschaften und ein multiples Publikum (wenn auch an e i n e m Ort) gibt. Zweitens ist T (der literarische Dramentext) nie gleich P (présentation scénique = Aufführung), da diese Produkte durch ganz verschiedenen Zeichen konstituiert sind. Es lohnt, arbeitsmethodisch in den Vorgang ein T’ einzufügen, was die tatsächliche Spielvorlage meint, also den szenisch konnotierten literarischen Text. Was von der Bühne durch spezielle multimediale Wirkungskonzepte den Zuschauern kommuniziert wird, erfährt, wie gesagt, eine ganz andere Rezeption. Die Art und Weise der Rezeption der szenischen Zeichen erleichtert transkulturelle und intersoziable Prozesse. An dieser Stelle ist anzumerken, daß Intrakulturaliät natürlich nicht nur Austausch, Reziprozität, gegenseitige Kreativierung zwischen verschiedenen Kulturen meint (also etwa zwischen europäischem und japanischem Theater), sondern auch Intersoziabilität, das heißt kulturelle Interaktivität zwischen den Kulturen der verschiedenen sozialen Schichten und gesellschaftlichen Gruppierungen (also zwischen Arbeiterkultur und Bürgertum, zwischen Mainstream-Jugendkultur und div. Randkulturen u.v.a.m.).

Ein weiterer, nicht minder wichtiger Hinweis betrifft das Genre von Theater/ Spektakelkunst - ein Punkt, der ja mit der eingangs problematisierten Begriffsbestimmung korreliert. Nonverbales Theater, Körpertheater ("sprechende Körper"), drittes Theater im Sinne von Barba, anthropologisches Theater beispielsweise sind im Vorteil gegenüber dem sog. Text- oder Literaturtheater. Auch wenn sich dieser interkulturelle Vorteil von Theater /Spektakelkunst theoretisch sehr schlüssig darstellen und auch an zahlreichen Beispielen nicht nur aus der jüngsten Zeit unschwer belegen läßt, ist dennoch Vorsicht am Platz. Auch im Theater scheitert Inter- und Transkulturalität nicht selten an Mißverständnissen, behindert der monokulturistische Monolog nicht selten den dynamischen Polylog. Das gilt ganz besonders für intersoziable Versuche, wo es sehr von der demokratischen Sensibilität abhängt, ob man in die Falle der Zwangsbeglückung tappt oder ob es durch dezentrale Kulturarbeit/Theaterarbeit tatsächlich gelingt, kulturpolitische Defizite wettzumachen.

Auch darf nicht außer Acht gelassen werden, worauf Victor Turner schon 1985 (indem er den Diskurs der Jahre rund um 1968 wiederaufgreift) hingewiesen hat, daß Theater nämlich affirmativ wie subversiv wirksam werden könne. (3) Für die in diesem Papier begonnene Debatte wäre es wohl zielführend, die zugegebenermaßen häufigere und theaterhistorisch auch wesentlich besser erforschte affirmative Variante von Theater einmal auszuklammern. Doch selbst in Alternative zur etablierten Theaterinstitution produzierte Formen der Spektakelkunst der letzten Jahrzehnte sowie das kontemporane spectacle vivant können durch Reibungsverluste im theatralen Kommunikationsprozeß ihr angestrebtes Ziel der interkulturellen und/oder intersozialen Vermittlung der Botschaft verfehlen oder nur teilweise erreichen, auch wenn der Versuch des Polylogs durch die Intrakulturalität wesentlich fördernde Techniken des polymime/polymage (4) ergänzt oder ersetzt werden.

Negative Erfahrungen provozierte beispielsweise Peter Brook auf seiner afrikanischen Theatersafari. Dabei sei Brook allerdings zugutezuhalten, daß er wissend in die Falle ging, daß er die Falsifizierung so mancher These der Intrakulturalität nachgerade suchte, um seiner multikulturellen Truppe beweisen zu können, daß auch ihre Theaterarbeit nicht vor eurozentristischen Programmierungen frei sei. Nehmen wir die legendäre "Shoe-Show", die auf manchen Dorfplätzen in Schwarzafrika, wo Brooks Leute den Spielteppich aufschlugen, Aggressionen provozierte: es flogen sogar die Steine. Offenbar basierte die darin erzählte Geschichte von der Zauberkraft zweier alter Schuhe so sehr auf europäischen Erzähltraditionen, daß ihre Darstellung in einigen Fällen zu fundamentalen Mißverständnissen führte. Schließlich suchte die Truppe den kleinsten gemeinsamen Nenner, der - als es nicht einmal mit ausdruckstänzerischen Mitteln unter Verwendung von Bambusstäben funktionierte - letztlich im gemeinsamen, nonverbalen Lied gefunden wurde. Polylog wurde gar nicht erst versucht: in der vorgefundenen "jungfräulichen Situation" man sang auf einem wertneutralen Ton "a". Peter Brook anläßlich eines Besuchs im Theaterinstitut der Pariser Universität X in Nanterre:

"Abbiamo dunque capito che l’inizio più semplice era quello di cantare insieme una sola canzone. All’inizio un solo suono. Cominciavamo a cantare "A a a" insieme, a fare delle variazioni, poi per dieci minuti sviluppavamo questo "a", lo abassavamo a poco a poco, vi aggiungiavamo una variazione. In questo modo tutti capivano, era chiaro, e lentamente anche gli altri vi participavano... E per noi era necessario attraversare il mondo per trovare condizioni vergini come questa." (5)

