Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 13. Nr. September 2005

Interkultureller Hintergrund beim Lesen und Übersetzen von Canettis Autobiographie

Elena Viorel (Cluj)
[BIO]

 

  Nie werde ich das Geheimnis der Worte ergründen, der Sprachen untereinader, und wie die Worte verschiedener Sprachen einander beleben. (Canetti: Die Fliegenpein. Aufzeichnungen, 1992, S. 78)

 

1. Ein beharrliches Plädoyer für die deutsche Sprache

Die Suche nach dem Geheimnis der Worte und der Sprachen sowie der Einander- Belebung der Worte verschiedener Sprachen, um die Aufzeichnung von Canetti zu paraphrasieren, gehört meiner Meinung nach gleichermaßen zum Arbeitsapparat des Schriftstellers und des Übersetzers. Beide schöpfen aus dem unerschöpfbaren Material natürlicher Sprachen, indem sie sich freiwillig in den Dienst des dichterischen Schaffens stellen.

Durch seine polyglotte Erziehung wird Canetti, der neben der schriftstellerischen Tätigkeit zeitweilig auch übersetzt hat, nicht nur zum Hüter der Verwandlung, sondern auch zum Hüter der Sprachen und ihrer Kulturen, mit denen er sich im Laufe seines Lebens im Originalton oder mittels Übersetzungen auseinandergesetzt hat.

Bei der Begegnung mit den Büchern von Elias Canetti muß der Leser auf Multikulturelles und Multilinguales gefaßt sein. Durch die familiären Verhältnisse mußte Canetti von klein auf mehrere Kulturen durchwandern und in mehreren Kulturen aufwachsen. Es scheint so, als entzöge sich Canetti bewußt jedem Klischee, aber auch jeder bewährten Ordnung, als ob er als "Welt- und Kulturmensch" an einer jeder individuellen Ordnung überlegenen "Weltordnung" festhalten würde, die verschiedene Kulturen und die deutsche Sprache, seine "Wahlheimat", mit einschließt, auf deren Eroberung er sein Leben lang stolz war, in der er sich künstlerisch produziert, und von der er dezidiert behauptet:

"Die Sprache meines Geistes wird die deutsche bleiben, und zwar weil ich Jude bin. Was von dem auf jede Weise verheerten Land übrig bleibt, will ich als Jude in mir behüten. Auch ihr Schicksal ist meines; aber ich bringe noch ein allgemein menschliches Erbteil mit. Ich will ihrer Sprache zurückgeben, was ich ihr schulde. Ich will dazu beitragen, daß man ihnen für etwas Dank hat." schreibt Canetti 1944 in Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942- 1972.(1)

Auch anläßlich der Nobelpreis- Festlichkeit in Stockholm (1981) blieb der Literaturnobelpreisträger, Elias Canetti, seiner "Wundersprache" treu und hielt die Dankesrede in deutscher Sprache.

Es begann mit der Faszination jener Geheimsprache seiner Eltern, die er anfangs nicht verstehen durfte. Kurz nach der Übersiedlung nach Manchester wurde dann dem Sechsjährigen die Gunst erwiesen, einem von den Eltern gesungenen deutschen Lied, Das Grab auf der Heide, zuzuhören:

"Das Lied wurde mir erklärt, wohl hatte ich schon in Bulgarien Deutsch gehört und heimlich, ohne es zu verstehen, für mich nachgesprochen, aber dies war das erstemal, daß man mir etwas übersetzte, die ersten Worte Deutsch, die ich erlernte, entstammen Dem Grab auf der Heide."(2)

Die kulturelle Identität des späteren Schriftstellers erscheint als ein Resultat seiner großen Liebe für die in die Weltkultur eingebettete deutsche Sprache, eine schon früh erfolgte geistige Option. Daß dieser Entschluß für die damalige Zeit und für die Spaniolen seiner Familie keine Selbstverständlichkeit war, geht auch aus einem späteren Gespräch mit seinem Vetter, Bernhard Arditti, hervor, anläßlich jener letzten Reise nach Bulgarien (Sofia). Ardittis Mission war damals die Bekehrung der dort lebenden Spaniolen zum Zionismus und zur Auswanderung, einer damals brennenden Sache. Dazu notiert Canetti im zweiten Band seiner Autobiographie:

"Keinen einzigen Gegner seiner Sache traf ich, er sprach Spanisch zu ihnen und geißelte sie für ihren Hochmut, der sich auf diese Sprache gründete. Es war das alte Spanisch, dessen er sich bediente und ich erfuhr mit Staunen, daß es möglich war, in diesem, wie ich dachte, verkümmerten Kinder- und Küchenidiom von allgemeinen Dingen zu handeln..."(3) Von diesem Cousin schreibt Canetti weiter, daß er "auf seiner Seite war", daß er sich bis zu einem Punkt geistig mit ihm identifiziert hat; bei der Wahl der Schreibsprache aber waren sie sich plötzlich nicht mehr einig: "Aber es war klar, daß er auf meiner Seite war, und nur als ich sagte, daß ich Deutsch schreiben wolle, in keiner anderen Sprache, schüttelte er unmutig den Kopf und meinte: "Wozu? Lern Hebräisch! Das ist unsere Sprache. Glaubst du, daß es eine schönere Sprache gibt?"(4)

1937 bei Canettis Aufenthalt in Prag anläßlich der Übersetzung seines Romans Die Blendung ins Tschechische schreibt der auf alle Nuancen des Deutschen aufmerksame und mit den deutsch sprechenden Tschechen solidarisch fühlende Schriftsteller:

"Ich sprach aber mit vielen Menschen deutsch, ich sprach nichts anderes, und es waren Leute, die mit dieser Sprache bewußt und differenziert umgingen. Meist waren es Dichter, die deutsch schrieben, und daß diese Sprache, an der sie gegen den kraftvollen Hintergrund des Tschechischen festhielten, etwas anderes für sie bedeutete als für jene, die in Wien mit ihr operierten, war immer spürbar."(5)

Canetti solidarisiert sich mit dieser Kategorie von Schriftstellern, die außerhalb des deutschsprachigen Raumes Deutsch schrieben und, wie er selber, diese Sprache gegen den "Hintergrund" einer anderen oder mehrerer pflegten und um sie rangen. Genannt seien hier nur zwei seiner Hauptwerke, an denen er in London, nach seiner Emigration aus Wien, geschrieben hatte: Masse und Macht und Das Augenspiel.

