Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 13. Nr. Mai 2002

Rumäniendeutsche Literatur in der Zeit der Diktatur

Mit besonderer Berücksichtigung der frühen 70er Jahre

Roxana Nubert (Temeswar)

 

Der Übergang von den 60er zu den 70er Jahren stellt einen bedeutenden Umbruch in der rumäniendeutschen Literatur der Nachkriegszeit dar. Die innovativen Tendenzen hiesigen deutschsprachigen Schrifttums in dieser Zeit faßt Walter Fromm mit der Bezeichnung "engagierte Subjektivität" (Fromm 1979, 3) zusammen. Dieser Ausdruck weist auf ein neues Verhältnis der Autoren zur Realität hin:

An die Stelle eines gewiß wohlgemeinten, aber abstrakt allgemeinen Engagements, das auch unmittelbar mit der Komplizenschaft des Lesers rechnete, war die genaue, auf die Alltagsdetails gerichtete Beobachtung getreten, an die Stelle des 'Wir' das Individuum, an die Stelle des Denkens in Systemen die eigene Subjektivität. (Reichrath 1984, 60.)

Die rumäniendeutsche Literatur sollte sich konkreter mit der Realität auseinandersetzen, fordert Anton Sterbling (Wichner 1992, 3) und Eduard Schneider spricht von einer Integration der Landschaft in die Gesellschaft (Wichner 1992, 34), wobei die sozial-politische Implikation evident ist.

Die innovative Richtung rumäniendeutscher Literatur stellt zu Beginn der 70er Jahre die Aktionsgruppe Banat dar. Die Aktionsgruppe Banat wurde im April 1972 im Anschluß an ein Pressegespräch, "Am Anfang war das Gespräch. Erstmalige Diskussion junger Autoren. Standpunkt und Standorte" (Sonderbeilage Universitas der Neuen Banater Zeitung, 2. April 1972, 5) gegründet und hat sich "nach innen als kritische, sich gegenseitig stützende und fördernde Solidargemeinschaft" (Wichner 1992, 9) verstanden. In diesem Gespräch wird eine Art ästhetisches Programm der späteren Aktionsgruppe formuliert, das stark politisch ausgerichtet ist. Den Namen hatte ein Redakteur der Hermannstädter Zeitung Die Woche, Horst Weber, in seiner Rezension der Gruppe zugeschrieben, die jungen Schreibenden haben ihn angenommen. Die meisten Stellungnahmen der Mitglieder der Aktionsgruppe lassen sich auf dieses Gespräch zurückführen: Sie widmen sich ähnlicher Thematik, bekunden gemeinsame Auffassungen über Funktion und Wirkungsstrategien der eigenen Texte, haben das Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einem Team. In einem Staat, in dem Gruppenbildung und Meinungsäußerung als antisozialistische Haltung betrachtet wurden, war die Konstituierung der Aktionsgruppe Banat "gewiß ein merkwürdiges Unterfangen", bemerkt Richard Wagner (Solms 1990, 121).

Die Autorengruppe ist von Anfang an vom wesentlichen Zug rumäniendeutscher Dichtung, nämlich von einer doppelten Bindung geprägt, einerseits der unmittelbaren sprachlichen Beziehung zum deutschen Kulturraum, andererseits der thematischen Verbindung mit dem rumänischen Milieu. Richard Wagner spricht in diesem Zusammenhang von einer "nötigen Standortbestimmung" hiesiger Autoren (Wichner 1992, 31):

Ich [Richard Wagner] bezog mich immer auf das deutsche kulturelle Zentrum, das die Bundesrepublik war. Und dieser Bezug war mir nur durch meine Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit, zu den Banater Schwaben, möglich. Ich wollte nichts von ihnen lernen, aber durch sie konnte ich Teil der deutschen Kulturnation sein, und das wurde die entscheidende Voraussetzung für mein Schreiben (Sienerth 1997, 311)

