Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 13. Nr. Juni 2002

Das Elend der Welt im Val-de-Nulle-Part

Tahar Ben Jellouns Erzählung Les raisins de la galère

Daniel Winkler (Paris)


Dokumentarische Aspekte aus Biographie und Werk
Dokumentarische Qualitäten des roman-récit Les raisins de la galère
Die orale Ästhetik Ben Jellouns
Der Paratext als Schlüssel zum Text
La misère du monde: Dokumentarische Form und Ästhetik
Palimpseststruktur und Gattungszuschreibung
Une Arabe qui n´est pas arabe ...
Eine Familienchronik der Immigration: Großvater - Vater - Enkelin
Das Scheitern der Integration des Vaters
Entwurzelter Vater, politisierte Tochter
Flucht vor der kollektiven Identität: Arioule v/s génération beur
Der Val-de-Nulle-Part
Resümee
Literaturverzeichnis


Dokumentarische Aspekte aus Biographie und Werk

Nach seinem Philosophie-Studium in Rabat und drei Jahren Lehrtätigkeit in Tetouan und Casablanca ist der aus Fes gebürtige Tahar Ben Jelloun 1971 im Alter von 33 Jahren nach Paris emigriert, wo er als Sozialpsychiater mit ImmigrantInnen gearbeitet hat. Heute ist er einer der erfolgreichsten und auflagenstärkste Autoren des Maghreb, zudem Journalist und Menschenrechtler. Er lebt heute die eine Hälfte des Jahres im marokkanischen Tanger, die andere in Paris, als im wörtlichen Sinn zwischen zwei Kulturen.
Tahar Ben Jelloun ist so zwar weder wie seine Protagonistin und Ich-Erzählerin, die Beurette Nadia, aus deren Perspektive über die fiktive Banlieue-Siedlung namens Resteville berichtet wird, ein EinwandererInnenkind noch als Intellektueller wie deren Vater ein typischer Arbeitsimmigrant, aber er hat sehr wohl selbst die Erfahrung des Exils im Zuge der Dekolonialisierung Marokkos durchlebt. (Röhrig 1999: 163.)

Seine Abschlußarbeit, die später unter dem Titel La plus haute des solitudes (1977) publiziert wurde, beschäftigt sich mit der Situation maghrebinischer ImmigrantInnen in Frankreich. Basis dafür waren Beratungsgespräche mit ImmigrantInnen, die er im Rahmen seiner Ausbildung in der Pariser Banlieue drei Jahre lang durchgeführt hat. Für Le Monde und andere internationale Zeitungen hat er regelmäßig über den Maghreb geschrieben. Aber auch seine literarischen Werke beschäftigen sich vornehmlich mit der Situation von EinwandererInnen, wie z.B. La réclusion solitaire (1973), sein erster längerer literarischer Text, ein Roman, der die Geschichte eines in Frankreich entwurzelten und vereinsamten Einwanderers erzählt. Spiller zufolge basiert diese Geschichte wesentlich auf den Analysen seiner Dissertation, ihm zufolge bilden beide Werke eine Einheit. Ähnlich verhält es sich generell zwischen den literarischen und wissenschaftlichen, essaiistischen und journalistischen Texten Ben Jellouns, in denen oft eine literarische Ästhetik neben einem dokumentarischem Handlungsgerüst steht.(1)

So stehen der traditionalistische Maghreb, die Frage der Menschenrechte, die Thematik der Arbeitsimmigration, der psychische Integrationsprozeß sowie die (resignative) Erkenntnis, dass es kein Zurück mehr in die maghrebinische Heimatkultur gibt, eine wirkliche Integration in das von Rassismus geprägte Frankreich zumindest für die Elterngeneration auch kaum möglich ist. Laut Spiller sind alle seine Texte, ob schwerpunktmäßig literarisch oder dokumentarisch, durch ein großes gemeinsames Anliegen geprägt, die Menschenwürde, die in der Thematisierung der Integration und Immigration in/nach Europa und Ben Jellouns Selbstverständnis als literarischer Stimme der "Sprachlosen" ihren Ausdruck findet. (Spiller 1998: 1-12; Spiller 1999: 148-161.) Ben Jelloun "berichtet" in seinen Werken so zwar aus der ImmigrantInnenperspektive, aber er vermittelt gleichzeitig, v.a. in den neueren Texten, über die Identität seiner Protagonistinnen wesentliche valeurs républicaines. Allen voran sind dies die (theoretischen) Grundprinzipien der französischen Demokratie, insbesondere die égalité und die Menschenrechte. Sein aufklärerischer Universalismus (Spiller 1999: 155) enthält aber gleichzeitig eine klare Kritik an der Immigrations- und Integrationspraxis Frankreichs sowie dem Rassismus. Diesen Diskriminierungsformen setzt er die orientalische Gastfreundschaft und eine generelle Menschenwürde entgegen.(2)


