Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 13. Nr. Juli 2002

Sprachen und Literatur im elektronischen Zeitalter

Alessandra Schininà (Catania)
[BIO]

 

In der Kulturpolitik der letzten Jahre verstärkte sich die Tendenz, Sprache und Literatur voneinander zu trennen. So scheint z.B. die italienische Universitätsreform im Bereich des Fremdsprachenunterrichts Sprache und Literatur nicht mehr als gesamtes Kulturphänomen zu betrachten. Der Lehrstuhl 'Lingua e letteratura' wurde geteilt, und das bedeutet oft einerseits, daß die Sprachen immer stärker spezialistisch und arbeitsmarktgerichtet gelehrt werden und andererseits, daß die Literatur an den Rand gedrängt wird. Wenn Literatur als erbauend, lehrreich, unterhaltsam aber in Wirklichkeit als nebensächlich, vor allem aber als nicht unmittelbar nützlich betrachtet wird, verliert der literarische Text seine zentrale Rolle im Sprachenunterricht. Man will Zeit gewinnen und geradewegs aufs Ziel lossteuern, d.h. eine Fremdsprache soll möglichst schnell und zweckbezogen erlernt werden. Man nimmt sich kaum Zeit für eine in sich geschlossene Lektüre, für Überlegungen, für Vergleiche und Kritik. Ob das mehr oder weniger bewußt und gewollt geschieht, ist eine politische Frage, doch praktisch wird dadurch dem Spracherlernen allen interkulturellen Theorien zum Trotz, eher eine Dienstfunktion auf Kosten einer Persönlichkeitsbildung zugeschrieben. Im Namen einer "effizienten" Kommunikation läuft man Gefahr, einen tiefgehenden Dialog, oder besser Polylog, und ein echtes Verständnis unter den verschiedenen Kulturen aufs Spiel zu setzen. Das führt zu einer Verarmung der Sprache. Der Reichtum, die Vielfalt, die Widersprüche der Sprachsysteme werden reduziert, indem man alles, was einer schnellen Kommunikation im Wege steht, eliminiert und nach einer "globalen", vereinfachten, essentiellen Sprache strebt. Da eine Sprache das Ergebnis einer Reihe von geographischen, geschichtlichen und kulturellen Faktoren ist, kann die Vernachlässigung dieser Elemente schwerwiegende Folgen nach sich ziehen. In bezug auf die Muttersprache ist dieses Phänomen noch nicht so stark hervorgetreten, es erscheint jedoch besonders krass im Fremdsprachenunterricht.

Man glaubt, oder besser verbreitet die Illusion, daß man eine Fremdsprache mittels interaktiver Selbstlernkurse auf bunten und teuren CD-ROMs in kurzer Zeit beherrschen kann. Obwohl Versuche gemacht worden sind, die verschiedenen Ebenen der Kommunikation zu berücksichtigen, bleiben diese für den Computerbildschirm bestimmten Fremdsprachenkurse meist im richtig/falsch-Schema, in Lückentextergänzungen stecken. Es werden vorbestimmte, standardisierte Fragen und Antworten verlangt, freie und autonome Sprech- und Schreibaktivitäten sind kaum möglich. Da die Veränderungen in der Didaktik, in der Sprachforschung, sowie in der Literatur nicht zuletzt durch die erweiterte Anwendung der Elektronik geschehen sind, und oft von rein technischen und wirtschaftlichen Faktoren geleitet werden, sollten Sprach- und LiteraturwissenschafterInnen ihre Rolle in der Gesellschaft, ihre Arbeitsmethoden und Überzeugungen nochmals überdenken. So stellt sich die Frage, ob und wie gerade ein "humanistischer" Einsatz der Technologie zu einer Neubewertung von Sprachen und Literatur führen kann. Zu lange haben Sprach- und LiteraturwissenschafterInnen die Verbreitung der Informatik passiv akzeptiert, ohne sie kritisch ins Auge zu fassen. Das hat nicht nur zur Folge, daß die Qualität der Informationen auf Fragen im Sprach- und Literaturbereich im Internet noch keineswegs befriedigend ist, sondern dadurch wird die Kulturwissenschaft im allgemeinen auch immer mehr abgedrängt. Das bedeutet weniger Beachtung und begrenzte Finanzierung für die kulturwissenschaftliche Forschung, sowie eine Schwächung der sozialen Aufgabe, Funktion und Stellung der Geisteswissenschaften, die für die gesamte gesellschaftliche Entwicklung gefährlich werden kann.