Gemeinsamkeiten literarischer und weltanschaulicher Art existieren zwischen der Aktionsgruppe Banat und der Gruppe 47. Auch die Texte der jungen rumäniendeutschen Autoren sind exemplarisch für die Verhaltensweise und Grundstimmung des Kahlschlags. Wie die Vertreter der 47er bedienen sich die Banater Schriftsteller zu Beginn der 70er Jahre der scheinbar einfachsten Begreifbarkeit eines kahlgeschlagenen Wortschatzes, um sich mit ihrer direkten Realität auseinanderzusetzen. Es gibt aber auch wichtige Unterschiede zwischen den beiden Gruppierungen: Wenn die Gruppe 47 politisch ansetzt und mit der Forderung nach radikaler Entschlackung der Sprache auch den Ausdruck für eine gesellschaftliche Erneuerung gemeint hat, dennoch in den folgenden Jahren vor allem zur Bildung einer neuen Elite der Literatur fast ohne politischen Einfluß beiträgt, bleibt die Motivation der Aktionsgruppe Banat von Anfang ihres Bestehens bis zu ihrer Auflösung durch die rumänische Sicherheitspolizei (Securitate) politischer Art. Richard Wagner, der davon ausgeht, daß der falsch verstandene sozialistische Realismus letzten Endes an der Wirklichkeit vorbeigeführt hat, meint stellvertretend für seine Generation:

Ich war in meinen frühen Jahren marxistisch geprägt, weniger durch das Regime, dessen Marxismus einfach niveaulos war, sondern mehr durch die bundesdeutschen Achtundsechziger und über diese durch die Frankfurter Schule. Darüber hinaus waren viele meiner Vorstellungen, Teile meines Weltbildes, von der linksliberalen Öffentlichkeit der Bundesrepublik der siebziger Jahre beeinflußt. Mein Marxismus war ein westlicher. Es war der von Ernst Fischer und Antonio Gramsci, von Herbert Marcuse und Rudi Dutschke. (Sienerth 1996, 311.)

Das Gedicht "Engagement", das einen kollektiven Text der Gruppe darstellt und als Eröffnungsgedicht bei sämtlichen Auftritten vorgetragen wurde, zeigt schon im Titel selbst einen Leitfaden des Schrifttums dieser jungen Autorengruppe:

bist engagiert
ja
bin engagiert
ja ja
sehr engagiert

bist auch engagiert
ja
bin auch engagiert
sehr engagiert
ja ja

will aber nicht mehr engagiert sein
bin schon zu lang engagiert gewesen

will auch nicht mehr engagiert sein
bin auch schon lange engagiert gewesen

ja
mit dir da
mit dir da auch
bin nicht mehr engagiert ja
bin nicht mehr engagiert auch
ja ja
ja ja auch
doch wer einmal engagiert war
der wird engagiert bleiben immer
ja

ja ja

(Nach: Totok 1988, 73-74.)

Offensichtlich versuchen diese Autoren, einen Appell an den Leser zu richten. Man sucht nach Orientierungsmöglichkeiten kultureller und politischer Art, die hierzu verwendet werden können. Richard Wagner erklärt das Gepräge dieses "Engagements":

Persönlich sehe ich das Engagement eines Lyrikers bestimmt vom Versuch, auf die Fragen des öffentlichen Lebens Antworten zu finden. Und diese Antworten müssen ihn als Marxisten ausweisen. Voraussetzung dazu ist eine bestimmte Haltung der Welt gegenüber, die des Fragenden, nicht des Gläubigen. (Nach: Wichner 1992, 61.)

"Engagement" als konstituierendes Mittel politischer Lyrik schließt jedoch ein, daß die Lyrik eine appellative Funktion besitzen soll, durch die der Leser zu gewissen Handlungen veranlaßt oder aufgefordert werden kann. "Engagement" in diesem Sinne bedeutet desgleichen einen Bruch mit der Auffassung, daß Literatur eine primär künstlerisch-autonome Funktion besitzen soll. Deshalb kann diese Auffassung, unter den gespannten Bedingungen einer Minderheitenkultur, als Abrechnung mit der älteren Generation Schreibender verstanden werden, wie sie im Gedicht "Wir", einer Montage aus Gedichten von Albert Bohn, Johann Lippet, Gerhard Ortinau, William Totok, Richard Wagner und Ernst Wichner, ausgedrückt wird:

der kleindichter hat den großdichter gekillt
den großdichter hat sein ruhm in verdacht gebracht
der jungdichter hat den altdichter zu tode beleidigt
der altdichter hat den jungdichter verräter genannt

(Nach: Wichner 1992, 136.)