Dokumentarische Qualitäten des roman-récit Les raisins de la galère

Schon der Titel, der auf John Steinbecks Roman Grapes of Wrath von 1939 anspielt, gibt über diesen intertextuellen Verweis eine prägnante Inhaltsangabe. Analog zu Steinbeck handelt der Roman über eine Person, die trotz widriger Umstände ihren Weg macht. Die beiden Titel zusammengenommen lassen einen zornigen und bitteren Bericht über das Schicksal der ArbeitsimmigratInnen vermuten. Im Zentrum steht aber die nächste Generation. Denn Ben Jelloun hat den Roman als Ich-Erzählung und (fiktive/s) Bekenntnisschrift oder Tagebuch der Protagonistin Nadia, einer in Frankreich sozialisierten Jugendlichen algerischer Herkunft, angelegt. Durch die Technik der cross gender narration ergibt sich fast von selbst eine kritische Sicht nicht nur auf die Ausbeutung der ArbeitsimmigrantInnen durch die französische Industrie, sondern ebenso auf das eigene Milieu, die traditionalistische bis fundamentalistische Männerwelt der Banlieue von Resteville. Sie dient ihr als abschreckendes Beispiel: Ihre Brüder, die es nicht schaffen, sich emporzuarbeiten und sich in die französische Gesellschaft zu integrieren, ihr machistischer Schwager sowie ein Cousin, der bei den Fundamentalisten landet und ihre Mutter, die sich über ihren Aberglauben von den hiesigen gesellschaftlichen Realitäten abschottet. Nadia schafft trotz dieser Umgebung mit Hilfe ihres aufgeklärten, aber zurückgezogen lebenden Vaters den Anschluß an die französische Gesellschaft. Sie lebt selbstbestimmt und rebelliert gegen rassistische Diskriminierungen einerseits und religiöse Unterdrückung andererseits.

Der Verweis auf Steinbecks Titel charakterisiert aber ebenso den realistischen Stil des Romans. Die lineare Ich-Erzählung Nadias, die im Sinne von Ben Jellouns Innenperspektive eine klare Blickweise auf die Banlieue vorgibt, wirkt zuweilen wie ein langer innerer Monolog. Neben den Erlebnissen, Beobachtungen und Reflexionen Nadias enthält der Text Portraits von BewohnerInnen, die zu einem Gutteil aus Zitaten bestehen, die aus der Perspektive Nadias kommentiert und verbunden werden. Ebenso sind andere Textfragmente wie Briefe, die Nadia erhalten hat, Tagebuchaufzeichnungen oder lange Zitate und Dialoge anderer Charaktere, die z.T. eigenständige Geschichten darstellen, in die Bekenntnissschriftästhetik integriert. All diese Elemente werden über die Erzählung Nadias, die zwar weitgehend chronologisch, aber assoziativ über das Leben der génération beur, also der Kinder der ArbeitsemigrantInnen in der Banlieue von Resteville berichtet, zusammengehalten. So unterstützen diese Versatzstücke zwar teils den Fortgang der Handlung und die Spannung durch das Hinzufügen anderer Perspektiven, insgesamt verleihen diese Durchbrechungen der fiktiven Bekenntnisschrift Nadias aber eine intertextuelle und dokumentarische Ästhetik. Spillers Feststellung für Les yeux baissés, dass diese Ästhetik eine formale Entsprechung für den inhaltlichen Identitätskonflikt ist, kann so auf Les raisins de la galère übertragen werden:

Das Romanschema ist durchdrungen von dem der orientalischen Erzählung. Die Spannungen zwischen Fiktion und Biographie äußern sich in der Einflechtung von Tagebuch, Brief und Bekenntnis. Entscheidend dabei ist, daß die Protagonistin den Status der Erzählerin erhält und ihren eigenen Standpunkt zwischen Entwurzelung und Akkulturation darstellen kann. (Spiller 1998: 13.)


Die orale Ästhetik Ben Jellouns

Der Roman erzählt vom Heranwachsen der Beurette Nadia, von ihren Erlebnisse sowie Reflexionen über die Banlieue Resteville und den Aufenthalte in Algerien und Italien. Die fiktive Erzählung Nadias verweist nicht nur über die assoziative Form und Verweise auf reale Orte, Institutionen und Personen (Tizi Ouzou, SOS-Racisme, Cheb Rami (Ben Jelloun 1999: 10, 105, 146.)), sondern erzeugt auch über sprachliche Anlehnungen an die Mündlichkeit Realitätseffekte. Das Vokabular enthält viele Termini, die um das Milieu der Banlieue und die Immigration kreisen (le bled, la zone, la cité de transit (Ben Jelloun 1999: 10, 14.)), so auch einige arabische Wörter (la baraka (Glück), le marabout (weiser islamischer Einsiedler), la djellaba (Kapuzenmantel) (Ben Jelloun 1999: 22, 31, 52, 54.)). Wesentlich auffälliger sind aber Elemente der Banlieuesprache, der Umgangssprache der Jugendlichen mit Merkmalen wie unvollständigen Sätzen und einzelnen Vokabeln, die dem français populaire oder familier entstammen. Deutlich wird das besonders in Passagen der Ich-Erzählung, in denen mit "Zitaten" angereicherte Portraits von BewohnerInnen der HLM-Siedlung (=habitation à loyer modéré, etwa Sozialwohnung; der Begriff symbolisiert aber v.a. die für viele Vorstädte typischen, schnell und billig errichteten Wohnsiedlungen, die zum Inbegriff für soziale und kulturelle Konflikte geworden sind) in den Monolog eingebaut sind. Sie heben sich deutlich von der eher normierten Sprache der Protagonistin, die klassisch literarische Kennzeichen wie den passé simple aber auch Ausdrücke der oben skizzierten Sprachkategorien aufweist, ab; so wird auch eine inhaltliche Aussage getroffen.