Eines der Ziele der Sprach- und LiteraturwissenschafterInnen sollte es sein, nicht zuzulassen, daß die Sprache banalisiert, vereinfacht, ja verarmt wird. Es wäre angebracht die Komplexität der Sprachsysteme, ihre Potentialität hervorzuheben und weiter zu experimentieren. Auch der Missbrauch der Sprache sollte anhand von Textvergleichen, Etymologien, geschichtlichem Bedeutungswechsel usw. verdeutlicht werden, um eine verdummende 'Nicht-Sprache' - die aus Phrasen, leeren Parolen, Gemeinplätzen, vorgeformten Sätzen besteht und nicht zum Denken anregt - zu entlarven. Jeder von uns sollte einerseits die Verantwortung für die eigene Sprache tragen und andererseits das Bewußtein für den Sprachgebrauch erwecken. Nur eine solche Verpflichtung der eigenen und der fremden Sprache gegenüber kann Mißverständnisse und Vorurteile beseitigen und die Verwendung der Sprache als Macht- und Propagandainstrument kontrastieren. Gerade deswegen sollten die Sprach- und LiteraturwissenschafterInnen, die von den elektronischen Mitteln im Sprachgebrauch verursachten Veränderungen näher betrachten und selber die Möglichkeiten der Elektronik gemäß humanistischer Kriterien ebenfalls zielbewußt ausnützen.

Im elektronischen Zeitalter scheint sich der enge Zusammenhang zwischen Umgangssprache und Schriftsprache zu verwischen: die geschriebene Metapher wird von Bildern, Ikonen ersetzt, das Wort wird visuell ausgedrückt. In Wirklichkeit bewegen sich jedoch von den vier Grundverwendungen des Internet (lesen/schreiben, suchen/finden, senden/empfangen, spielen) wenigstens drei um einen geschriebenen Text, der mehr oder weniger mit Bild und Ton kombiniert ist.(1)

Der elektronische Hypertext, d.h. ein Text, oder besser eine Reihe von geschriebenen Texten und audiovisuell verknüpften "Dokumenten", bietet die Möglichkeit, Texte in all ihre Komponenten zu zerlegen, zu erforschen und wieder zu assemblieren. Das kann u.a. zu einem erneuerten Sprachbewußtsein führen, das die Sprache in einem erweiterten kulturellen Kontext sieht und sofort mit anderen Kontexten in Verbindung setzt. Die Wörter, die Sätze, die Sprache werden also nicht als isolierte Erscheinungen betrachtet, sondern als Ausdruck vielschichtiger, zeitlich und räumlich bestimmter Interaktionen. Gerade die Sprach- und Literaturwissenschaft hat seit Jahrzehnten Techniken und Verfahren entwickelt, um Texte als Hypertexte zu analysieren, zu erklären und zu verstehen, sie als Palimpseste zu sehen, und sich nicht mit einer oberflächlichen Betrachtung zu begnügen.