Nicht nur Bertolt Brecht stellt für die Aktionsgruppe Banat ein ideologisches Modell dar. Manche DDR-Autoren, Heinz Kahlau, Sarah und Rainer Kirsch, Volker Braun und Jens Gerlach, beeinflussen die jungen Banater Autoren. Das besondere Interesse an der Lyrik der DDR beruht nicht allein auf einer subjektiven Überzeugung, sondern es ist auf zwei wesensbestimmende Faktoren zurückzuführen, die beiden Literaturen gemeinsam sind, nämlich auf die Sprache und auf das Gesellschaftssystem. Dabei ist aber die konkrete Realität geschichtsbedingt und dementsprechend differenziert zu behandeln. Gerhard Csejka weist in diesem Zusammenhang auf die "Eigenständigkeit" der rumäniendeutschen Literatur hin und Richard Wagner bemerkt:

Wir sind die erste Generation Schreibender, die in die sozialistischen Verhältnisse hineingeboren wurde. Das bewirkt eine Neueinstellung zur Wirklichkeit. Wir haben die Möglichkeit, die heutige Realität vorurteilsloser, komplexer als Ältere zu sehen. (Wichner 1992, 33.)

Das rumäniendeutsche Schrifttum sollte sich konkreter mit der Realität auseinandersetzen, fordert Anton Sterbling (Wichner 1992, 31) und Eduard Schneider spricht von einer Integration der Landschaft in die Gesellschaft (Wichner, 34).

Eine starke Anziehungskraft übt Bertolt Brecht auf die Aktionsgruppe Banat aus, weil er mit den Möglichkeiten einer sozialistischen Literatur experimentiert hat. Man versucht überhaupt, von Brecht einen politischen Gebrauchswert der Literatur abzuleiten.

Autoren, die zu Beginn der 50er Jahre geboren wurden, überwiegend Germanistikstudenten an der Universität Temeswar und ehemalige Schüler der Nikolaus-Lenau-Schule mit deutscher Unterrichtssprache, treffen sich ähnlich wie die Autoren der Sächsischen Dichterschule aus der DDR, um gemeinsam ihre Texte in der Gruppe, aber auch politische Richtungen zu besprechen. Ihre Gründung ist der Eröffnungspolitik zu verdanken, die der IX. Parteitag der Rumänischen Kommunistischen Partei im Jahre 1965 festgelegt hat. Der unmittelbare Niederschlag dieser umbruchsbewirkenden Orientierung bedeutet sowohl für die rumänischen als auch für die rumäniendeutschen Schriftsteller eine kritische Auseinandersetzung mit hiesiger Realität. Die jungen Schreibenden haben die Möglichkeit, ihre Texte in mehreren deutschsprachigen Zeitungen (Neuer Weg/Bukarest, Neue Banater Zeitung/Temeswar, Hermannstädter Zeitung/Hermannstadt, Karpatenrundschau/Kronstadt) und in der bekannten deutschsprachigen Literaturzeitschrift Neue Literatur in Bukarest zu veröffentlichen. Erfahrene Redakteure (Gerhard Csjeka, Peter Motzan, Emmerich Reichrath u.a.) fördern die Gruppe. Es gibt zu Beginn der 70er Jahre mehrere Verlage, die deutschsprachiges Schrifttum in Rumänien publizieren: den Kriterion Verlag in der Hauptstadt, den Dacia Verlag in Klausenburg und den Facla Verlag in Temeswar. Vor allem die in Temeswar erscheinende Neue Banater Zeitung veröffentlicht wöchentlich eine Beilage für Schüler, in der viele junge Autoren ihre ersten Texte publizieren können. In den Jahren 1969-1971 haben etwa dreißig Autoren debütiert, darunter auch die Mitglieder der Aktionsgruppe Banat.

Der Tradition des sozialistischen Realismus wird ein Ende gesetzt: "Jeder kann schreiben, wie er will", verkündeten die Ceausescu-Leute, und die Schriftsteller waren davon so begeistert, "daß sie zu fragen vergaßen, ob sie auch schreiben dürften, was sie wollten" bemerkt Richard Wagner.