Der deutschen Sprache und Kultur zollt Canetti sein Leben lang den größten Respekt, sie verteidigt er bei jeder Gelegenheit, von ihr läßt er sich verzaubern, so wie nur er sich überhaupt von Sprachen und Kulturen verzaubern lassen kann.(6)

 

2 . Im Dickicht der Sprachen und Kulturen

Im Falle von Canetti, eines innerhalb der europäischen Kultur sehr gebildeten Menschen, kann man von einer interkulturellen Veranlagung, und zugleich von einer erlebten Multikulturalität sprechen. Durch die Beherrschung mehrerer Kulturen, der jüdischen, deutschen, französischen und englischen gelangte Canetti zu einer transkulturellen Harmonie und wurde Mitte des 20. Jahrhunderts zur Verkörperung einer europäischen Identität deutscher Zunge. Das erschwert auch seine Eingliederung in eine bestimmte Nationalliteratur, er gehört einfach der deutschsprachigen Literatur an. Diese Öffnung zu den Weltkulturen spiegelt sich größtenteils in seiner Autobiographie, die sich dem Leser als ein typisches Beispiel für dieses Genre und prägend für sein dichterisches Schaffen erschließt, wieder. So unstetig Canettis Leben und also seine künstlerische Entwicklung verlief, so disparat stellt sich dem Leser auch sein in deutscher Sprache verfaßtes literarisches Werk dar, in welchem seine Autobiographie einen besonderen Platz einnimmt.

1905 in Rustschuk geboren, jüdisch- spanischer Abstammung, kam Canetti als Kind mit seinen Eltern nach England und lebte nach dem Tod seines Vaters mit der Mutter in Zürich, Frankfurt/ Main, wo er das Abitur machte, und Wien. 1938 emigrierte er aus Wien nach London. Die letzten Lebensjahre verbrachte er in Zürich.

Dadurch, daß Canetti im benachbarten Bulgarien geboren wurde, stellt er einen besonders interessanten Fall für den rumänischen Leser dar. Nicht zuletzt durch die rumänischen Tangenten: die rumänische Amme, die ihn als Kleinkind mit ihrer Muttermilch ernährt hat, die Schlittenfahrten im Winter nach Giurgiu, die Reise nach Brasov ( Kronstadt) in Siebenbürgen, wo Familie Canetti in einem Sommer ihre Ferien verbrachte oder die Reisen nach Wien, die durch dieselbe Stadt führten, wo Canettis Vater zeitweise eine deutsche Schule besucht hatte, und nicht zuletzt durch die Reisen nach Wien, mit dem Schiff die Donau aufwärts. Diese Berührungspunkte mit dem Territorium unseres Landes motivieren den Leser und wecken in ihm das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen geographischen Raum und das einer balkanischen Verwurzelung.(7)

Davon zeugt auch die frühe Rezeption seiner Bücher in Rumänien, nicht zuletzt durch Übersetzungen folgender Werke: Die Blendung, Die gerettete Zunge, Die Fackel im Ohr, Das Augenspiel, Die Provinz des Menschen, Die Stimmen von Marrakesch sowie die literaturkritischen Beiträge in rumänischen und deutschen Publikationen.

Zu bedenken ist auch die Existenz zwischen den beiden Weltkriegen einer relativ zahlreichen jüdischen Bevölkerung in Rumänien und einer großen Sephardenkolonie in Bukarest. Diese Tatsachen haben Canettis Übersetzer bei der Übertragung seiner Werke ins Rumänische mit Sicherheit auch in Betracht gezogen.

 

3. Die literarische Übersetzung als ein Akt interkulturellen Verstehens

In der Übersetzungswissenschaft spielt die Problematik interkulturellen Verstehens eine zentrale Rolle, und "in bezug auf die Rolle des Fremden als ästhetisches Mittel in Literatur und Theater muß natürlich besonders an Brechts Dialektik der Verfremdung (Verfremdungseffekt) erinnert werden."(8) Diese Bemerkungen eines Sprachdidaktikers weisen auf ein grundsätzliches Problem hin, das Übersetzer und Fremdsprachenlehrer aus eigener Erfahrung kennen: die ständige Konfrontation des Fremden mit dem Eigenen.

Canetti selbst hat eine Zeitlang als Broterwerb aus dem Englischen übersetzt; er äußert sich gelegentlich in seinen Aufzeichnungen auch zur interkulturellen Dimension des Übersetzungsprozesses, was mir nur als natürliche Folge seiner besonderen Lage als Mensch und Schriftsteller erscheint. Im Folgenden seien einige seiner Reflexionen bezüglich des Übersetzungsprozesses angeführt:

"Das Enttäuschende an den Sprachen: daß sie so verbindlich erscheinen, mit ihren Lauten und Worten und Regeln, und daß man dann beinahe dasselbe sagen kann, auf eine ganz andere Weise, in einer anderen Sprache.

Am Übersetzen ist nur interessant, was verloren geht; um dieses zu finden, sollte man manchmal übersetzen."(9)

Den Autor reizt das, was beim "Hinübersetzen" eines literarischen Textes in eine andere Sprache und Kultur verloren geht, und leidet buchstäblich unter dem, was der Übersetzer bei seinem Tanz in Ketten einbüßt oder einbüßen muß. Hierher gehört auch eine viel zitierte Metapher bezüglich der Übersetzungen aus Goethes "Maximen und Reflexionen":

"Übersetzer sind als geschäftige Kuppler anzusehen, die uns eine halbverschleierte Schöne als höchst liebenswürdig anpreisen: sie erregen eine unwiderstehliche Neigung nach dem Original."(10)

Der von einer schöpferischen Unruhe erfaßte Übersetzer, der zugleich als Koautor eines literarischen Werkes fungiert, da er es neu schreiben bzw. schaffen muß, sehnt sich immer wieder in Goethes wie Canettis Auffassung nach dem Original, vor allem nach dem durch Übersetzen Verlorenen, denn er weiß am besten darum Bescheid. In der Auffassung des rumänischen Dichter- Philosophen, Lucian Blaga, Zeitgenosse Canettis, wirkt beim literarischen Übersetzen ein Prinzip der "Kompensationen", nach dem Verluste an einer Stelle in der Zielsprache sich durch Gewinne an anderen ausgleichen lassen können. Als der Übersetzer von Goethes Faust ins Rumänische berichtet Blaga von solchen glücklichen Momenten, wo die Zielsprache ihm Formulierungen bot, die das Original zu übertreffen schienen.(11)

