Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 13. Nr. August 2002

Sprachwahl und Poesie in einer multiethnischen Region. 

Der Fall des Banater Dichters Franz Liebhardt

András F. Balogh (Budapest)


Das Banat (heute in Rumänien), die engere Heimat des Dichters Franz Liebhardt war zur Zeit des Anfangs der literarischen Laufbahn des Dichters eine grundsätzlich mehrsprachige Region. Gesprochen wurde Rumänisch, Ungarisch, Deutsch, Serbisch, Jiddisch. Durch die relativ oft geschlossenen Mischehen wuchsen Generationen auf, die mit mehreren Sprachen vertraut waren. Die politischen Machtwechsel bedeuteten in dieser Provinz den raschen Wechsel mehrerer Staatssprachen in kurzer Zeit. Sie sicherten mal der einen, mal der anderen Sprache einen dominierenden Status auch im Alltagsleben. Deutsch, Ungarisch und Rumänisch lösten einander ab. Unabhängig vom Status der Staatssprache prägten die lokalen Gegebenheiten die Sprachentwicklung mit.

Diese Art Mehrsprachigkeit führte dazu, daß den Sprachen wegen des regen interlingualen Kontaktes keine bedeutende Rolle mehr bei der Identitätsbildung der Menschen zukam, denn der Sprachwechsel erfolgte tagtäglich mehrmals sogar in der Familie, aber auch in der Arbeit, bei den Freunden und Verwandten. Daher ist zu vermuten, daß sich der ständige Sprachwechsel auf die Poesie der Region auswirkte: Es wurden keine sprachnationalen Ziele verfolgt, wie oft im 19. und 20. Jahrhundert bei den umliegenden Kulturnationen, sondern regionale und ästhetische Ziele wurden anvisiert. Bei vielen Dichtern führte die besondere gesellschaftliche Situation zu einem literarischen Sprachwechsel bzw. zu einer Zweisprachigkeit wie bei Ioan Slavici oder bei dem ungarischen Dichter und deutschen Nachdichter Zoltán Franyó. Die Zweisprachigkeit wurde fast zum Normalzustand des Banater Schriftstellers.

Liebhardt pendelte zwischen zwei Minderheitensprachen der Region - zwischen dem Deutschen und dem Ungarischen. Gleichzeitig vermittelte er zwischen diesen beiden. Seine Poesie ist von Toleranz, von tiefer Menschlichkeit und historischem Bewußtsein durchdrungenen. Er schwärmte gleichzeitig für den Parnaß und für das Banat, das er in den schönsten Farben beschrieb. Er war bestrebt, den Mythos der vollkommenen Verständigung der Völker und der Kulturen aufzubauen. Von der menschlichen Größe des Dichters angeregt, versucht die Arbeit die poetische Mehrsprachigkeit Liebhardts zu analysieren und die Auswirkung des Sprachwechsels auf die dichterische Leistung festzumachen.

Franz Liebhardt - von seinen Freunden oft "Urtemeswarer" genannt - dichtete in zwei nebeneinander lebenden Sprachen seiner engeren Heimat: in Ungarisch und in Deutsch. Seine - am Expressionismus geschulte - poetische Sprache, seine reichen Naturbilder erregten in beiden Literaturen Aufsehen, wodurch er in beiden Kulturen bekannt wurde. Die Literaturwissenschaft hat aber kein einheitliches Bild von seinem Werdegang und von seiner Zweisprachigkeit, weil der Austausch über den Fall Liebhardt recht spärlich war. Außerdem erschwerte Liebhardt selber die Arbeit der Literaturwissenschaftler, indem er kaum etwas über seine Person und über seine dichterische Entwicklung bekannt gab.

Franz Liebhardt - sein eigentlicher Name ist Robert Reiter - wurde 1899 in Temeswar in einer einfachen Handwerkerfamilie geboren. Die Schulen besuchte er in seiner Geburtsstadt. Er maturierte im heutigen Nikolaus-Lenau-Gymnasium. Beeinflußt durch die ungarische Unterrichtssprache, machte er seine ersten schriftstellerischen Versuche ebenfalls in Ungarisch und benutzte dabei die magyarisierte Form seiner Namen, Reiter Róbert. Seine literarische Laufbahn begann mit einem Skandal, weil die von ihm mitredigierte Schülerzeitung Holnap [Der Morgen] wegen eines Friedensappells vom Direktor suspendiert wurde. Das war im Jahr 1916. Der junge Reiter debütierte dann 1917 in Lajos Kassáks avantgardistischer Zeitschrift Ma [Heute] mit dem Gedicht Erdő [Wald]. Im gleichen Jahr begann er sein Philologiestudium in Budapest. Er begnügte sich aber nicht mit dem Elfenbeinturm der Ästhetik - mutatis mutandi mit dem "Betonturm"(1) der aktivistischen Dichter, denn Reiter gehörte zu dieser literarischen Tendenz -, sondern wurde politisch auf der Seite der Sozialdemokraten aktiv. Er hielt Reden, schrieb linksorientierte Artikel, nahm sogar in Temeswar am Generalstreik teil, wobei er dann auch festgenommen wurde: Daher kommt sein in Temeswar benutzter Beiname der "Rote Reiter". Nach der Zerschlagung der ungarischen Räterepublik ging auch Liebhardt nach Wien. Er folgte wahrscheinlich mehr aus Solidarität denn aus Notwendigkeit der vor dem Weißen Terror flüchtenden politischen und künstlerischen Elite der ungarischen Kommunisten. In der Kaiserstadt setzte er dann sein Studium fort und nahm an der Seite von Kassák am literarischen Leben der ungarischen Emigration sehr aktiv teil: Er dichtete weiterhin in Ungarisch. Im Jahr 1925 - nach dem absolvierten Studium - kehrte er heim, wo er eine völlig neue Situation vorfand: Das Banat wurde an Rumänien annektiert, womit die Staatssprache auch in Temeswar eine andere wurde. Liebhardt wurde gleichzeitig in zwei Redaktionen, bei der Banater Deutschen Zeitung und Munkáslap [Arbeiterzeitung] eingestellt. Nach seiner Vermählung wurde er Vater zweier Kinder. Seine Kontakte zur ungarischen Literatur brachen langsam ab. Er begann vorwiegend Deutsch zu schrieb. Er übte in den dreißiger Jahren eine reiche publizistische Tätigkeit aus. Nur noch gelegentlich schrieb er Gedichte. Allerdings fanden seine Essays über die Literatur und Kunst des Banats Anerkennung.(2) Während des zweiten Weltkriegs war er weiterhin als Redakteur tätig. Danach konnte er dem Schicksal der Rumäniendeutschen nicht entgehen und wurde für 3 Jahre Aufbauarbeit in die Sowjetunion deportiert. Sein dichterisches Schaffen erfährt nach der Heimkehr eine unglaubliche Wende: In etwa 25 Jahren entstanden 10 Lyrik- und Essaybände. Seine schöpferische Kraft und poetische Energie faszinierte die Literaten seiner engeren Heimat. Freunde übersetzten ihn ins Rumänische und ins Ungarische. Diese große Zahl seiner Publikationen bedeutete aber nicht, daß alle seine Texte die gleich hohe Qualität erreichten: Vor allem die sozialistische Aufbaulyrik, die er in den 50er Jahren schrieb, scheint sehr plakativ und einfach zu sein. Liebhardt ist aber kein dogmatischer "Berufsdichter" des Sozialismus geworden. Er nahm in der kleinen rumänendeutschen Literatur eher eine Vermittlerposition zwischen den "überzeugten" Marxisten und der "Opposition" ein.(3) Von beiden Seiten angenommen, machte er nicht nur offizielle Karriere (war bis zur Pensionierung im Jahre 1968 Dramaturg am Deutschen Staatstheater in Temeswar und erhielt zahlreiche Auszeichnungen vom rumänischen Staat), sondern er wurde auch von den Literaten anerkannt und geehrt: In seinen alten Jahren wurde er zum Doyen der Banatdeutschen Dichtung. Er vermittelte einer jüngeren deutschen Dichtergeneration das "gemischte" Kulturgut des Banats. Liebhardt starb 1989 in den turbulenten Zeiten der rumänischen Wende. Im Wirbel der damaligen Ereignisse hat man vergessen, sein Lebenswerk zu würdigen, obwohl er dies nicht verdient hätte.(4)