Verbunden war diese Blütezeit auf kultureller Ebene mit einer neuen politischen Stimmung. Durch die Öffnung der Gesellschaft Ende der 60er Jahre hatte die Securitate nämlich vorübergehend an dreister Haltung verloren:

Sie [die Securitate] hatte durch die Enthüllungen Ceausescus in den Spätsechzigern erfahren müssen, daß sie zum Sündenbock gemacht wird. Deshalb waren Geheimpolizisten etwas vorsichtiger geworden, und manche von ihnen, jüngere, dachten auch nicht mehr so wie in den Fünfzigern. Warum sollten sie für die Nomenklatura die Kastanien aus dem Feuer holen? (Sienerth 1997, 314.)

Auch die Tatsache, daß die Autoren der deutschen Minderheit angehörten, hat sich indirekt durch die Politik des Parteichefs, Ceausescu, positiv auf die Entwicklung der Gruppierung ausgewirkt. Das Regime war auf das deutsche Geld angewiesen, der Preis der Auswanderung war in DM ausgerechnet.

Das liberal gesinnte Temeswar war das Zentrum der Gruppenaktivität und der von Richard Wagner geleitete Literaturkreis im Studentenkulturhaus der einzige öffentliche Ort in der Stadt, an dem über Peter Handke, Heinrich Böll, die Wiener Gruppe, Helmut Heißenbüttel, Paul Celan, Walter Benjamin, Johannes Bobrowksi aber auch über Solschenizyn und Dubcek oder Ulrike Meinhof diskutiert wurde. Nicht nur der literarische, sondern auch der politische Impuls war für die Angehörigen der Aktionsgruppe Banat ausschlaggebend:

Wir erklärten uns lautlos, wir seien Marxisten, und wir hielten uns auch dafür. Was wir politisch dachten, war eine schräge Mischung aus Sozialismus mit menschlichem Antlitz, Che Guevara, Marcuse und Leninschen Merksätzen aus dem Vokabular unserer Schulzeit [...]. (Solms 1990, 122.)

Das war der Hauptgrund, der die Securitate unmittelbar an die Existenz der Gruppe gebunden hat:

Und immer hörte die Securitate mit; im Zimmer des Direktors - des Studentenhauses - lief ein Tonbandgerät, das jedes Wort aufzeichnete. Wir wußten es und sprachen es aus. (Wichner 1992, 9.)

Auch das Ende der Aktionsgruppe Banat steht in enger Beziehung zur rumänischen Sicherheitspolizei, denn auf einer Wochenendreise im Herbst 1975 wurden Gerhard Csejka, William Totok, Gerhard Ortinau und Richard Wagner unter dem Verdacht verhaftet, illegal die Grenze überschreiten zu wollen:

In tagelangen Verhören ging es dann allerdings nicht mehr um die Staatsgrenze, sondern um die Grenzen der Dichtkunst, diese waren überschritten worden, hatte der Staat festgestellt und die Gruppe mit der 'Baader-Meinhof-Bande' verglichen. Der Staat hatte zugeschlagen, in der ihm eigenen Sprache zu verstehen gegeben, daß man diese literarische Spaßguerilla nicht mehr länger hinnehmen wolle. Zur Bekräftigung seiner Drohung wurde [...] William Totok verhaftet und acht Monate in Untersuchungshaft gesteckt. Sein Vergehen waren seine Texte und seine Mitgliedschaft in der Aktionsgruppe Banat, er hat stellvertretend für alle gebüßt. (Wichner 1992, 10.)

Das rumäniendeutsche Modell der Aktionsgruppe Banat war die Dichterin Annemone Latzina. Ihre Texte sind durch Nüchternheit auf formaler und besonders auf sprachlicher Ebene, durch das Fehlen von schmückenden Beiwörtern und durch das bloße Benennen von Dingen gekennzeichnet. Als erlernbar und verwertbar erweist sich bei ihr die Haltung der naheliegenden Wirklichkeit, die im Sinne Brechts als widersprüchlich und veränderbar erkannt wird. Diese Einsicht erteilt die Berechtigung, mitzuwirken an Bewußtseinswandlungen und teilzunehmen am Demokratisierungsprozeß der Gesellschaft. Aus Leserfahrungen haben die jungen Lyriker gewußt, wie, unter welchen Umständen eine beabsichtigte Wirkung in ihr Gegenteil umschlagen kann. Ihre Gedichte, bemerkt Peter Motzan, "waren nicht die Rezeptausstellung auf Befehl noch Geschenk inspirativer Ergriffenheit, sie hatten ihre Gebrauchswertigkeit durch realistische Konkretion zu legitimieren" (Motzan 1980, 141). Das hat zu einer Ausschaltung der Gefühle geführt.