Die moderne Kulturwissenschaft vermittelt ein strukturorientiertes Wissen, das sehr nützlich sein kann, um netzverbundene Texte und Medienbotschaften zu entschlüsseln und bewerten. So entwickelt sich eine wechselseitige, fruchtbringende Beziehung: das elektronische Mittel kann kulturwissenschaftliche Theorien besser und praktisch veranschaulichen und diese können zu einem bewußten Umgang mit Sprache und Kommunikation führen. Eine weitere Aufgabe der Kulturwissenschaft wäre, das anscheinend verwirrende Sprachenbabel im Internet in ein produktives und gleichwertiges Zusammenwirken von Sprachen und Kulturen zu verwandeln. Die Verbreitung der Elektronik hat nicht nur zur Entstehung einer weltweiten Sprache geführt, die aus einer Mischung von Fachausdrücken, Ikonen, und aus dem Englischen übernommenen Wörtern besteht (2), sondern auch die Möglichkeit eines echten Polylogs gezeigt. Internationale Internet-Mitschreibeprojekte, weltweite wissenschaftliche online-Kooperationen, simultane online-Übersetzungen sind nur einige Beispiele, die Tendenzen einer uniformierten Sprache entgegenwirken.

Das Internet könnte zu einem multilinguistisch funktionierenden Raum werden, in dem eine Art Demokratie, d.h. Gleichberechtigung aller Nationalsprachen herrscht. Die linguistischen Identitäten könnten so bewahrt bleiben, ohne möglichen nationalistischen Missbrauch. Man kann Sprachen nicht "einbalsamieren". Gerade die Internetvernetzungen von Sprach- Bild- und Tondokumenten veranschaulichen die Mobilität der Sprachen, die gegenseitigen, grenzüberschreitenden Einflüsse und Übergänge zwischen Kulturen und Kommunikationsarten. So entwickeln sich neue Kultur- und Kommunikationsformen, so wie neue Sprach- und Literaturverfahren.

Eine Literatur in der Defensive, die die Konfrontation mit den neuen Medien vermeidet, trägt zu ihrer Isolierung bei. Es ist kein Zufall, daß viele auch schon etablierte SchriftstellerInnen, die Elektronik in ihre literarische Kommunikation vielfältig miteinbeziehen. Trotz Enttäuschungen, gescheiterter Projekte, technischer Schwierigkeiten wird weiter im Bereich der elektronischen Literatur experimentiert. Das bedeutet oft eine kritische Auseinandersetzung mit der Art und dem Sinn, heute Literatur zu machen und zu definieren. Sprachphänomene sind Ausdruck verschiedener Werte, die nicht nur aus reiner Botschaftsübermittlung und unmittelbarer Kommunikation bestehen.

Die Polysemie der Sprache findet im literarischen Text ihren besten Ausdruck; hier verflechten sich sprachliche und kulturelle Elemente ineinander. Dazu kommt der Genuß an der Lektüre. Es ist ein Vergnügen für Sinn und Geist, einen literarischen Text aufzunehmen, zu verstehen, ihn in Verbindung mit Menschen, Zuständen, Empfindungen, Orten, Epochen zu setzen. Der Sprach- und Literaturunterricht hat eine bildende und zugleich soziale Funktion: wer eine komplexe sprachliche und literarische Mitteilung zu lesen und deuten weiß, ist sicher gewappneter gegen die vielen, verwirrenden Botschaften der kommerziellen Werbung, gegen die gewaltsame, verführerische Sprache mancher Politiker, gegen die oft oberflächlichen, widerspruchsvollen, ungenauen, wenn nicht absichtlich gefälschten Texte der Medienwelt. Die Übermittlung von Sprachen, Literatur und Kultur sollte also nicht nur traditionsgemäße Bildungsübermittlung sein, sondern auch zu einer kritischen Haltung und einem "demokratischen Bewußtsein" führen.

Ist die fachspezifische Unterteilung zwischen Sprachen, Literatur und Kultur, die dadurch entstehende Begrenzung und Ausgrenzung vielleicht doch ein Mittel, um das kritische Potential der literarischen Kommunikation auszuschalten? Die Elektronik mit ihrem Drang zur Schnelligkeit und Knappheit scheint diesen Prozeß zu begünstigen. Gerade die Herausforderungen und Gefahren einer auf Computer und Fachspezialisten eingestellten Gesellschaft sollte die KulturwissenschafterInnen zu einem neuen Engagement anspornen. Diesbezüglich möchte ich kurz als Beispiel auf drei Bereiche hinweisen, die das Zusammenwirken von Sprachen, Literatur und Computerwelt betreffen.