Robert Reiter hat einen seltsamen Lebensweg gehabt. Er etablierte sich in zwei unterschiedlichen Literaturen, was in dieser geographischer Region trotz allen ähnlichen Beispielen eigentlich selten vorkam und immer den Schleier mystisch-unerklärbarer Ereignisse trug. Auf den ersten Anblick hat man den Eindruck, Liebhardt hat einen Wechsel aus einer Kultur in die andere durchgemacht, denn seine Etablierung erfolgte in den beiden Literaturen nicht parallel. Zwischen 1917 und 1925-26 kann man seine ungarische Periode festmachen, und erst danach näherte er sich der rumänendeutschen Literatur an. Dieser Eindruck täuscht, weil er das dichterische Schaffen von Liebhardt auf zwei "Reiters" vereinfacht: in der Tat vollzog sich dieser Wechsel nur langsam. Außerdem ist es fragwürdig, ob man bei Liebhardt überhaupt von einem Sprachwechsel reden kann, denn Liebhardt dichtete in seiner ungarischen Periode ab und zu auch Deutsch, und sprach in seiner deutschen Periode in der Familie oft Ungarisch. Unter diesem Aspekt unterliegt seine poetische Karriere, seine Zweisprachigkeit und sein Sprachwechsel, sein nationales und territoriales Zugehörigkeitsbewußtsein und seine ars poetica eigentlich einer Akzentverschiebung. Es gilt also aufzudecken, wie eine solche Laufbahn in unserem Jahrhundert möglich war, welche geistigen Komponente dabei eine Rolle spielten und welche poetischen Werte mit diesem Kultur- und Sprachwechsel verbunden sind.

Die Mehrsprachigkeit dieser Provinz rührt daher, daß das Banat nach den Türkenkriegen vom 16. bis ins 18. Jahrhundert vorwiegend, aber nicht ausschließlich von deutschen Bauern besiedelt wurde. Ungarische, slowakische, jüdisch, polnische, serbische Siedler kamen noch dazu, und selbstverständlich war auch die rumänische Sprache immer präsent. Die Siedlungsaktion bedeutete für die Menschen eine Loslösung von ihrer angestammten Tradition und eine sehr starke Konfrontation mit anderen Kulturen, Sprachen, Mentalitäten, was letzten Endes eine Offenheit gegenüber fremden Erscheinungen, gegenüber fremden, unbekannten Sprachen hervorrief.

Die Urbanisierung am Ende des 19. Jahrhunderts gab diesem Prozeß den nächsten Schub: Die Landbewohner der mehrsprachigen Region zogen in die sich rasch entwickelnden Städte, wo sie dann einen zweiten Identitätswandel durchmachen mußten. Nicht nur Temeswar gehörte zu diesen Städten, wo die Menschen Arbeit suchten und eine neue Existenz gründeten, sondern auch Arad, Orawitz, Reschitza waren Zielpunkte der Zuwanderung. Jedoch hielt Temeswar die führende Rolle inne. In dieser Großstadt - die eigentlich gute soziale Aufstiegschancen bot! - vermengten sich Menschen mit verschiedenen Muttersprachen und sie gerieten oft in eine merkwürdige Sprachsituation, die dadurch gekennzeichnet war - zum Unverständnis der Sprachnationalisten -, daß der Sprache eine zweite Rolle in der Identitätsbildung zukam. Die Erscheinung ist auch deshalb bemerkenswert, da diese Ereignisse gleichzeitig und teilweise zum Trotz gegen die Herausbildung der Nationalstaaten im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgten. Diese Menschen verstanden ihre Kultur und ihr Leben nicht in eine Sprache fest eingebettet, wie dies ab dem 19. Jahrhundert in den immer stärker werdenden Nationalstaaten der Fall war, sondern sie orientierten sich unbefangen an der gegebenen Situation, um ihre Zukunft aufzubauen.

Für die Konsolidierung der einen oder der anderen Sprache war die gesellschaftliche Dynamik zu groß. Die politischen Machtwechsel folgten zu rasch aufeinander, sodaß sich keine Sprache im gesellschaftlichen Leben festigen konnte, womit - sprachsoziologisch gesehen - eine labile Sprachsituation entstand. Liebhardt durfte auch in einer solchen Sprachsituation sozialisiert worden sein. Sein familiäres Umfeld war deutsch, obwohl die Mutter slowakischen Ursprungs gewesen sein soll, jedoch sprach sie keine slawische Sprache mit den Kindern, denn die Familie verwendete Ungarisch und Deutsch. Ungarisch wahrscheinlich deshalb, weil die damalige Staatssprache allen Familienangehörigen nicht deutschen Ursprungs zugänglich war; Deutsch wegen der Mehrheit deutschsprachiger Familienmitglieder. Reiter selbst sprach also Deutsch und Ungarisch. Außerdem sprach er auf einem Alltagsniveau die Verkehrssprache seiner Geburtsstadt - das Rumänische -, wozu noch einige Brocken des Serbischen und des Russischen kamen: mit letzterer Sprache war er während seiner Deportation in die Sowjetunion konfrontiert.