An einer anderen Stelle spricht Canetti dann über die "Nicht - Einsamkeit" des sich ständig in Begleitung des Autors befindenden Übersetzers, aber auch über dessen Grenzen beim Umgang mit dem ausgangssprachlichen Text:

"Der Übersetzer dringt in eine bekannte Sphäre ein. Alles um ihn ist wohl angebaut und er ist nie einsam. Er bewegt sich wie in einer Parklandschaft oder unter klar abgegrenzten Feldern. Worte wenden sich wie Leute an ihn und wünschen ihm einen guten Tag. Der Weg wird ihm gewiesen und er kann sich kaum verlieren. Er muß für wahr nehmen, was man ihm sagt und darf es nicht bezweifeln. Die Kraft des Durchschauens ist dem Übersetzer versagt. Er wäre ein Narr, wenn er hier sein Vertrauen verlöre. Alles Gelände ist von jeher wohlbezeichnet. "(12)

Infolgedessen soll der Übersetzer seine Phantasie im Zaum halten, seine Flügel verhelfen ihm nicht zum Fliegen, er steht vor einem vorgegebenen, vorgefaßten Text, den er dem Leser der Zielsprache erschließen und vermitteln soll und bei ihm, im Idealfall, den Anschein erwecken, als wäre dieser Text in seiner Sprache entstanden; in einem gewissen Sinne schwört er dem Autor Treue und muß sich dabei wie Ärzte, Psychologen oder Juristen der "Schweigepflicht" unterziehen. Dabei sollte er kulturelle Differenzen nicht glätten, sondern ruhig durchsickern lassen. Das Wetteifern mit dem Original ist ihm nur im Rahmen des Vorgegebenen gegönnt. Trotzdem setzt der Übersetzungsakt eine schöpferische Arbeit voraus, die von den oben zitierten Aussagen keinesfalls geleugnet wird.

Jeder Übersetzungsakt setzt bekanntlich nicht nur eine Übertragung aus einer Sprache in die andere voraus, sondern auch aus der Kultur der Ausgangssprache (AS) in die der Zielsprache (ZS). Daher ist die literarische Übersetzung zugleich als "sprachlicher und kultureller Transfer" eines Textes aus der AS in die ZS anzusehen:

"In der Übersetzungstheorie spielen nicht nur die Sprachen, die an diesem Prozeß teilnehmen (AS, ZS), sondern auch der kulturelle Hintergrund bzw. die Ausgangs- und Zielkultur (AK, ZK), und damit verbunden auch die Denkweisen, die mit der jeweiligen Kultur in Zusammenhang stehen, eine wichtige Rolle."(13)

Nicht immer läßt sich eine Verbindung zwischen der Ausgangs- und der Zielkultur (AK, ZK) herstellen, vor allem dann, wenn diese weit auseinander liegen. Aber da, wo sie existiert, sollte der Übersetzer sie fruchtbar machen und sie durch Anpassung transparent werden lassen. Deshalb sollte der Übersetzer auch in seiner Muttersprache (Zielsprache der Übersetzung) literarisch und kulturgeschichtlich gebildet sein. Denn eine literarische Übersetzung hat am meisten mit dem kulturellen Hintergund zu tun, "so daß die Tätigkeit des Übersetzers nicht nur intertextuell, sondern auch stark interkulturell bedingt ist."(14) Dieser kulturelle Hintergrund erweist sich bei Canetti per se als ein interkultureller, so daß man bei ihm von einer auf unterschiedliche Kultureinflüsse zurückzuführende inneren Interkulturalität sprechen kann.

Der rumänische Übersetzer von Canettis Autobiographie kann in seiner Kultur auf eine lange Tradition der Memoiren-Literatur zurückblicken. Erwähnen wir hier nur einige der wichtigsten Vertreter dieses Genres. Mitte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts: Ion Creanga mit seinen Amintiri din copilarie (Kindheitserinnerungen) ; Ion Slavici mit Lumea prin care am trecut und Inchisorile mele (Die Welt, die ich erlebte / Meine Gefängnisse); Nicolae Iorga : O viata de om, asa cum a fost(Ein Menschenleben, so wie es war) oder Das Journal von Liviu Rebreanu in drei Bänden.

 

4. Interlinguales und intratextuelles inneres Übersetzen

Unter interlingualem innere m Übersetzen verstehe ich die unbewußte Übertragung von in einer Ausgangssprache ersonnenen Gedanken in eine andere, Zielsprache. Konkret handelt es sich um eine Fremdsprache, die man als Kind um sich geh ö rt und verstanden, selbst nicht unbedingt gesprochen hat, und die sich automatisch in die spätere Kommunikationssprache des Erwachsenen übersetzt hat. Im Falle von Canetti handelt es sich um alles Bulgarische, das er als Kind in Rustschuk aufgenommen hat.

Unter intratextuellem Übersetzen ist ein von Canetti in seinem Werk selbst verwendetes Verfahren, besonders wichtige Ereignisse in der Originalsprache und zugleich in deutscher Übersetzung festzuhalten, zu verstehen.