Die erwähnten günstigen Publikationsmöglichkeiten zu Beginn der 70er Jahre fördern unter den jungen rumäniendeutschen Autoren das Bewußtsein, die ersten zu sein, denen zeitweilig verdrängte Aufarbeitung und Gestaltung überantwortet wurden, und versetzt viele von ihnen in eine euphorische Stimmung: "Dabei geht es [...] um eine Euphorie der Vernunft und der Nüchternheit, um ein beinahe unbegrenztes Vertrauen in den Wirkungsradius der Literatur", erklärt Peter Motzan (Motzan 1980, 138). Richard Wagners Gedicht "kaspar hauser" ist ein Beispiel dafür:

öffnete er eine tür
war es mehr als bloß eine tür

ganz ohr war er
ganz auge
er fühlte
in ihm öffnete sich etwas
etwas das nicht aufhörte
sich zu öffnen

lautlos
pausenlos
endlos

und es gab nichts
was zuschlug
als
wort

(Wichner 1992, 173.)

Stellt man die Beziehung zwischen der Aktionsgruppe Banat und der Identitätsfestigung hiesigen Deutschtums her, so nimmt man allmählich nicht nur den äußerst widerspruchsvollen Charakter der Aufgabenstellung, sondern auch jenen des Begriffs des Deutschtums für hiesige Verhältnisse wahr. Vorausgesetzt, daß man unter Deutschtum die Gemeinsamkeiten der für die Deutschen typischen Lebensäußerungen bzw. die deutsche Wesensart schlechthin betrachtet, gibt es wesentliche Unterschiede religiöser, geistiger, kultureller und sozial-politischer Natur zwischen den Banater Schwaben und den Siebenbürger Sachsen, wenn man die beiden wichtigsten Gruppen rumäniendeutscher Bevölkerung in Betracht zieht. Im Falle der Mitglieder der Aktionsgruppe Banat (Richard Wagner: geb. 1952, Rolf Bossert: 1952-1986, William Totok: geb. 1951, Ernest Wichner: geb. 1952, Johann Lippet: geb. 1951, Werner Kremm: geb. 1951, Gerhard Ortinau: geb. 1953) beschränkt sich die Problematik auf ihr Verhältnis zum "Schwabentum", denn die "deutsche Realität", mit der sie sich kritisch auseinandersetzen, ist nicht die rumäniendeutsche schlechthin, sondern die schwäbische Realität der im Banat lebenden Deutschen. Richard Wagners programmatische Worte lauten in diesem Zusammenhang: "Ich habe zwar in einem kritischen Verhältnis zu einer deutschen Minderheit gestanden, aber auf ihrem Hintergrund gearbeitet und gelebt" (Jass 1996, 5).

Das Bewußtsein, daß sie sich von dieser Gemeinschaft distanzieren, prägt den Geist der Gruppierung:

Wir meinten damals alle den gleichen großen Gegner zu haben, das Regime. Ich [Richard Wagner] wollte mich aber mit diesem Regime auseinandersetzen, während die meisten meiner Landsleute die Ausreise anstrebten [...]. (Sienerth 1997, 310.)

Das doppelte Bewußtsein, einerseits der Angehörigkeit zum "Schwabentum" und andererseits der in Frage Stellung dieses "Schwabentums", wird programmatisch von Richard Wagner hervorgehoben:

Ich habe, was ganz wichtig ist, für mich auch und für meine Vorstellungen, nicht versucht, ein Westdeutscher zu werden, auch nicht versucht, ein westdeutscher Schriftsteller zu werden, sondern in meinem Selbstverständnis war ich immer ein deutscher Schriftsteller, aber ein deutscher Schriftsteller aus diesem ostmitteleuropäischen Zusammenhang, aus dieser habsburgischen Region, dem Banat. Das bin ich auch weiter geblieben [...] Ich empfinde mich heute im Grunde als ein deutscher Schriftsteller mit einem europäischen Hintergrund. (Jass 1996, 5.)