Eine solche Mehrsprachigkeit, wie die des Reiters fiel im Banat nicht auf; jedoch nur selten ist diese alltägliche Mehrsprachigkeit zu einer literarischen geworden. Allerdings waren solche Fälle im Banat öfters anzutreffen, als in monosprachigen Regionen, wo die natürlichen Voraussetzungen nicht vorhanden sind. Liebhardt selber forschte nach und entdeckte zahlreiche Fälle der literarischen Zweisprachigkeit aus seiner Region, ließ aber seine eigene im Schleier verhüllt, äußerte kaum etwas dazu.(5) Als junger ungarischer Dichter verwendete er das Deutsche im Studium und in Nachdichtungen, später dann, als etablierter deutschsprachiger Dichter bediente er sich in seinen alten Jahren in der Familie des Ungarischen: Die zwei Sprachen begleiteten ihn durch sein ganzes Leben, jedoch bekamen sie in den verschiedenen Etappen seiner Laufbahn unterschiedliche Akzente. Geprägt von der ungarischen Schule und dem letztendlich dem Sprachnationalismus verfolgenden ungarischen Staat, wählte er die ungarische Sprache. Diese Wahl - wenn sie überhaupt eine Wahl und nicht ein Automatismus gewesen war - durfte nicht schwer getroffen worden sein, weil zahlreiche Beispiele die Möglichkeit einer solchen Entscheidung bekräftigten: viele Künstler, Schriftsteller und Politiker des 19. Jahrhunderts wählten die ungarische Sprache, um an der vermeintlich hoffnungsvollen Zukunft des aufsteigenden jungen Staates persönlich teilzuhaben. Diese Sprache bot quasi eine Art Aufstieg, eine Brücke zur Welt. Heute mag dies sehr merkwürdig klingen, aber am Ende des 19. Jahrhunderts, als Ungarn durch die Doppelmonarchie Teil eines Imperiums war, ist dies eine Tatsache gewesen. Außerdem schlossen sich diese zwei Sprachen einander nicht aus. Entscheidend durfte beim Fall Liebhardt die Tatsache gewesen sein, daß der Begriff der Modernität, der Erneuerung der Dichtung und der Gesellschaft, die Progressivität überhaupt ihm im Gewand des Ungarischen und nicht des Deutschen erschien.(6) Diese Verkoppelung war sicherlich ein Zufall, denn die deutsche Sprache der ersten beiden Jahrzehnte dieses Jahrhunderts hat nicht wenige Anläufe in Richtung der Modernität und Erneuerung genommen als das Ungarische. Der junge Liebhardt (damals eigentlich noch Robert Reiter) konnte aus Temeswar oder aus Budapest hinaus keine Kontakte zur deutschen Literatur aufbauen. Er fand aber rasch Zugang zum literarischen Kreis von Lajos Kassák, der zu dieser Zeit eine Avantgarde-Dichtung kommunistischer Prägung und europäischer Bedeutung zu lancieren versuchte. Reiter war beeindruckt von dieser Tendenz, und debütierte erfolgreich mit dem Gedicht Erdő [Wald] in der Kassákschen Zeitschrift Ma [Heute] am 15. November 1917:

Kúszós folyondár, kéregen talán seb is,
de fű: zöldbe öltözött remény,
esett levél fák kenyerévé rothad
és nincsen ki a tegnap sovány koncán elrágódnék

Mindigjók: a fák,
mindigjóság: az erdő
s az erdõ nem látta még
a jóság lisztes arcú bohócát
és a fák sem látták még
a jók szennyessé papolt gúnyáját.

Kendőbe bugyoláltság, pirosra festett sebek,
vízszintesre görnyedés jöttmentje
nem kanalaz össze lapátkezeivel
alázkodást, szőnyeges csúszkát, rozsdát és kopott térdeket marékszámra.

De az erdő arany hidakat nevel a fák közé;

és ejh-hajh!
és még ezerszer: ejh-hajh!
mert a hamis csörgősipkás, a fák fölé kötélen táncoló
és a kardnyelõ sem tudja túlnõni az erdõt.
(7)

Sowohl seine eigenen Gedichte, wie dieses, das in Stil und Form den anderen aus dieser Periode sehr nahe steht, und deshalb für verallgemeinernde Urteile Stoff bietet, als auch seine ungarischen Nachdichtungen aus dieser Periode enthalten solche Naturbilder, die die menschlichen Gefühle ins Kosmische transponieren, und dabei Universalsymbole gestalten. Diese Symbole - wie hier der Wald - sind viel mehr als ein Naturbild. Sie beinhalten eine Weltanschauung, Gefühle sowie menschliche Ängste vor dem Universum. Diese Naturbilder haben aber nichts mit der Naturerfahrung eines bäuerlichen Lebens gemeinsam. Sie sind geprägt von einer urbanen Lebensführung. Die Schilderung ist mehr oder weniger die des Großstadtmenschen. Natur ist keine selbständige Totalität, ist auch kein Erlebnis. Die Natur ist nur Träger von Gefühlen und Sichtweisen. Dieser Stil und diese Auffassung war für die ungarische Literatur der 20er Jahre ein Novum. Die Reitersche Poesie bedeutete einen Bruch mit der damaligen poetischen Sprache. Dieser Stilbruch ist aber auch bei den anderen Autoren aus dem Umkreis von Kassák zu beobachten: Dies mag unter zwei Aspekten gedeutet werden: Einerseits haben sie nichts Gemeinsames mit der ungarischen Literatur- und Kulturtradition. Die Texte sind auch nicht tief in die Sprache verankert. Man könnte sogar behaupten, daß in diesen Gedichten die Sprache austauschbar ist. Sie büßen bei einer Übersetzung ins Deutsche kaum etwas ein. Dieser Traditionsbruch war so groß, daß diese Autoren bzw. diese Texte in die ungarische Literatur nicht eingingen, durch die Kritik der ungarischen Moderne quasi aus der ungarischen Literatur ausgestoßen, eigentlich nicht einmal aufgenommen wurden. Andererseits kann jeder Traditionsbruch eine Erneuerung herbeiführen. Es kommt darauf an, ob die Literatur, die literarische Öffentlichkeit dies annimmt oder nicht: Am Anfang der 90er Jahre wurden Bestrebungen (Tagungen, Neuausgaben der Werke) unternommen, die Avantgarde ins Rampenlicht zu rücken. Zu einer Kanonisierung ist es aber noch nicht gekommen. So bleibt auch Reiter mit seinen Zeitgenossen weiterhin am Rande der ungarischen Literatur - man kann ihm auf Grund dieser Tatsachen nur einen "halben" Platz in der ungarischen Literatur gönnen. Aus diesem Grund würdigen die ungarischen biographischen Lexika nur in sehr kurzen Artikeln den ungarischen und avantgardistischen Teil seines Schaffens. Sein deutschsprachiges Schaffen findet aber überhaupt keine Würdigung.(8)