Von einem interlingualen, zugleich interkulturellen inneren Übersetzen ist z. B. im Zusammenhang mit bulgarischen Märchen die Rede, die der Autor als Kleinkind in Bulgarisch gehört hat und als Erwachsener auf Deutsch auf der Stelle erkennt. Diese geheimnisvolle Übertragung, dieses wundersame Übersetzen ins Deutsche, erscheint dem Erwachsenen als etwas Einmaliges, als ein Wunder, worauf er mit kindlichem Erstaunen zurückblickt:

"Alle Ereignisse jener ersten Jahre spielten sich auf spanisch oder bulgarisch ab. Sie haben sich mir später zum größten Teil ins Deutsche übersetzt. Nur besonders dramatische Vorgänge, Mord und Totschlag sozusagen und die ärgsten Schrecken sind mir in ihrem spanischen Wortlaut geblieben, aber diese sehr genau und unzerstörbar. Alles übrige, also das meiste, und ganz besonders alles Bulgarische, wie die Märchen, trage ich deutsch im Kopf."(15)

Die Motivation dafür gibt uns der Autor selbst, indem er seine Betrachtungen darüber fortsetzt:

"Ich kann nur eines mit Sicherheit sagen: die Ereignisse jener Jahre sind mir in aller Kraft und Frische gegenwärtig - mehr als sechzig Jahre habe ich mich von ihnen genährt - , aber sie sind zum allergrößten Teil an Worte gebunden, die ich damals nicht kannte. Es scheint mir natürlich, sie jetzt niederzuschreiben, ich habe nicht das Gefühl, daß ich dabei etwas verändere oder entstelle. Es ist nicht wie die literarische Übersetzung eines Buches von einer Sprache in die andere, es ist eine Übersetzung, die sich von selbst im Unbewußten vollzogen hat..."(16)

Zwei- und Mehrsprachigkeit sowie Fremdkulturelles war Canetti von klein auf gewohnt und er will es auch seinen Lesern nicht vorenthalten, als ob er es geahnt hätte, daß im Zuge der Globalisierung und der Europäischen Integration kulturell Wertvolles verloren ginge. Deshalb macht er auch von einem intratextuellen inneren Übersetzen Gebrauch. Hier handelt es sich um ein von Canetti bewußt eingesetztes sprachlich- stilistisches Mittel, das die Lebendigkeit und Anschaulichkeit seiner Kindheitserinnerungen hervorheben soll. Er legt großen Wert auf das altspanische Idiom, das in seiner Familie und unter Spaniolen verwendet wurde und will den Leser auch mit dem Lautlichen vertraut machen, damit der interkulturelle Reiz bei der Beschreibung der Kindheitserinnerungen in einer anderen Sprache als der in der sie größtenteils erlebt wurden, nicht verloren geht. Dieses Canettische Verfahren trägt auch zur Wiedergabe des Lokalkolorits jener Periode bei.

Dem deutschen, aber auch dem fremdkulturell vertrauten Leser kommt Canetti auf diese Weise bewußt entgegen, vor allem im ersten Band seiner Autobiographie, Teil 1 Rustschuk (1905- 1911), wo er am Anfang, wenn von der Rustschuker Zeit die Rede ist, spanische Syntagmen in ihrem Wortlaut und in der deutschen Übersetzung in den Text einstreut:

"Ein eifriges und zugleich zärtliches Wort, das ich oft hörte, war la butica. So nannte man den Laden, das Geschäft, in dem der Großvater und seine Söhne den Tag zubrachten." (S. 11) . "Kako la gallinica!", "Kako das Hühnchen !" (S.13) nannte man "den zerschlagenen Idioten des Reviers"; Onkel Bucco, der älteste Bruder seines Vaters, pflegte die Hand auf den Kopf seines kleinen Neffen zu legen, und sagte jedes Mal: "Yo ti bendigo, Eliachicu, Amen!" - "Ich segnedich, kleiner Elias, Amen!" (S. 21). Die Großmutter Canetti "war immer zu Hause, sie ging nie aus, ich kann mich nicht erinnern, sie damals je außerhalb des Hauses gesehen zu haben. Sie hieß Laura und kam wie der Großvater aus Adrianopel. Er nannte sie Oro, was eigentlich Gold bedeutete, ich verstand nie ihren Namen." (S. 23). Das erste Kinderliedchen, das der kleine Elias lernte, hieß: "Manzanicas coloradas, las que vienen de Stambol" - "Äpfelchen rote, die kommen von Stambol" (S. 24). Mit der Formel: "Li beso las manos, Senor Padre!" - "Ich küsse ihre Hände, Herr Vater!" (S. 25) mußte der Enkelsohn wider seinen Willen den kränklichen Großvater Arditti begrüßen.

Vom Großvater Arditti wird auch berichtet, daß er das ihn betreffende unehrliche Urteil seiner Enkel auf der Stelle erkannte: "Da hob er drohend den Finger und rief, es war das einzige Laute, was ich je von ihm hörte: Falsu- Falscher!, wobei er den starken Ton auf dem a lange hinauszog, das Wort klang drohend und klagend zugleich, ich habe es im Ohr, als wäre ich gestern bei ihm zu Besuch gewesen." (S. 26). Ebenda: "Zu Hause erfuhr ich von der Cousine Laurica, daß der Großvater eifersüchtig sei, alle seine Enkel hätten den anderen Großvater lieber als ihn, und als größtes Geheimnis vertraute sie mir den Grund dafür an: er sei mizquin, geizig, aber das dürfe ich meiner Mutter nicht sagen. Großvater Canetti nannte Großvater Arditti einen Lügner: "Es mentiroso"- "Er ist ein Lügner" (S. 32).

Im Originalton hält Canetti auch seinen Gang in den Gartenhof mit einem Mordgesang auf den Lippen, als er in seiner frühen Kindheit kriminell an seiner Cousine handeln wollte: "Agora vo matar a Laurica! Agora vo matar aLaurica!" - "Jetzt werde ich Laurica töten! Jetzt werde ich Laurica töten!" (S. 39)

Die Sehnsucht nach seinem Vater, der sich damals für eine Zeitlang in England aufhielt, um den Umzug vorzubereiten, wurde noch größer nach jenem Verbrennungsunfall. "Statt vor Schmerzen zu stöhnen, schrie ich nach ihm, "Cuando viene? Cuando viene?" - "Wann kommt er? Wann kommt er?" (S. 42)

An den Tonfall des Spanischen, jener Umgangssprache seiner Kindheit in Rustschuk, erinnert sich Canetti gelegentlich auch im 2. Band seiner Autobiographie, als er nach langer Zeit seine Verwandten in Sofia besuchte. Von einem Onkel schreibt er: "Immer erwartete ich von ihm ein Ya basta! Es ist genug! zu hören" (Die Fackel im Ohr, S. 104).