Zu diesem spezifischen "osteuropäischen Hintergrund" gehören Aspekte, wie die Existenz der deutschen Minderheit in Rumänien, die Überwindung der profaschistischen Mentalität der älteren Generationen, zu denen die Großeltern und die Eltern der Mitglieder der Aktionsgruppe Banat zählen, die soziale und psychologische Konfrontation mit der Auswanderung, die äußerst kritische Auseinandersetzung mit den "Tugenden" der Banater Schwaben, nämlich dem Fleiß, Ordnungssinn und der Abhängigkeit vom Boden. Die Dekonstruktion führt bis zur Entmythisierung der Feste und Bräuche, für die die Kirchweih als Wahrzeichen steht. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang Werner Kremms kurzer Prosatext "Kerwei":

und wieder kommen sie paarweise im gleichschritt von der musik vor sich hergetrieben [...] sind es die mädchen die haben traditionelle schwarze halsbänder und stefan jäger frisuren wie die eingewanderten vorfahren haben auch die kerwei gefeiert aber dann nicht in stöckelschuhen die sind eng manche gehen auf blasen aber sonst heißt es du warst nicht freundlich du bist eingebildet du kannst dich nicht unterhalten hast du vergessen wo du herkommst glaubst du du seist mehr als die anderen [...] und dann einer von des pfarrers gesammelten kerweisprüchen jedes jahr ein anderer natürlich alles in mundart alles authentisch aufpolierte tradition mit hut kopftuch und bock der wird geschlachtet zum paprikasch drauf kann man gut trinken ist wichtig einige der väter sind schon allein durch die erinnerung besoffen sie taumeln umarmt im graben [...] (Wichner 1992, 41-42.)

Bestimmte sprachliche Strukturen des Kirchweihfestes werden durch Wiederholung zu einer Schablone umfunktioniert.

Rolf Bossert distanziert sich seinerseits von seiner Banater Welt, indem er zum Beispiel den Titel eines Meisterwerks der einheimischen Heimatliteratur, des Romans "Der große Schwabenzug" von Adam Müller-Guttenbrunn parodiert. Der Ausdruck steigert sich bis ins Sarkastische, wie es oft später in Herta Müllers Texten vorkommt, die Identität des Banater Schwaben wird praktisch aufgelöst, nur die Masse der Schwaben zählt noch.

der schwab ist klein
allein
der zug ist groß

(Bossert 1979, 11.)

Wir finden bei Bossert auch die Dekonstruktion einer traditionellen Gedichtform, die intendierte Gebrauchswertigkeit, die konkrete Verwendung der sprichwörtlichen Redensarten:

du sollst den tag nicht vor der nacht loben
du sollst den abend nicht loben
du sollst tag und nacht loben

(Bossert 1979, 18.)

Die Beschreibung der Realität wird "entgrammatisiert" (z.B. durch konstante Kleinschreibung, Reduzierung der Valenzfunktionen), um dadurch die Kritik an den Realitätszuständen stärker hervortreten zu lassen. Die Sprachmontagen nehmen jetzt keine Rücksicht auf syntaktische Zwänge, sondern verbinden bruchstückhafte Sätze. Diese Verbindung ergibt sich jedoch nicht nur aus der Montagetechnik, vielmehr wird die entgrammatisierte Sprache als ein wesentliches Prinzip des literarischen Textes verstanden.

Zusätzlich zur politischen Funktionalisierung ist das Schwanken zwischen Über- und Unterwertung der Wirklichkeitsmöglichkeiten der selbst verfaßten Texte von besonderer Bedeutung.