Brook hatte gleich verstanden, daß es sinnlos gewesen wäre, mit ihnen von Theater oder Schauspieler zu sprechen, weil diese unübersetzbare Wörter waren. So hatte er sie durch Tänzer oder Sänger ersetzt. Damit konnte man sich zwar verständlich machen, doch blieben die Gesänge und die Tänze, die da auf dem Teppich als Zentrum eines Kreises dargeboten wurden, unverständlich: vor allem die Gesänge. Denn was für die multikulturelle Truppe Brooks die einfachste Sache von der Welt war, nämlich einen Western-Song, ein französisches Chanson, ein japanisches und ein jiddisches Lied einfach aneinanderzureihen, blieb für die zentralafrikanischen Dorfbewohner ein unzugänglicher Turm von Babel. Wonach wohl auch der kulturelle Tauschhandel, wie ihn Eugenio Barba etwa im "Buch der Tänze" vorschlägt, zu hinterfragen wäre. Seine interkulturellen Dorfinvasionen mit den Schauspielern des Odin Teatret in Sardinien oder in Lateinamerika erwiesen sich zumindest zu Beginn der Manifestation als problematisch. Erst die längerfristige Arbeit, die an anthropologische Feldforschung erinnerte, führte zu Austausch und interkulturellem Verständnis. (6) Und diese Längerfristigkeit der dezentralen Kulturarbeit scheint überhaupt zu einem der wichtigsten Kriterien intersozialen wie interkulturellen "Tauschhandels" zu werden.

Dennoch. Die Positiva überwiegen, auch hier bestimmen die Ausnahmen die Regel. Das Theater der "offenen Form"(vgl. Klotz, 1960 / 1.Auflage) hat alle Chancen - und damit auch die Wissenschaft vom Theater als eine Wissenschaft der kulturellen Kommunikation - , im inter/intra/transkulturellen wie im transsozialen Bereich dem globalen kapitalistischen Diktat menschliche, demokratische Werte entgegenzusetzen: Integration statt Ausgrenzung und Rassismus, Verständigung statt Isolierung, Offenheit statt Dogmatismus, Vielfalt statt Gleichmacherei, Frieden statt Krieg, Emanzipation statt Repression, Demokratie statt Diktatur - die Gegensatzpaare bleiben vielfältig erweiterbar.

Theater hat sicher nicht Macht, aber Theater hat Kommunikationsstrukturen, die den Diskurs fördern (als Kommunikationsteilsystem der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation (7)) und Bewußtheit erzeugen können: im Idealfall über Kopf UND Bauch. (8) Das läßt sich theaterhistorisch belegen, das zeigen Beispiele kontemporaner Spektakelkunst: Die arte giullaresca und die Commedia dell’arte, das französische Théâtre de la Foire und das deutschsprachige politische Theater der Zwischenkriegszeit dieses Jahrhunderts ebenso wie das Theater Brooks oder der Mnouchkine, die seinerzeitige italienische Animazione oder die engagierte emanzipatorische Theaterarbeit Armand Gattis oder Eugenio Barbas. Das zeigt Dario Fos "teatro fuori dai teatri" ebenso (wie fast alle dezentrale Kulturarbeit, wie das "théâtre périphérique" oder das Wiener Gemeindehoftheater) wie das Theater der Unterdrückten von Augusto Boal in seiner ganzen Anwendungspalette. Das zeigen das Teatro Ravenna mit dem "Mor Arlecchino", das Akko-Theater aus Israel ("Arbeit macht frei", "Koholet"), das Teatro La Fortezza (Genets "Die Neger" im Gefängnis), Turrinis "Minderleister" als Tourneetheater in der Pariser Banlieue etc. etc. Die Auswahl ist subjektiv und willkürlich und dient lediglich der Illustration.

Theater- und Spektakel gehören zu den Kommunikationsmedien, die Strategien anzubieten haben im Künstlerischen gegen die Hegemonie des Ökonomistischen. Arlecchino wagt den Sprung in die Menge(8), um auf sie einzureden: bildhaft und gestisch, mit einer Zunge wie ein Schwert, polylog und polymime, "gegen die da oben". Seine Strategie: die konstruktive Subversivität.

 

ANMERKUNGEN

1 Vgl. Anne Ubersfeld: Lire le théâtre. Paris 1982
2 Vgl. Patrice Pavis: L’analyse des spectacles. Paris 1996
3 Victor Turner: Theaterspielen im Alltagsleben und Alltagsleben im Theater. In: Der sprechende Körper. Zürich/Berlin 1996, S. 99 ff.
4 Neologe Vorschläge des Verfassers als vorläufige Hilfskonstruktion
5 Peter Brook o il Teatro necessario (a cura di Franco Quadri), La Biennale di Venezia 1976, S. 64
6 Vgl. Eugenio Barba: L’archipel du théâtre, "Contrastes" Bouffonneries, Paris 1982
7 Vgl. Rudolf Münz: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen. Berlin 1998
8 Vgl. Dario Fo: Mistero buffo. Die Geburt des Spielmanns. Berlin 1984, S. 113 ff.

 



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