Die Anerkennung ist aber nur ein Aspekt des literarischen Lebens. Bei einer Suche nach den Motiven und Beschaffenheit der Zweisprachigkeit drängt sich die Frage nach der sprachlichen Konstitution der Werke auf. So ist bei diesen Gedichten - oder aber bei den Übersetzungen aus der Zeitschrift Ma - festzustellen, daß sie von einem guten (aber nicht außergewöhnlichen) Sprachgefühl zeugen: Sie beinhalten sprachliche Feinheiten und zeugen von einem schöpferischen Umgang mit der Sprache. Hapax legomena, suggestive Ausdrücke und Wortverknüpfungen machen das Spektrum aus, womit Reiter seine Leser beeindrucken wollte. "Nincsen ki a tegnap sovány koncán elrágódnék" (und keiner ist da, der am mageren Bissen des Gestern nagte) ist das wunderschön formulierte Bild in dem ersten Gedicht des Autors, wo er seine Kritik an vergangenen Zeiten, Künstlern und Kunsttheoretikern ins Bildliche transponierte. Es sind aber auch Schwachstellen in dem Gedicht aufzuzeigen, wie etwa die Zeile "nem kanalaz össze lapátkezeivel" (löffelt hier nicht mit seinen Schaufelhänden), wo die Mehrzahl "lapátkezeivel" (mit seinen Löffelhänden) im guten Ungarischen vermieden werden sollte, weil der Gebrauch der Mehrzahl bei Gliedern zu vermieden ist. Die Großen der ungarischen Dichtung wie etwa Arany oder Ady hätten dies sicherlich nicht im Plural formuliert. Auf grammatikalische Fehler oder auf problematische Fälle in der Wortwahl stößt man aber nicht bei Liebhardt. Seine ungarische Sprachkompetenz war schon auf einem recht hohen Niveau. Problematisch ist aber das Vermengen der Stilebenen in einigen seinen Texten. Im Gedicht Terhes hajnalban [Im schwangeren Morgen] steht: "legyilkolt földek vergődnek a kétségbeesés az univerzum és az agónia ideges tempójában" [gemeuchelte Felder winden sich im rastlosen Rhythmus der Verzweiflung des Universums und der Agonie].(9) Die "gemeuchelten Felder" gehören zum Vokabular der nationalkonservativen Dichtersprache. Die Felder - der Boden überhaupt - sind auch in der ungarischen Dichtung Symbole der nationalen Existenz. Dann kommen aber lauter Fremdwörter, die zur Sprache der Avantgarde gehören. Die in der deutschen Übersetzung nicht getreu wiedergegebenen Lehnwörter Universum, Agonie und Tempo wirken vor allem durch ihre Anhäufung verfremdend. Sie stören sogar das Sprachgefühl - nicht nur das der Puristen. Ist dieser Mangel auf die Zweisprachigkeit des Dichters zurückzuführen, der die Fremdwörter durch seine Deutschkenntnisse nicht störend empfand? Eine Antwort läßt sich nur schwer formulieren, denn Reiter machte in seiner jungen Periode in der aktivistischen Avantgardedichtung mit, die die Internationalisierung der Kunst und vor allem den gesellschaftlichen Kampf verkündete. So durften die Fremdwörter in diesem Kontext nicht als fremd, sondern als Allgemeingut erscheinen. Jedenfalls ist festzustellen, daß die sprachliche Verankerung im Ungarischen nicht tief war. Es ging bei ihm nie um Sprachinhalte, traditionelle - von der Sprache und der Kultur mitgetragene - Themen kamen nicht vor. Dies wird durch ein Essay aus dieser Periode (und selbstverständlich aus der schon öfters genannten Zeitung Ma) erklärbar: "Wir haben vier fundamentale Punkte: das Individuum, die Geschlechtlichkeit, die Gesellschaft und die Natur; die Weltanschauung zeigt den Menschen in seinem Verhältnis zu diesen vier Punkten."(10) Die Literatur, die Kunst eigentlich, denn die Leute aus dem Umkreis von Kassák verstanden sich als revolutionäre Künstler, nicht nur als Literaten, die Kunst also ist ein "Konstrukt", das diese Weltanschauung vermittelt. Die Kunst wird zum Mittel in dieser Auffassung, und die Sprache ein Mittel des Mittels. Die Sprachhandhabung, die Gedichte von Reiter bildeten einen eindeutigen Bruch in der poetischen Sprache, seine Bilder, ästhetische Mittel und die Stimmung setzten in keinerlei Weise die Dichtersprache des 19. Jahrhunderts, aber auch nicht die von Endre Ady modernisierte poetische Sprache der Jahrhundertwende fort. Es fehlt die emotionale Bindung an die Sprache, es fehlen die Reminiszenzen an die ungarische Dichtung, es gibt so gut wie keine intertextuellen Bezüge zu den Werken der ungarischen Literatur. Die Sprache vermittelt nur sprachunabhängige Bilder und die Ideen der Revolution. Deshalb überrascht es nicht, wenn die Sprachen bei Reiter austauschbar erscheinen:

Ez este
meghalt a nap
a nap belehalt nagy ibolyaszínű sebébe
régi volt már a seb
és széles és mély és forró

Heute abend
ist die Sonne gestorben
die Sonne ist an ihre violette Wunde gestorben
die Wunde war schon alt
und breit und tief und heiß
(11)

Das Gedicht des belgischen Dichters Marcel Lecomte wurde von Reiter übersetzt; aus der auch abgedruckten deutschen Vorlage läßt sich schließen, daß das Original in deutscher Sprache abgefaßt sein könnte, wir haben es aber eher mit der Übernahme aus einer deutschen Zeitung zu tun, denn das Publikationsorgan von Kassák stand in enger Verbindung mit vielen ähnlichen avantgardistischen Zeitschriften aus Deutschland (z.B. mit dem Sturm und mit der Bauhaus-Bewegung im allgemeinen). Die Auswahl des (einfachen) Textes und die Übersetzung läßt die Präferenz des Dichters und Nachdichters Reiter erahnen.

Reiter ging also aus mehreren Gründen in das ungarische literarische Bewußtsein nicht ein: erstmals war er Mitglied einer ignorierten literarischen Bewegung; zweitens wirkte er in seiner ungarischen Phase nicht auf ungarischem Sprachgebiet, sondern in Wien (was eigentlich noch kein Grund zum Ausschluß wäre). Unter diesen Umständen konnte er aber nur mit einem sehr engen Kreis von Literaten Kontakt pflegen, wodurch er sich praktisch in die Unbekanntheit stieß. In Wien verkehrte er nur mit wenigen Mitarbeitern von Kassák, die miteinander dazu noch zerstritten waren. So hat sich der junge Reiter weder durch sein Thema und die Dichtersprache noch durch persönliche Kontakte eine Möglichkeit zur sicheren Integration in die ungarische Kultur schaffen können.

In beiden Literaturen ist bekannt, daß Franz Liebhardt ein zweisprachiger Dichter war: in der Ungarischen nur andeutungsweise, in der Deutschen viel konkreter. Alle beide Literaturwissenschaften sprechen aber von einem Wechsel der Sprache und sehen nicht die Akzentverschiebung bzw. die Stufen der Überganges. Bis 1925 dichtete Liebhardt - zu dieser Zeit noch Reiter Róbert - ungarisch; nur eine einzige Nachdichtung ins Deutsche (er übersetzte die rumänische Volksballade Mioriţa) ist uns bekannt, und erst nach einem längeren Schweigen, ab 1948 ist er als Dichter vor die deutsche Öffentlichkeit getreten. In der Zwischenzeit betrieb er deutsche Journalistik. Enigmatisch ist dieser Sprachwechsel, weil der Dichter kaum etwas über seine innere Wandlung verriet. Seine Beweggründe enthielt er der Nachwelt vor. Deshalb schrieb Ion Maxim über ihn: "Wir wissen nichts über den inneren Prozeß seiner Rückkehr zur Muttersprache nach den so bemerkenswerten Ergebnissen seines avantgardistischen Erlebnisses bei der Zeitschrift Ma."(12) Trotz des mystischen Schleiers ist jedoch manches über die Beweggründe, über den Prozeß selbst und über die Verflochtenheit der zwei Sprachen in seinem Schaffen zu erfahren.