Andere Male gibt er eine erläuternde, interpretierende Übersetzung, wenn er im Deutschen keine interkulturell adäquate Entsprechung findet: "Man sprach mit Respekt von ihm, weil er der Bucco war, das war der Ehrentitel des erstgeborenen Sohnes in jeder Familie" (Die gerettete Zunge, S. 21)

Von manchen spanischen Wörtern oder Syntagmen nimmt der Autor an, daß sie auch dem fremdkulturellen Leser verständlich sein dürften, und er läßt sie unübersetzt, etwa in der Episode mit den Zigeunern, die jeden Freitag an den jüdischen Häusern vorbeikamen: "Ich pflegte auf den Augenblick zu warten, da sie am Hoftor vorn zuerst erschienen, und lief, kaum hatte ich den blinden Alten erblickt, unter gellenden Rufen Zinganas! Zinganas! durch das lange Wohnzimmer und den noch längeren Korridor, der es mit der Küche verband, nach hinten." (Die gerettete Zunge, S. 19). Oder wenn er das Jammern der Mutter bei der Geburt seines mittleren Bruders beschreibt: "Das Jammern wurde lauter, ich hörte madre mia querida! madre mia querida!..." ( Die gerettete Zunge, S. 22).

In Manchester kam Canetti in die Schule von der er von Anfang an begeistert war und nicht weniger von seiner Banknachbarin Little Mary mit ihren roten Backen, in die er sich so verliebte, daß er zu Hause vor der Gouverna n te laut sang: "Little Mary is my sweetheart! Little Mary is my sweetheart! Little Mary is my sweetheart!" (Gerettete Zunge, S. 55) Diese Stelle wird aber nicht wortwörtlich übersetzt, sondern dem Kontextverständnis überlassen.

Im Zusammenhang mit dem Untergang der Titanic bemerkt Canetti weiter: "Aber das häufigste Wort, das ich hörte, war iceberg. Es prägte sich mir ein wie meadow und island, obwohl ich es nicht vom Vater hatte, das dritte engli s che Wort, das mir in Erinnerung blieb, das vierte war captain"(Ebenda, S. 59)

Im Originalton und in der deutschen Übersetzung stehen auch ein paar Brocken des Hebräischen, in deutscher Orthographie transkribiert, als sich der Autor an das Pessach- Ritual erinnert:

"Als der Jüngste hatte ich meine eigene, nicht unwichtige Funktion, ich mußte das Ma- nitschtanah sagen. Die Erzählung vom Ausgang aus Ägypten ist eingekleidet in die Frage nach dem Anlaß des Festes. Der jüngste der Anwesenden fragt gleich zu Beginn, was diese Vorrichtungen alle bedeuten..." (Ebenda, S. 31) Weiter heißt es: "Denn da kam das Schönste: die Männer standen alle plötzlich auf und tanzten ein wenig umher und sangen tanzend zusammen Had gadja, had gadja - ein Lämmlein, ein Lämmlein." (Ebenda, S. 31)

So erfahren wir auch die Geschichte des Schimpfwortes Haman: "Haman war das letzte Wort, ein Stoßseufzer, aber auch eine Beschimpfung. Ich war sehr erstaunt, als man mir ein wenig später erklärte, daß Haman ein böser Mann gewesen sei, der alle Juden töten wollte. Aber dank Mordechai und der Königin Esther war es ihm mißlungen und aus Freude darüber feierten die Juden Purim." (Ebenda, S. 27).

Diese im Spanischen, Englischen oder Hebräischen belassenen Syntagmen oder Zitate bilden aus interkultureller Sicht eine Bereicherung für den Leser, dem diese Zeit und diese Kulturen näher gebracht werden.

Die Situation wird sich ändern durch die Auswanderung nach Manchester, wo der Vater seine Mühe hatte, Englisch zu lernen und es auch mit seinen Kindern zu praktizieren. Das Spanische, das bis dahin seine Sprache gewesen war, trat in den Hintergrund und er hörte es nur noch von anderen, besonders älteren Verwandten.

 

5. Beispiele für Kulturtransfer beim Übersetzen der Canettischen Autobiographie

Des Weiteren wähle ich ein paar Passagen aus der Canettischen Autobiographie und weise auf einen sprachlichen bzw. kulturellen Transfer beim Übersetzen hin.

Spätestens seit Goethes Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1811- 1833) weiß man, daß Autobiographien besonderen Entstehungsbedingungen unterliegen und bestimmten Zwecken dienen. Diese können zwar sehr differieren, einen Anspruch aber erheben sie mit Sicherheit nicht: den der historiographischen Genauigkeit. Allerdings sind sie auch nicht nur private Selbstverständigung, denn sie wollen auch individuelle Welterfahrung für die Nachfolgenden verfügbar machen.

In unserem Zusammenhang ist interessant zu wissen, daß Canetti selbst seine Autobiographie nicht etwa für eine periphere, halbliterarische Arbeit hielt, sondern für die ihm einzig mögliche Weise, künstlerisch mit der Welt umzugehen.(17)

Canettis Lebenserinnerungen umfassen die Bücher Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend (1977; 1984 erschien die rumänische Übersetzung), Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921- 1931 (1980; 1986 rumänisch) und Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931- 1937 (1985; 1989 rumänisch)(18). Charakteristisch für alle drei Bände ist der weite Abbildbereich der Titel. Sie widerspiegeln sowohl ein jeweils konkretes und einschneidendes Erlebnis, charakterisieren außerdem eine ganze Entwicklungsphase im Leben Elias Canettis und markieren symbolisch einen wichtigen Wesenszug unterschiedlicher kulturell- historischer Situationen. So gesehen, ist es wichtig, in einem Werk, das Authentisches und Fiktives miteinander verbindet, das in seiner Dichtung Wahrheit sein will und in seiner Wahrheit Dichtung, daß der Übersetzer auf diese Strategie eingeht und daß er in der Zielsprache nach adäquaten Mitteln sucht, um die interkulturelle Dimension des Originals transparent zu machen.