Bei Gerhard Ortinau zum Beispiel ("die letzte banater story. Offener brief eines auf den mond verschlagenen [nur für rumäniendeutsche leser]") wird die Vergangenheits- und Gegenwartsebene durch Perspektivenwechsel von Unwahrscheinlichkeit und Unmöglichem zum Ausgangspunkt weitreichender Zukunftsüberlegungen gemacht. Der Adressat ist klar: "an den genossen r. wagner, temeswar". Der fiktive Briefschreiber beschreibt ein groteskes Ausstellungsgebäude mit dem Namen "lebendiges Banat". In ihm befinden sich Exponate, die mit der kurzen Geschichte des Banats in Verbindung gebracht werden. Der Text beginnt im ersten Stock mit der Einwanderung und endet im 15. Stock, dort, wo der fiktive Briefschreiber selbst Teil der Ausstellung ist. Diese Kurzprosa erreicht durch die Verschmelzung der Textsorten (Briefform, Erläuterung), der Stilfärbungen (übertrieben, gespreizt, auch vertraulich) und des Wortschatzes (Archaismen) ein hyperbolisches Bild der "goldenen zeit unserer heimat" Besonders grotesk wirken die 26 "Anmerkungen", Erläuterungen von Personen (Otto Roth, Stefan Jäger, Adam Müller-Guttenbrunn), Orten (Temeswar, Banat: "ein-kein-schreibthema. liegt im westen des landes [...]. Synonym zu: provinz"), von emotionsgeladenen Objekten (Kerweihbaum) der Banater Geschichte, die jedem Deutschen in diesem Kulturraum geläufig sein müßten und die als Inbegriff der eigenen Geschichte gelten. Selbst die Aktionsgruppe Banat wird in Form eines Seitenverweises erläutert:

4 aktionsgruppe (ehemalige) literarische deutschsprachige clique in temeswar (s. anm. 2). mitglieder (meist Studenten): johann lippet, rolf bossert, werner kremm, richard wagner, albert bohn, william totok, gerhard ortinau, anton sterbling. Literarische vorbilder: wiener gruppe, brecht, alois brandstetter, heißenbüttel, artmann, biermann, und sonstige männer.

5 aktionsbuch - sammelband der aktionsgruppe (s. anm. 4). 1979/80 im inkunabeln-verlag (copyright aktionsgruppe) erschienen. (Nach: Wichner 1992, 180.)

Es wird das Bild einer versunkenen Welt gezeichnet, die "das zukunftweisende nicht rechtzeitig erkennen" (nach: Wichner 1992, 184) konnte. Die Groteske schließt mit einem Verweis auf die Auswanderungsbestrebungen der Banater Deutschen im 20. Jahrhundert: "außerdem sind die schwaben aus aller welt zur 15 jährigen jubiläumsfeier ihres prinzenhauses geladen. die DIREKTION !" (Nach: Wichner 1992, 186.)

Der geschichtliche Hintergrund ist in der deutschen Minderheitenliteratur üblich. Doch im Gegensatz zur Tradition benutzt ihn Ortinau nicht im Sinne einer Idealisierung, sondern er stellt eine Gegenwelt dar, indem er bekannte historische Bezugsobjekte aus ihrem Zusammenhang gelöst betrachtet und sie in neue Kontexte bringt. Dadurch ändern sich die herkömmlichen Konnotationen: "[...] als ich neulich, wohlgelaunt wie immer, in einer der erwähnten ulmer schachteln durch die kaiserstadt wien gondelte [...]." (Nach: Wichner 1992, 182.)

Für Gerhard Ortinau ist der für eine Minderheitenliteratur typische Geschichtekult kein Zwang, dem man untergeordnet ist. Kollektive Rückschau zum Aufbau einer Zusammengehörigkeit einer Minderheit wird als ein Irrtum dargestellt, von dem man sich befreien müsse.

Im Oktober 1973 erscheint im Bukarester Albatros Verlag die einzige Buchveröffentlichung eines Mitglieds der Aktionsgruppe Banat, Richard Wagners Lyrikband "Klartext", dem der Preis des Zentralkomitees des Verbandes der Kommunistischen Jugend verliehen wurde. Dieser Band, der ursprünglich den Titel "Der Fischbesprecher" - nach einem Gedicht des Autors - tragen sollte, enthält meist ältere Texte, die früher in verschiedenen Publikationen erschienen sind.

Die Gedichte sind in Gruppen unterteilt, denen jeweils ein Zitat vorangestellt ist. Wagners literarische Vorbilder (Bertolt Brecht, Christoph Meckel, Walther von der Vogelweide, Helmut Heißenbüttel) sind überdeutlich spürbar. Der Leser wird durch Eingangszitate der Vorbildautoren darauf aufmerksam gemacht, daß der Verfasser weniger innovative Ideen, sondern Angelesenes mitteilen möchte.