Erstmals sollen wir davon ausgehen, daß ein solcher Wechsel im literarischen Leben des Banats keinen Überraschungseffekt haben konnte, denn die Zweisprachigkeit bzw. der Sprachwechsel kam hier auch bei Schriftstellern relativ oft vor. Bekannt ist der Fall des rumänischen Schriftstellers Ioan Slavici, der sich am Anfang auch der ungarischen Sprache bediente oder der des ungarischen Dichters und deutschen Nachdichters Zoltán Franyó - alle beide im Banat gebürtig. Sie dürften dem Dichter Liebhardt wohlbekannt gewesen sein. Diese allbekannten Beispiele vermehrt sogar Liebhardt mit anderen, um die Zweisprachigkeit ins öffentliche Bewußtsein zu rücken. Er ist derjenige Kulturforscher gewesen, der mehrere Banater Autoren deutsch-rumänischer oder eben deutsch-ungarischer Zweisprachigkeit aus der Vergessenheit zurückholte: In seinem Essay Brüder im Sprachlichen(13) suggerierte er mit einer Fülle von Beispielen (Eftimie Murgu, Karl Gustav Förk, Emilia Lungu-Puhallo, Simeon Mangiucã, Athanasie Marienescu, Ludwig Vinzenz Fischer, Andreas A. Lillin) - ohne es expressis verbis auszudrücken -, daß die Zweisprachigkeit fast der Normalzustand des Banater Schriftstellers sei. Der Essay bleibt aber nur auf dem Banat bezogen. Liebhardt strebte keine Universalität seiner Verallgemeinerung an:

Wenn nun aber die Bezeichnung "Banater Schriftsteller" gefallen war, was mochte eigentlich dahinter gestanden haben, was hatte sie als Aussage zu bezeichnen? [...] Dies ist die Tatsache, daß [das literarische Leben in Temeswar und im Banat - deutende Ergänzung von A.F.B.] aus dem Zusammenschluß und der Zusammenarbeit von Schreibenden erwauchs, die vier verschiedene sprachliche Zugehörigkeiten aufweisen: rumänische, deutsche, ungarische, serbische. Dies bliebe gewiß nur eine Tatsache von statistischer Bedeutung, wenn sie nicht von einer besonderen Atmosphäre der höchsten Duldsamkeit, gegenseitigen Verständnisses und Einvernehmens, kurzum einer sprachlichen Brüderlichkeit begleitet wäre. Darin liegt das Charakteristische des Ausdrucks "Banater Schriftsteller". Er benennt nicht nur einen bloßen Tatbestand, sondern auch die jeweilige lebendige Zirkulationskraft, das Überströmen der einen in die andere, ein gegenseitiges Beistehen, die Argwohnlosigkeit und die Aufgeschlossenheit jedes einzelnen Schreibenden allen anderen gegenüber, ungeachtet des Klanges der Sprache, in der sie von Fall zu Fall die Feder führen, sich vollste Geltung verschaffen.(14)

Die von Toleranz, tiefer Menschlichkeit und historischem Bewußtsein durchdrungenen Worte von Liebhardt charakterisieren in den schönsten Farben das Banat, beinahe entsteht sogar der Mythos der vollkommenen Verständigung der Völker und der Kulturen. Für Liebhardt war diese Situation Alltag und Wunsch zugleich und an dem eigenen Beispiel konnte er die Vereinbarkeit mehrerer Kulturen spüren. Jedoch verriet er nichts über den Übergang aus einer Sprache in das andere. Die damit verbundenen Schwierigkeiten, Ängste, Motivationen werden weder in diesem Essay, noch sonst wo thematisiert, deshalb herrschte dann in der Forschung Unsicherheit und Unklarheit über diesen Prozeß.

Die Einbettung in diesem breiten Kontext des Banats des 19. und 20. Jahrhunderts läßt die Feststellung zu, daß die Beherrschung zweier Sprachen im Bereich der Poesie, wenn sie auch nicht der Normalfall war, so doch keineswegs eine Ausnahme bildete. Jedoch erscheint die Zweisprachigkeit etwas komplexer, wie man dies auf den ersten Blick vermuten dürfte. Es ist nämlich zu klären, was eine schöpferische Sprachbeherrschung oder Sprachhandhabung bedeutet. Es ist kritisch zu überprüfen, ob ein in einer beliebigen Sprache geschriebener Text auch dann zu der entsprechenden Nationalliteratur gehört, wenn er keine weiteren Anknüpfungspunkte zu der betreffenden Sprache aufzuweisen vermag. Bei Liebhardt ist dies fragwürdig. Er ist nicht richtig in die ungarische Literatur eingegangen. Seine ungarische Sprachkompetenz unterlag dem damals modern geltenden Internationalismus. Aus seiner Feder entstanden Kunstwerke, aber keine sprachlichen Kunstwerke. In der deutschen Literatur - besser gesagt in der rumänendeutschen Literatur - hat er aber eine viel höhere Position erreicht als in der ungarischen Literatur. Ein Vergleich ist aber schwer zu ziehen, weil Liebhardt in der ungarischen Literatur als Mitwirkender einer Tendenz vorkam, also als Teil der gesamtungarischen Literatur, aber als Schreibender deutscher Feder war er Mitstreiter einer Regionalliteratur am Rande der gesamtdeutschen Literatur. Sein Schaffen - wie das von vielen anderen Autoren aus Südosteuropa - ging in die gesamtdeutsche Literatur nicht ein. Sein Wirkungskreis war regional und lokal begrenzt. Wenn Zweisprachigkeit natürlicherweise in einer Inselsituation oder am Rande eines Sprachgebietes entsteht, wird es dann möglich, in die Haupttrends zweier Literaturen involviert zu sein? Der Fall Liebhardt verneint diese Möglichkeit.

Wir sind davon ausgegangen, daß im Banat die literarische Zweisprachigkeit möglich war und sich Liebhardt darum bemühte, diese ins positive Licht zu rücken und als Normalfall und Modell anzugeben. Über seinen eigenen Weg zur Muttersprache, über die persönlichen Motive gab er nur andeutungsweise manches bekannt; so behauptete der alte Liebhardt in einem Interview zur Frage, was er "am Vorabend seines 80. Geburtstages den heutigen Schriftstellern, Historikern und Journalisten sagen" könnte, das folgende:

Wenn ich an die Jugend von heute, an meine jungen Schriftstellerkollegen einen gewichtigen Rat richten darf, aus meiner Erfahrung heraus, aus meiner Lebenskenntnis heraus, so muß ich sagen, erstrangig ist es, fest auf dem Boden zu stehen, auf den uns das Schicksal im Leben ausgesetzt hat, auf unserem heimatlichen Boden. Diesen heimatlichen Boden lieben, diesen heimatlichen Boden hegen, diesen heimatlichen Boden unverändert hochhalten... Ich glaube, das sind Aufgaben, die der Jugend heute gestellt sind, ebenso wie sie gestellt waren schon vor Jahrzehnten, oder meinetwegen auch vor Jahrhunderten.(15)

Es wird hier die Heimat genannt, die Sprache nicht: dies mag eine Banater Besonderheit sein, aber sicherlich spielte im Heimatbegriff von Liebhardt auch die Sprache eine gewisse Rolle. Er dürfte seine Heimat durch die deutsche Sprache erlebt haben. Betrachtet man seinen Lebensweg: Lehrjahre im Ausland, Faschismus, Deportation nach Rußland, so kann man seine Heimatliebe nachvollziehen und die Vermutung äußern, daß seine Heimatliebe teilweise durch die Sprache ging. Er fand zurück zu seiner Muttersprache, ohne aber pathetische Gesten zu machen oder dies laut, in nationalistischer Weise zu verkünden.