Erinnern wir uns an die ersten Sätze der Geretteten Zunge:

"Meine früheste Erinnerung ist in Rot getaucht. Auf dem Arm eines Mädchens komme ich zu einer Tür heraus, der Boden vor mir ist rot, und zur Linken geht eine Treppe hinunter, die ebenso rot ist. Gegenüber von uns, in selber Höhe, öffnet sich eine Tür und ein lächelnder Mann tritt heraus, der freundlich auf mich zugeht. Er tritt ganz nahe an mich heran, bleibt stehen und sagt zu mir: Zeig die Zunge! Ich strecke die Zunge heraus, er greift in seine Tasche, zieht ein Taschenmesser hervor, öffnet es und führt die Klinge ganz nahe an meine Zunge heran. Er sagt: Jetzt schneiden wir ihm die Zunge ab."(19)

D iese frühe Kindheitserfahrung, die offenbar zu einem Trauma wurde, geht auf einen Karlsbader Aufenthalt der Eltern im Sommer 1907 zurück. Für den erst zweijährigen Elias war ein Kindermädchen aus Bulgarien mitgenommen worden, die nun ungewollt zur Mit- Agentin einer Episode wurde, die in ihrer makabren Symbolik namensgebend für das Buch "Die gerettete Zunge" wurde. Sie spielt auf den Brauch an, der im Balkanraum verwurzelt ist, die Kinder einzuschüchtern, um sie zum Gehorsam zu bringen, und bei den beiden Völkern, den Bulgaren und Rumänen, anzutreffen war (ist). Einem unartigen Kind, das etwa lügt oder lästert, wird im Rumänischen mit dem Syntagma "Der Pfarrer schneidet dir die Zunge ab" gedroht. Bei den Bulgaren fehlt anscheinend die Vogelscheuchenfigur, der Pfarrer, der angebliche Vollstrecker dieser barbarischen Drohung. Der Übersetzerin war sofort klar, daß der Leser in der Zielsprache diese Drohung der Erwachsenen den Kindern gegenüber aus seiner Kultur bereits kennt und daß sie durch Kulturtransfer auf den rumänischen Leser nicht so schockierend wirkt wie etwa auf den deutschen.

Außer in diesem Sinn rettet Canetti seine Zunge in seiner Kindheits- und Jugendzeit, die von einer geradezu "Babylonischen Sprachverwirrung" gekennzeichnet ist, noch folgendermaßen: Aufgewachsen ist er in einer Enklave spaniolischer Juden in Bulgarien, und in kurzen Abständen führten ihn Wohnsitzwechsel nach England, Österreich und in die Schweiz. Daher ist es leicht verständlich, daß unter dieser Voraussetzung die Bewahrung des Sprechenkönnens für Canetti von existentieller Bedeutung war.

Dadurch, daß im Rumänischen für Zunge und Sprache ein einziges Lexem limba existiert, ist der Titel durch die Übersetzung ins Rumänische nicht eindeutig: Limba salvata. Diese Ambiguit ät ist aber auch im Original enthalten, wo Zunge auch stellvertretend für Sprache steht. Es war das Schweigen, das dem kleinen Elias die Zunge rettete - ein Schweigen, das de facto den Übergang von tiefster Verängstigung zu Komplizenschaft besser als jede sozio- psychologische Abhandlung sinnfällig zu machen in der Lage ist. Die Geschichte dieser einmalig erlebten kindlichen Gefahrensituation symbolisiert natürlich in erster Linie auch die latente Gefährdung der menschlichsten aller menschlichen Fähigkeiten, der Sprache.(20)

Darüber hinaus symbolisiert die gerettete Zunge die fortgesetzte Benutzung der deutschen Sprache durch ihn als Juden trotz der Erfahrung des Faschismus in Deutschland, denn "Die gerettete Zunge" repräsentiert sowohl ein Kindheitstrauma als auch die Rettung in die "Arche" der deutschen Sprache, der durch die Mutter vermittelte Existenzform seines Denkens und Schreibens. In allen drei Bänden der Autobiographie fühlt sich Canetti veranlaßt zu beschreiben, wie er diese Sprache unter Schmerzen erwarb und sie bewahrte als seine, im wörtlichen Sinne, Mutter- Sprache.

Dieser komplexen Problematik des "Zungen- und Sprachenrettens" wird die Übersetzung trotz des Fehlens einer genauen lexikalischen Entsprechung im Rumänischen durchaus gerecht.

Der Titel Die Fackel im Ohr bezeichnet, analog zur eben gekennzeichneten Struktur, zunächst Canettis wichtigen Lehrer, den Herausgeber und später alleinigen Autor der Zeitschrift Die Fackel, Karl Kraus. Der Titel ist aber ebenso Sinnbild sowohl der Jahre intensiven Lernens (also Zuhörens) als auch des Zuhörens als einer Voraussetzung humanistischer Toleranz gegenüber fremder Kultur und Lebensweise. Für das Lexem lateinischer Herkunft Fackel gibt es im Rumänischen zwei form- und semantischverwandte ebenfalls aus dem Lateinischen stammenden Lexeme: faclie und facla. In der Übersetzung habe ich facla gewählt, natürlich nicht zufällig, sondern bewußt, weil mir hier die Kultur der Zielsprache Analoges geboten hat, nämlich die von N. D. Cocea herausgegebene Zeitschrift Facla. Es handelt sich um eine demokratisch und fortschrittlich orientierte Wochenzeitschrift für Kultur, Politik, Wirtschaft, die mit wenigen Unterbrechungen in Bukarest zwischen 1910 und 1940 erschienen ist. Hier haben bekannte rumänische Schriftsteller und Literaturkritiker veröffentlicht: N. D. Cocea, Ion Vinea, Tudor Arghezi, aber auch Emil Isac, Camil Petrescu, Mihail Sadoveanu oder Miron- Radu Praschivescu. Das Verdienst dieser Zeitschrift war u. a., dass sie das Pamphlet zu einer literarischen Gattung erhob und während drei Jahrzehnten für Demokratie, soziale und nationale Freiheit und gegen den Faschismus und die recht s orientierte Ideologie angekämpft hat. Noch ein Beweis dafür, dass der Übersetzer ein guter Kenner beider Kulturen sein muss, um seiner Vermittlerrolle entsprechen zu können.(21)

Der Titel des dritten Bandes Das Augenspiel bezieht sich zum einen vorerst wieder auf eine konkrete Begebenheit aus Canettis Leben, nämlich auf die Faszination, die die Augen der Bildhauerin Anna Mahler, der Tochter des Komponisten Gustav Mahler, auf ihn ausübten. Diese Augen und ihr Spiel werden immer wieder zum Gegenstand seiner Schilderung.