Die Mitglieder der Aktionsgruppe Banat haben bewußt nicht bewahrend, im Sinne der Tradition geschrieben. Sie gehören der Renaissance rumäniendeutscher Literatur der Nachkriegszeit an. Ihr großes Verdienst besteht darin, wie es Richard Wagner nachdrücklich betont hat, das Banat als kulturelle Region bekannt gemacht zu haben:

[...] das Banat [...] und die Banater Schwaben und alles, was sonst noch damit zusammenhängt, das kennen sie [die Leute in Deutschland] nicht [...] Deshalb interessiert es mich auch, darüber nachzudenken, was bedeutet diese Region in der Moderne, kulturell auch ... Ich empfinde mich im Grunde als ein Schriftsteller mit einem osteuropäischen Hintergrund. (Jass 1996, 5.)

Herta Müller, die ein unmittelbares Produkt der Aktionsgruppe Banat, aber kein Mitglied der Gruppierung war, hat einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet. Die rumäniendeutsche Literatur kann somit dank der Aktionsgruppe Banat als integraler Bestandteil deutschen Schrifttums betrachtet werden, weil sie ihr Spezifikum in der Beobachtung von Literatur unter Extrembedingungen ihrer möglichen Wirkung begreift.

Die Arbeit versucht, die engagierte Subjektivität durch das Beispiel der Aktionsgruppe Banat in ihrem sozial-politischen Kontext zu untersuchen. Realitätsbewußte Autoren überprüfen und revidieren ihre Auffassungen, damit ihre Literatur Funktionalität bewahre. Die daraus entstandene Subjektivität entwickelt sich zu einem literarischen Phänomen mit solchen Wirkungen, wie sie die rumäniendeutsche Literatur nie gekannt haben durfte.

© Roxana Nubert (Temeswar)

TRANSINST       table of contents: No.13


LITERATURVERZEICHNIS

Barner, Axel: Aufsätze zur Germanistik. Temeswar 1998.

Bossert, Wolf: siebensachen. Bukarest 1979.

Csejka, Gerhard: "Eigenständigkeit als Realität und Chance". In: Neuer Weg, 20. März 1971, 5.

Engel Walter: "Zwischen Aufbruchsstimmung und Zukunftspessimismus. Fragmentarisches zur gegenwärtigen Situation der rumäniendeutschen Literatur". In: Neue Zürcher Zeitung, 9./10. Januar 1982, 65.

Fromm, Walter: "Vom Gebrauchswert zur Besinnlichkeit". In: Die Woche, 26. Januar 1979, 3.

Jass, Walter: "Ein ostmitteleuropäischer Zusammenhang bleibt ... Gespräch mit dem Dichter und Schriftsteller Richard Wagner". In: Allgemeine Zeitung für Rumänien, 1. November 1996, 5.

Krause, Thomas: Die Fremde rast durchs Gehirn, das Nichts ... Deutschlandbilder in den Texten der Banater Autorengruppe (1969/1991), Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1998.

Latzina, Annemone: Tagebuch. Tage. Gedichte 1963 bis 1989. Berlin 1992.

Motzan, Peter: Die rumäniendeutsche Lyrik nach 1944. Problemaufriß und historischer Überblick. Cluj-Napoca 1980.

Ortinau, Gerhard: DIE LETZTE BANATER STORY offener brief eines auf den mond verschlagenen (nur für rumäniendeutsche leser). In: Gerhard Ortinau: verteidigung des kugelblitzes kurze prosa, Cluj-Napoca 1976, 78-87.

Reichrath, Emmerich: "Kontinuität und Wandel. Ein Jahrzehnt rumäniendeutscher Literaturentwicklung im Überblick". In: Neue Literatur, 11/1981, 57-63.

Sienerth, Stefan: "Daß ich in diesen Raum hineingeboren wurde ..." Gespräche mit deutschen Schriftstellern aus Südosteuropa. München 1997.

Solms, Wilhelm (Hrsg.): Nachruf auf die rumäniendeutsche Literatur. Marburg 1990.

Totok, William: Die Zwänge der Erinnerung. Aufzeichnungen aus Rumänien. Hamburg 1988.

Wichner, Ernest (Hrsg.): Ein Pronomen ist verhaftet worden. Die frühen Jahre in Rumänien - Texte der Aktionsgruppe Banat. Frankfurt am Main 1992.


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Roxana Nubert: Rumäniendeutsche Literatur in der Zeit der Diktatur. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 13/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/13Nr/nubert13.htm.

TRANS     Webmeister: Peter R. Horn     last change: 01.05.2002     INST