Dieses Zurückfinden zur Heimat, zum "heimatlichen Boden" wurde durch die Kriegswirren und die Folgen katalysiert. Aus der Sowjetunion zurückgekehrt wollte er aus der Geschichte lernen und wollte gleichzeitig lehren: er trachtete als Poet die Schuld des Faschismus auf sich zu nehmen und das Leben, die Zukunft zu sichern.

Die einen waren nordisch-rein
Und rassisch hochgezüchtet:
Ein Sproß an Wotans Götterstamm,
Die anderen gefolgschaftsstramm,
Sie sollten ewig Diener sein,
Und wälzen stumm des Schicksals Stein -
Das war die deutsche Einheit.
(16)

In diesen Zeilen deutete Liebhardt die Schrecken des Faschismus an, anderswo stellte er moralische Fragen:

Wer hat uns den Krieg ins Land gebracht?
Was tatest du, Andres, in der Nacht,
Die den Frieden zerschlug in Scherben?"

Was tat ich? Die Frage schrie, wurde groß.
Andres, kein Flüchten, kein Verstecken!
Die Zukunft trägt im trächtigen Schoß
Nur denen besseres Menschenlos,
Die sich so fragend selbst erwecken.
(17)

Selbstverständlich ließen sich diese Texte sehr leicht instrumentalisieren.(18) Liebhardt wurde zum sozialistischen Aufbaulyriker. Die Fragestellung nach den moralischen Problemen der Deutschen hat er aber ehrlich gemeint, nur die Form dieser Texte ist sehr plakativ gewesen. Immerhin war für Liebhardt der Sozialismus die reale Alternative gewesen, denn:

Spreche meine Muttersprache,
Niemand schilt mich: Fremder, schweig!
Denn wo steinig lag die Brache,
Blüht die Eintracht, Zweig an Zweig.

Millionen gute, schlichte
Menschen rangen sich empor;
Schmieden selber die Geschichte,
Riesenhafter Arbeitschor.
(19)

Diese Strophe gehört zu den ganz seltenen Gedichten, in denen das Wort Muttersprache im Oeuvre von Liebhardt vorkam. Liebhardt glaubte fest daran, daß der Sozialismus die Identität der Minderheiten (charakterisiert durch die Sprache) bewahren wird. Diese Zeilen sind aber für uns deshalb wichtig, weil wir glauben, daß die Kriegsproblematik für ihn als ein ethisches Problem vorkam. Er nahm freiwilligerweise - denn er ist im Faschismus nicht schuldig geworden - eine Verantwortung wahr, die seine Anbindung an die Sprache enorm stärkte. Als Intellektueller, als Dichter glaubte er sich für die Vergangenheit verantworten zu müssen und eine bessere Zukunft zu sichern. Dies brachte ihn auf neue Wege der Dichtung.

Liebhardt machte einen Läuterungprozeß durch, er fand den Sinn des Lebens in der Heimatliebe. Diese konservative Haltung führte ihn fast automatisch zu den festen Formen der Dichtung zurück. So sind seine schönsten Gedichte die Miniaturen geworden.(20) Wahrscheinlich werden diese Achtzeiler in die Literaturgeschichte eingehen, weil der Autor bemüht war, in diesen Texten durch Genrebilder die Natur, das Menschliche und das Ewige zu erkennen und festzuhalten.

Der Läuterungprozeß, in Gang gesetzt durch den Krieg, hat also bei Liebhardt zwei Seiten gehabt. Einerseits wurde seine Anbindung an die Muttersprache und an die Heimat gestärkt, andererseits hat er eine neue Formauffassung entwickelt: nach der sozialistischen, plakativen Aufbaulyrik fand er zu den Achtzeilern. Diese Entwicklung trägt aber nur in Geringem die Prägung der Zweisprachigkeit. Nur sehr selten kamen solche Motive, Ideen vor, die auf seine Zweisprachigkeit zurückgehen. Bloß in der Bildsprache und in Gedanken ist eine gewisse Kontinuität zu beobachten:

Asszony

Karodban az örömök ritmusa lüktet

este riadt izmokkal karolod a lélegző mezőket a viskókat a bőségben rothadó kertet megsebzett partok
menekülnek hozzád s a hegyek alázatosan a tenyeredbe morzsolódnak

kamaszok labdáznak álmukban a melleiddel de hiába
mert diadalmas erdők dalolnak az öledben - [...]
(21)

Sein Hang zum Ewigen, die gleiche verborgene Erotik, ein ähnlicher Universalismus ist in seinem gleich betitelten, nur eben deutsch abgefaßten Gedicht zu erkennen. Der Unterschied besteht vor allem in der strengen Form:

Weib

Aus blutdurchwirktem Gewebe
ist reich erbaut dein Leib,
du süßer Früchte Rebe,
mein Honigwabenweib.
Du stehst bis zu den Lenden
in einem Weizenfeld
und hältst in deinen Händen
ein gutes Stück der Welt.
(22)

Es ist zu vermuten, daß Liebhardts Denken von einem regionalen Bewußtsein geprägt war. jedenfalls 4 von seinen 10 Bänden (alle deutsch geschrieben; ein ungarischer Gedichtband liegt nicht vor) zeugen mit ihrer Banater Thematik davon.(23) In diesen haben dann die Ungarn - wenn sie überhaupt vorkommen - einen festen Platz. Die Spuren der Zweisprachigkeit, Wörter, Begriffe der ungarischen und deutschen Geschichte fließen in seinem Werk zusammen, Querverbindungen sind vorhanden. Er griff gerne Motive aus der Geschichte des Banats auf, wobei die nationale Zugehörigkeit keine Rolle spielte. Ungarn, Deutsche, Rumänen und selbstverständlich Türken werden erwähnt,(24) und oft gehen sie in einem anationalen Denken auf. Anderswo spricht Liebhardt über die "Taglöhner der Nation"(25): Dieser Begriff ist nur im Ungarischen bekannt: Die schlecht bezahlten, aber gewissenhaften Lehrer wurden im 19. Jahrhundert durch diesen Euphemismus bezeichnet. Liebhardt bezeichnete sich in seinen alten Tagen als einen Ur-Temeswarer, womit er sich zur Zeit des aufsteigenden Nationalismus des wütenden Ceauşescu-Regimes eindeutig zur Multikulturalität dieser Stadt bekannte.