Diese konkrete Erfahrung ist für den dritten Teil der Lebensgeschichte insofern symptomatisch, als nunmehr der visuellen Wahrnehmung Aufmerksamkeit gewidmet wird. Es ist, als seien dem Autor die Augen geöffnet worden. Andererseits vermag das Augenspiel Personen zu charakterisieren, wenn die Sprache versagt. Auch die an manchen Stellen dieses Bandes erkennbare Sprachnot des Autors macht seine Aufmerksamkeit für das stumme, vielsagende Spiel der Augen verständlich. Die Übersetzung ins Rumänische erfolgt durch das Syntagma Jocul privirilor, wobei das anatomische Organ, das Auge, durch seine Funktion, den Blick, ersetzt wird. Dem synthetischen Sprachbau des Deutschen entspricht ein analytischer im Rumänischen, wobei der Genitiv Plural auch durch eine Präpositionalfügung din privire / din priviri hätte übersetzt werden können. Als Varianten für den Titel hatte ich Joc din privire / Joc din priviri.

Der Leser der Zielsprache, des Rumänischen, erkennt im Canettischen Text manche balkanischen Sitten und Bräuche, aber auch Aberglauben, und vor allem den Bulgaren und Rumänen gemeinsame Mentalitäten.

Ein mit Lebensangst verbundener Brauch, der den zwei Kulturen, der bulgarischen und der rumänischen, gemeinsam war, bezieht sich auf die Einschüchterung der Kleinkinder damit, daß sie von Zigeunern gestohlen und in den Sack gesteckt werden, etwa "Wenn du nicht brav bist, kommt der Zigeuner und steckt dich in den Sack." Solche Formeln, gegen alle Prinzipien der modernen Pädagogik verstoßend, sind bis heute noch nicht total ausgestorben:

"Ich nehme an, es waren die Mädchen, die mir an den langen Abenden im Dunkel auf dem Sofa von den Zigeunern erzählt hatten. Ich dachte daran, daß sie Kinder stehlen, und war überzeugt davon, daß sie es auf mich abgesehen hatten... Ich wunderte mich, wie freundlich sie zu ihren Kindern waren, gar nicht wie böse Kinderräuber. Aber an meinem Schrecken vor ihnen änderte das nichts."(22)

Wieder ein Trauma, das sich aber diesmal mit einem Zeremoniell verknüpft, mit dem der wandernden Zigeuner, die am Vorabend des Sabbats, an Freitagen, an den jüdischen Häusern vorbeikamen, um beschenkt zu werden. Unwillkürlich denken vor allem ältere Semester an die eigene Kindheit zurück, nicht in Bulgarien, sondern im benachbarten Rumänien, wo die Zigeuner vor allem zu Feiertagen ähnlich verfuhren.

Ein anderer gemeinsamer Brauch ist die Begrüßung von Eltern, älteren Verwandten oder hoch Angesehenen mit: "Küss die Hand!" / "Sărut- mâna"."Li beso las manos, Senor Padre! /Ich küsse Ihnen die Hände, Herr Vater. Dann schob sie mich vor, ich mochte ihn nicht und ich mußte ihm die Hand küssen".(23) Der rumänische Leser erkennt den Brauch gleich wieder aus seiner Sprache und Kultur, wo Anfang des 20. Jhs. der Umgang der Kinder mit ihren Eltern, Großeltern oder den Kindern überlegenen Erwachsenen ähnlich verlief, aber auch aus der benachbarten österreichisch- ungarischen Monarchie.

Eifriges Erlernen von Fremdsprachen von klein auf galt sowohl im damaligen Rustschuk als auch in Rumänien als ein Zeichen guter Erziehung der Kinder, aber auch als eine Garantie für deren weiteren Erfolg im Leben:

"Es war oft von Sprachen die Rede, sieben oder acht verschiedene wurden allein in unserer Stadt gesprochen, etwas davon verstand jeder, nur die kleinen Mädchen, die von den Dörfern kamen, konnten Bulgarisch allein und galten deshalb als dumm. Jeder zählte die Sprachen auf, die er kannte, es war wichtig, viele von ihnen zu beherrschen, man konnte durch ihre Kenntnis sich selbst oder anderen Menschen das Leben retten."(24)

In der kleinen bulgarischen Stadt lebten am Anfang des 20. Jahrhunderts Bulgaren, Griechen, Türken, Albaner, Armenier, Russen, Zigeuner nicht gerade wie in Noahs Arche, im Wesentlichen aber doch friedlich mit oder neben einander. Die "Spaniolen"(das waren die in der frühen Neuzeit aus Spanien vertriebenen "sephardischen" Juden, zu denen auch die Familie der Canettis gehörte) hatten ihr eigenes Viertel, welches in Rustschuk an das türkische Viertel angrenzte. Und hier in Rustschuk war es, daß Canetti mit einer erstaunlich früh in sich aufgenommenen sprachlichen Vielfalt auch eine erste Schule von Sprachtoleranz empfing. Es war selbstverständlich, daß man mehrere Sprachen konnte und danach trachtete, sie zu verstehen und zu erlernen.(25) Das führte dazu, daß dem zukünftigen Schriftsteller jede ethnozentrische Sichtweise fremd und verhaßt blieb.

Das Leben im patriarchalischen Rustschuk war auch dadurch gekennzeichnet, dass die Spaniolen viel davon hielten, ihren Kindern von klein auf Fremdsprachenunterricht zu geben oder sie in fremde Sprachen einzuweisen. Fremdsprachen spielten hier eine viel größere Rolle als später in Manchester oder Wien. Der Kampf, um den anderen zu verstehen ist an Sprachen gebunden und repräsentierte für Canetti eine Möglichkeit "die Angst vor dem Anderen" zu exorzisieren.

Fremdsprachen waren für kleinere Nationen und Sprachgemeinschaften eine Selbstverständlichkeit, die dadurch den Anschluss an die Weltkultur suchten und sind es noch geblieben.

Jene polyglotte Selbstverständlichkeit der Spaniolen hatte ihre Wurzeln im Osmanisch- Altösterreichischen und erst dann im Jüdischen.(26) Die frühe Einweisung der Kinder in Fremdsprachen gilt auch für die Situation im damaligen Rumänien und hat sich bis heute perpetuiert.