Die Elektronik greift vornehmlich auf literarische Metaphern zurück, um sich eine Identität zu geben, um ein auf Chips und Binärcode basiertes Fachgebiet allgemein verständlich und verwendbar zu machen. Da die Verwendung von der einen oder anderen Metaphorik nicht zufällig ist - siehe die See- und Schiffsmetaphorik, die Städte- und Straßenmetaphorik, oder der Bezug zu klassischen, religiösen, literarischen Mythen - kann uns u.a. die Sprach- und Literaturwissenschaft dazu verhelfen, besser bestimmte Ziele und Ansichten zu verstehen und zu entlarven.

Zweitens ermöglicht die Elektronik bisher nur abstrakte Kunsttheorien und imaginäre Literaturpraktiken in die Praxis umzusetzen. Die Experimente von Internet-SchriftstellerInnen sollten Ansporn für die Literaturwissenschaft sein, ihre Theorien zu überdenken. In der Computerliteratur werden in der Tat Eigenschaften der modernen Literatur und Kriterien der Literaturwissenschaft noch weiter, oft bis zu extremen Konsequenzen entwickelt. Begriffe, wie offenes Kunstwerk, Tod des Autors, mobiles Kunstwerk oder Schreib- und Gestaltungstechniken, wie Work in Progress, Collage, Hypertextualität können mittels Elektronik und Internet ausgezeichnet veranschaulicht werden. Dem Spiel mit der Sprache kommt eine besondere Rolle zu. Die Dekodierung der Sprache in all ihren Komponenten, in ihrer Verwendung und Missbrauch, wird auf dem Computerbildschirm auf verschiedenen Ebenen dargestellt und die daraus entstehenden Sprach- und Literaturexperimente üben oft eine sozialkritische Funktion aus, die nicht zuletzt das Medium selbst, d.h. den Computer und das Internet und ihre Verwendung, betrifft.

Drittens ermöglichen die Elektronik und das Internet eine bisher unvorstellbare Verbreitung von literaturbezogenen Materialien und Informationen. So kann international eine künstlerische und wissenschaftliche Zusammenarbeit entstehen, die das traditionelle Bild vom weltfernen Literaten gänzlich umstürzt und neue sprach- und kulturübergreifende Perspektiven eröffnet. Der Einsatz neuer Medien im Fremdsprachen- und Literaturunterricht kann sicher das Erlernen einer Sprache erleichtern und direkte Kontakte auch bei räumlichen Entfernungen ermöglichen, wie dies die Anwendung des Internet im Landeskundeunterricht oder der Zugang zu aktuellen Dokumenten im Netz zeigt, sollte aber nicht zu einer "technischen Ornamentalisierung des Banalen" (3) und einer übermäßigen Verlinkung werden. Die bildende Funktion eines kritischen Umgangs mit Sprachen und Texten bleibt unentbehrlich, nicht zuletzt, um sich in der Informationsflut der globalisierten Welt besser zu orientieren.

© Alessandra Schininà (Catania)

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Verwendete und weiterführende Literatur:

(1) Vgl. Schininà, Alessandra : Literatur im Internet, in "TRANS" 9. Juni 2001, http://www.inst.at/trans/9Nr/schinina9.htm
(2 )Vgl. Weingarten, Rüdiger (Hrsg.): Sprachwandel durch Computer, Opladen 1997.
(3) In Simanowski, Roberto (Hrsg.): Text&Kritik: Digitale Literatur, München 2001.

For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Alessandra Schininà: Sprachen und Literatur im elektronischen Zeitalter. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 13/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/13Nr/schinina13.htm.


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