Unseren Überlegungen zufolge läßt sich manches aus diesem Prozeß des Sprachwechsels nachvollziehen. Denn jeder Dichter oder jeder Mensch erlangt seine zwei oder mehr Sprachen durch eine komplizierte und einmalige Entwicklung, bei der gesellschaftliche und psychologische Momente eine gleich große Bedeutung einzunehmen scheinen. Im Falle Liebhardts verlief seine kulturelle Sozialisation - scheinbar - in der ungarischen Sprache, er hat die Weltliteratur in ungarischer Sprache gelesen und er verfaßte seine ersten - sehr gut gelungenen - Versuche auch ungarisch. Der Erfolg dieser ersten Gedichte brachte ihm Anerkennung. In den 20er Jahren rechnete man ihn zum dichterischen Nachwuchs des ungarischen Expressionismus. Nach diesem Anfang - wahrscheinlich beeinflußt von einer besonderen Emotionalität - kehrte er zur Muttersprache zurück. In diesem langen Prozeß des Wechsels der Dichtungssprache - denn Liebhardts erster deutscher Gedichtband erschien 25 Jahre nach den ungarischen Texten - überlagerten sich mehrere unterschiedlichen Schichten der Kultur, von denen die Spuren der ungarischen avantgardistischen Literatur, die deutsche Minderheitenkultur, die banatschwäbische Tradition, ein antifaschistisches Engagement und eine an den europäischen Literaturen geschulte Kulturauffassung zu nennen sind. Diese einander überlappenden Schichten sind kaum noch auseinander zu halten; der ungarische oder der deutsche Charakter einiger Gedichte - wenn das überhaupt möglich ist - können schwer beschrieben werden. Als Ersatz für die kaum zu leistende Arbeit der Beschreibung dieses Prozesses bietet aber der Fall Liebhardt die einmalige Gelegenheit einer fast reinen komparatistischen Analyse, denn die Texte in den beiden Sprachen stammen von einem Autor, nur eine gewisse Zeitverschiebung trat als äußerer Wirkungsfaktor auf. Seine Zweisprachigkeit gestaltete sich als Wechsel, aber nicht als Paradigmenwechsel.

Robert Reiter verfolgte in seinen jungen Jahren hohe poetischen Ziele, wollte reformieren und eine neue Ästhetik schaffen. Sein Elan ließ in seinem langen Leben kaum nach, nur die anvisierten Ziele wurden geändert: die parnassischen Vorstellungen läuterten sich und verwandelten sich durch die Kataklysmen des Lebens, durch das Miterleben von Weltkrieg, Deportation und dogmatischem Kommunismus in eine enge Verbundenheit an die Heimat. Dieser Prozeß wurde von einem Sprachwechsel begleitet. Liebhardt verstand aber die zwei Sprachen und Kulturen in seinem Schaffen in einer übersprachlichen Ebene zu verflechten und sie an seine engere - von Sprachproblemen beladene - Heimat anzubinden. Vom Parnaß gelangte Liebhardt bis nach Temeswar und dann wieder zurück, denn als sein letztes Buch veröffentlichte er gerade seine Jugendgedichte. Sein Schaffen ging im Kreislauf des Lebens auf.

Der Fall Liebhardt-Reiter erklärt der Nachwelt, daß sich ein Sprachwechsel immer in sehr konkreten Situationen abspielt und von gesellschaftlichen und privaten Umständen katalysiert ist. Der Fall des Banater Dichters zeigt noch, daß es multikulturelle Dichter- weil sie oft aus Randregionen kommen und auch dort wirken - sehr schwer haben, in den Mainstream zu kommen, denn die Haupttendenzen lokalisieren sich meistens im kulturellen Zentrum und nicht am Rand. Dies zu ändern ist ein Imperativ des kommenden Jahrhunderts.

© András F. Balogh (Budapest)

TRANSINST        table of contents: No. 13


Anmerkungen:

(1) Literarischer Neubegriff geprägt von Pál Deréky: A vasbetontorony költoi. Magyar avantgárd költészet a 20. század második és harmadik évtizedében. [Die Dichter des Betonturmes. Ungarische Avantgarde-Dichtung im zweiten und dritten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts] Budapest 1992. (Irodalomtörténeti Füzetek [Hefte zur Literaturwissenschaft], 127.)

(2) Als Beispiel sei erwähnt: Robert Reiter: Deutsche Kunst im Banat. In: Klingsor 16 (1939), H. 10, S. 288-291.

(3) Siehe dazu die Einordnung Liebhardts in das literarische Leben Rumäniens in den 50er Jahren von Motzan und Sienerth in: Worte als Gefahr und Gefährdung - Fünf deutsche Schriftsteller vor Gericht. Hg. von Peter Motzan und Stefan Sienerth in Verb. mit Andreas Heuberger. München 1993, S. 56.

(4) Näheres zur Biographie des Dichters siehe in Nikolaus Berwanger (Hg.): Franz Liebhardt. Ein Schriftstellerleben. O viata de scriitor. Illustrierter Jubiläumsband zusammengestellt von N. B. Timisoara 1979. Die Wertung des dichterischen Schaffens siehe in Horst Fassel: Robert Reiter - Franz Liebhardt: ein Dichter in Temeswar. In: Banatica. Beiträge zur deutschen Kultur 7 (1990), Nr. 1, S. 19-22.

(5) Siehe sein einziges Essay über dieses Problem: Brüder im Sprachlichen. In: Liebhardt, Franz: Banater Mosaik. Beiträge zur Kulturgeschichte. Erster Band. [mehr nicht ersch.] Bukarest 1976.

(6) Als junger Mann und Dichter versuchte er sich die Welt zu erklären und eine Ars poetica zu formulieren. Dies erfolgte im Kreis von Kassák in ungarischer Sprache. Siehe sein Essay Dogma, szkepszis, konstrukció [Dogma, Skepsis, Konstruktion] in: Ma 8 (1923), Nr. 7-8, S. 4-5. Er unternimmt eine Weltdeutung, geht dann in einem deklamativen Ton auf die Form-Inhalt-Zusammenhänge ein, äußert sich aber gegen eine dogmatische Revolutionsanschauung.

(7) Nachdruck in Pál Deréky (Hg.): Lesebuch der ungarischen Avantgardeliteratur (1915-1930). Hg., eingeleitet und mit bibliographischen Notizen versehen von P. Deréky. A magyar avantgárd irodalom (1915-1930) olvasókönyve. [Zweisprachige Ausgabe] Wien-Köln-Weimar, sowie Budapest 1996, S. 508.

Wald

Kriechende Ranken, an Rinden vielleicht auch Wunden,
aber Gras; grüngewandete Hoffnung
gefallenes Blatt welkt zum Brot der Bäume
und keiner ist da, der am mageren Bissen des Gestern nagte.


Immergut: die Bäume
Immer-Güte: der Wald
und der Wald hat noch nie
den mehlgesichtigen Hanswurst der Güte gesehen
und auch die Bäume sahen noch nie
den schmutzigen geschwatzten Kittel der Guten.