 

6. Schlußbemerkungen

Durch die Beherrschung unterschiedlicher Sprachen und Kulturen wird Canetti zum Inbegriff eines interkulturell veranlagten Schriftstellers. Aufgabe seiner Übersetzer wäre demnach nicht nur die Wiedergabe des Textes, sondern auch seine innere Interkulturalität "herüberzuretten". In Canettis autobiographischem Werk kann man von einer Art inneren Interkulturalität sprechen, die ihn ausmacht und die den fremdkulturellen Leser anzieht.

Das teilweise unbewußte Erbe von Canettis Kindheit, das weiter überlebt hat und in der Autobiographie einen soliden Kulturhintergund abgibt, ist an mehrere Sprachen und Kulturen, sogar an "Worte", gebunden. Auch wenn manche dieser Sprachen, wie z. B. das Bulgarische, verloren gegangen sind, sind dank jenen geheimnisvollen Übersetzungsprozesses Hauptbegriffe davon in der Sprache seines Lesens und Schreibens von Literatur, im Deutschen, erhalten und aufbewahrt geblieben.

Die in der Autobiographie oft vorkommende Balkan- Kulturlandschaft bietet dem rumänischen Leser der Übersetzung Vertrautes an.

© Elena Viorel (Cluj)

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ANMERKUNGEN

(1) Fischer, Taschenbuch Verlag, 1973, S. 62.

(2) Elias Canetti: Die gerettete Zunge. Fischer Taschenbuch Verlag, 1979, S. 52.

(3) Elias Canetti: Die Fackel im Ohr .Carl Hanser Verlag München, 1980, S. 106.

(4) Ebenda, S. 108.

(5) Elias Canetti: Das Augenspiel.Carl Hanser Verlag München 1985, S. 341.

(6) Vgl. auch die Stelle im Augenspiel, wo Canetti dem jungen Schriftsteller H. G. Adler in Prag begegnet und sich von diesem für eine Weile gern trennt, um auf der Straße der unbekannten tschechischen Sprache zu lauschen:

     "Er spürte aber auch, wieviel es mir bedeutete, allein zu hören, Menschen, die verschiedensten Menschen, in einer Sprache reden zu hören, die ich nicht verstand, ohne daß mir gleich übersetzt würde, was sie sagten. Das mußte für ihn etwas Neues sein, daß jemand auf die Nachwirkung unverstandener Worte aus war..." (a.a.O.,S. 342).

(7) Die genannten Berührungspunkte mit dem Territorium unseres Landes sind im ersten Band der Canettischen Autobiographie anzutreffen.

(8) Vgl. Jörg Roche: Interkulturelle Sprachdidaktik .Gunter Narr Verlag Tübingen, 2001, S. 3f.

(9) Vgl. Elias Canetti: Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942- 1972, S. 114.

(10) Goethes Werke, Berliner Ausgabe, Bd. 18, S. 518.

(11) Lucian Blaga: Cum am tradus pe "Faust. In: "Steaua", 5/1957, S. 89.

(12)Die Provinz des Menschen, S. 216.

(13) Vgl dazu Mihai Draganovici: Die literarische Übersetzung als sprachlicher und kultureller Transfer. Einige Überlegungen. In: Zeitschrift der Germanisten Rumäniens, Heft 1-2 (13- 14), 7. Jg., PAIDEIA- Verlag, 1998, S. 284.

(14) Ebenda, S. 285. Der Autor zitiert a.a.O.in diesem Zusammenhang Peter Zima, für den die literarische Übersetzung "der fremde Text der AS, der im Rahmen einer besonderen kulturellen und sozio- linguistischen Situation durch den Übersetzer in der ZS rekonstruiert wird" ist.

(15)Die gerettete Zunge, S. 15.

(16) Ebenda, S. 16. Derselbe Sachverhalt kommt auch in einer Aufzeichnung zum Ausdruck: "Übertragung von Gedanken, mit denen man sich mehr als zwanzig Jahre befaßt hat, in eine andere Sprache. Ihre Unzufriedenheit, weil sie nicht in dieser Sprache entstanden sind. Ihre Kühnheit erlischt, sie weigern sich auszustrahlen. Sie schleppen Nichtzugehöriges hinter sich her und lassen Wichtiges auf dem Wege fallen. Sie erbleichen, sie ändern ihre Farbe. Sie kommen sich feig und vorsichtig vor, der Winkel, unter dem sie ursprünglich einfielen, ist ihnen verloren. Sie hatten den Flug von Raubvögeln, nun flattern sie wie Fledermäuse. Ihr Lauf war der von Geparden, nun kriechen sie daher wie Blindschleichen.Demütigend zu denken, daß sie in eben dieser Reduktion, dieser Mäßigung und Entmannung eher Verständnis finden werden!" Vgl. Die Provinz des Menschen, S. 216.

(17) Vgl. hierfür auch das Vorwort von Wolfgang Gabler, in der Übersetzung von Elena Viorel, zum dritten Band der Autobiographie: Jocul privirilor, Dacia- Verlag 1989, S. 7f.

(18) Die drei Memoiren- Bände sind im Dacia- Verlag Cluj- Napoca in der Übersetzung von Elena Viorel erschienen.

(19)Die gerettete Zunge, S. 7.

(20) Vgl. auch Elena Viorel: Stationen eines Lebens zwischen Orient und Okzident. Die Sprache als Lebensform bei Elias CANETTI.. In: Fassel, H. und Waack, Ch. (Hrsg.): Regionen im östlichen Europa - Kontinuitäten, Zäsuren und Perspektiven (Tübinger Geographische Hefte), Heft 128, 2000, S. 238f.

(21) Vgl. I. Hangiu: Dictionar al presei literare romanesti (1790- 1982), Editura Stiintifica si Enciclopedica, Bucuresti, 1987, S. 127.

(22)Die gerettete Zunge, S. 19.

(23) Ebenda, S. 25.

(24) Ebenda, S. 37.

(25) Vgl. dazu auch E. Viorel a.a.O., S. 239

(26) Vgl. auch Ilse Leitenberger: Elias Canettis Geschichte einer Jugend. In der Arche der Sprache für immer daheim. In: "Die Presse", Wien, 19.3. 1977, S. 21.


Elena Viorel (Cluj): Interkultureller Hintergrund beim Lesen und Übersetzen von Canettis Autobiographie. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 13/2002.
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