Der Vermummte mit den rotgeschminkten Wunden,
der bäuchlings dienernde Beigelaufene,
löffelt hier nicht mit seinen Schaufelhänden
Unterwürfigkeit, Rutschteppiche und abgewetzte Knie zuhauf.


Aber: der Wald lacht goldene Brücken zwischen die Bäume;
und: heißa!
und noch einmal: heißa!
denn weder der falsche Schellennarr, der seiltanzt zwischen den Bäumen,
noch der Schwertschlucker können hinauswachsen über den Wald.


Übersetzung in: Róbert Reiter: Abends ankern die Augen. Dichtungen. Aus dem Ungarischen vom Autor und von Erika Scharf. Nachwort von Max Blaeulich. Klagenfurt-Salzburg 1989, S. 8.

(8) Selbst der einzige ungarische Literaturwissenschaftler, der sich mit Reiter befaßte, der Forscher der Avantgardeliteratur Pál Deréky, weiß wenig über die rumäniendeutsche Laufbahn von Liebhardt. In seiner vorletzten Veröffentlichung - im Lesebuch der ungarischen Avantgardeliteratur (1915-1930) - meinte er, "Sikerrel járó vállalkozása ellenére Reiter elfordult a költészettol, sot a magyar irodalomtól is" (S. 40), also daß sich Reiter nach seinen ersten Erfolgen von der Dichtung und ja sogar von der ungarischen Literatur abgewendet hätte. Widersprüchlicherweise wird dann diese Behauptung in seinem letzten Buch, wo die Wertung der ungarischen Periode enthalten ist (Deréky, Pál: "Latabagomár ó talatta latabagomár és finfi". A XX. század elejei magyar avantgárd irodalom. ['Latabagomár...' Phantasiewörter, Zitat aus einem Kassák-Gedicht. Die ungarische Avantgardeliteratur vom Anfang des 20. Jahrhunderts] Debrecen 1998. [= Csokonai Könyvtár, Bd. 14]), richtiggestellt und durch die computerbedingte und kritiklose Übernahme von Passagen aus dem vorletzten Buch gleichzeitig auch wiederholt.

(9) Nachdruck des Originals und der Übersetzung von Erika Scharf in: Pál Deréky (Hg.): Lesebuch der ungarischen Avantgardeliteratur (1915-1930). Hg., eing. und mit bibl. Notizen vers. von Pál Deréky. A magyar avantgárd irodalom (1915-1930) olvasókönyve. [Zweisprachige Ausgabe] - Wien-Köln-Weimar, sowie Budapest: 1996, S. 522-523.

(10) In: Dogma, szkepszis, konstrukció [Dogma, Skepsis, Konstruktion]. In: Ma 8 (1923), Nr. 7-8, S. 5. Deutsch von Géza Deréky aus dem Band: Pál Deréky: Ungarische Avantgarde-Dichtung in Wien 1920-1926. Ihre zeitgenössische literarische Rezeption in Ungarn sowie in der ungarischen Presse Österreichs, Rumäniens, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei. Wien, Köln, Weimar: 1991, S. 151.

(11) Lecomte, Marcel: Das himmlische Licht. Übersetzt von Robert Reiter. In: Ma 9 (1924), Nr. 2.

(12) Maxim, Ion: Das Gold der Höhen. In: Nikolaus Berwanger (Hg.): Franz Liebhardt. Ein Schriftstellerleben. O viata de scriitor. Illustrierter Jubiläumsband zusammengestellt von N. B. Timisoara 1979, S.62. Zuvor rumänisch als Vorwort des Bandes Franz Liebhardt, Aurul inaltimilor. Bukarest 1974.

(13) In: Liebhardt, Franz: Banater Mosaik. Beiträge zur Kulturgeschichte. Erster Band. [mehr nicht ersch.] Bukarest 1976.

(14) In: Brüder im Sprachlichen. In: Liebhardt, Franz: Banater Mosaik, S. 449.

(15) In: Berwanger, Nikolaus (Hg.): Liebhardt, Franz:. Ein Schriftstellerleben. O viata de scriitor. Illustrierter Jubiläumsband zusammengestellt von N. B. Timisoara 1979, S. 13.

(16) Die deutsche Einheit. In: Liebhardt, Franz: Schwäbische Chronik. Bukarest 1952, S.5.

(17) Gespräch in Schacht. In: Liebhardt, Franz: Schwäbische Chronik. Bukarest 1952, S.35.

(18) Siehe den Aufsatz von Heinz Stanescu: Franz Liebhardt. In: Neue Literatur. Bukarest. 9 (1958), Nr. 1 und 2. In Nummer 1, S.124 ist das letzte Gedicht auch zitiert.

(19) Adam Wingert, das lyrische Ich schreibt diese Zeilen an Verwandte in Amerika. In: Brief in die Welt. In: Liebhardt, Franz: Schwäbische Chronik. Bukarest 1952, S. 61.

(20) Liebhardt, Franz: Miniaturen aus vier Jahrzehnten. Bukarest 1972. Schon vor dem Krieg fing er die Arbeit an diesen Texten an, dies zeigt, daß der Prozeß der Findung seiner Dichtungsspreache recht lang war.

(21) Weib

Der Freude Rhythmus pulst in deinem Arm
mit ängstlichen Muskeln umschlingst du abends die atmende Wiesen die Hütten den in seiner Fülle verfaulenden Garten verwundete Küsten flüchten zu dir und die Berge bröckeln demütig in deiner Hand
Halbwüchsige spielen im Traum Ball mit deinen Brüsten doch vergebens denn triumphieren Wälder singen in deinem Schoß - [...]

Nachdruck des Originals und der Übersetzung von Erika Scharf in: Pál Deréky (Hg.): Lesebuch der ungarischen Avantgardeliteratur (1915-1930). Hg., eing. und mit bibl. Notizen vers. von P. Deréky. A magyar avantgárd irodalom (1915-1930) olvasókönyve. [Zweisprachige Ausgabe] Wien-Köln-Weimar, sowie Budapest 1996, S. 520-522.

(22) In: Miniaturen aus vier Jahrzehnten. Bukarest 1972, S. 82.

(23) Diese sind die folgenden: Schwäbische Chronik. Bukarest 1952; Der Türkenschatz. Bukarest 1958; Banater Mosaik. Beiträge zur Kulturgeschichte. Erster Band. [mehr nicht ersch.] Bukarest 1976; Temeswarer Abendgespräch. Historien, Bilder und andere Prosa. Temeswar 1977.

(24) Nur ein Beispiel hierzu sei der Band Der Türkenschatz. Bukarest: 1958 erwähnt.

(25) In: Totgeschwiegener Dichter. In: Liebhardt, Franz: Menschen und Zeiten. Aufsätze und Studien. Bukarest: 1970, S. 45.


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
András F. Balogh: Sprachwahl und Poesie in einer multiethnischen Region. Der Fall des Banater Dichters Franz Liebhardt .
In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 13/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/13Nr/balogh13.htm.

TRANS     Webmeister: Peter R. Horn     last change: 26.08.2002     INST