Denn Nadia, die sich von ihrer Herkunft und ihrem Beur-Milieu eben nicht nur sprachlich abgrenzt, beschreitet erfolgreich den Integrationskurs, die anderen Charaktere sind zu einem typischen Banlieueschicksal verdammt. Diese sprachlichen Mischungen und Zuordnungen verleihen dem Bericht Nadias noch mehr Glaubwürdigkeit, indem sie eine dem Milieu und den Charakteren entsprechende Sprache wiedergeben, die, wie bereits in dem Zitat von Spiller angemerkt, auch die gespaltene Identität der EinwandererInnen wiedergeben.

Das sich über viereinhalb Seiten erstreckende Portrait des 13jährigen Rezki ist hierfür ein Beispiel. In seinem Bericht, der durch Erläuterungen der Erzählerin immer wieder ergänzt wird, erzählt er sein Leben als banlieusard. Er gehört einer Bande an, die eine Kasse im Rathaus von Resteville geklaut hat, aber dabei erwischt wurde. So schildert er nicht nur seine generelle Sicht auf das Leben, sondern rechtfertigt über seine Träume auch seine Tat. Entsprechend der intertextuellen Ästhetik der Ich-Erzählung weist diese Passage einen deutlichen dokumentarischen Charakter auf, was stark mit der Sprachwahl zusammenhängt. Der zitierte Ausschnitt wirkt wie einem Interview entnommen, mensch ist sich nicht schlüssig, ob Rezki sich an die Protagonistin oder die LeserInnenschaft wendet:

" [...] T´as une clope? Interdit. OK. Interdit. Et pisser, c´est interdit? T´as vu ma gueule? Pas confiance. J´ ai des cicatrices. Tu les vois pas? Normal, sont à l´intérieur. Si tu grattes, tu les trouveras. J´en fais pas une maladie. On m´a toujours dit: T´as une sale gueule. Les Arabes ont des gueules, de sales gueules. Mais ils peuvent pas se la refaire, comme Michael Jackson. Prince aussi a une sale gueule, mais il est pourri de fric. C´est ce que je voudrais. Pour le moment je suis pourri, mais sans fric. J´ai un plan: en sortant d´ici, je prendrai un bateau, un très grand paquebot pour aller loin, le plus loin possible de Resteville. Quand elle me verra en uniforme, Agnès m´épousera..." (Ben Jelloun 1996: 41-42.)

Der Paratext als Schlüssel zum Text

Neben dieser oralen Ästhetik gibt es in Text und Paratext(3) aber auch Verweise auf ganz reale dokumentarische Quellen. In einer Art Danksagung (Ben Jelloun 1996: 137.), die im Anschluß an den Romantext abgedruckt ist, nennt Ben Jelloun einen soziologischen Bericht, dessen Titel er auch für seinen literarischen Text, den er hier récit und nicht wie im Untertitel roman nennt, gewählt hat. Er richtet die Dankesworte u.a. an die équipe de chercheurs sur le terrain, die den Bericht verfasst hat, und seinen Freund Adil Jazouil, dem aus Marokko gebürtigen Soziologen, Gründer und Leiter von Banlieuescopies(4) , einem soziologischen Institut und programme d´observation et d´évaluation des politiques publiques dans les banlieues(5) , das die Studie Les raisins de la galère(6) erarbeitet hat. Das 1991 gegründete Institut wird gänzlich durch öffentliche Gelder finanziert und hat zwischen 1991 und 1994 um die 40 Berichte, die sich zumeist recht kritisch mit der offiziellen Banlieuepolitik auseinandersetzen, erstellt.(7) (Le Monde 2.5.95: 1, 9; 14.12.95: 13.)

Durch die Lektüre von Ben Jellouns Nachbemerkung wird klar, dass Les raisins de la galère nicht nur eine realistische Ästhetik aufweist, sondern auch auf Forschungserkenntnissen und so realen menschlichen Schicksalen basiert und, wenn auch anonymisiert, verfremdet und literarisiert, Teile davon dokumentiert. Das kurze "Nachwort" beginnt mit einem Satz, der auf den Titel anspielt und deutlich macht, dass Saadia, deren Name auch im Roman erscheint, eine reale Person ist. Spiller schließt daraus, dass Ben Jelloun von Saadia "die" Geschichte erzählt bekommen hat. (Spiller 1999: 160.) "Je tiens à exprimer ma reconnaissance à Saadia(8) , celle qui m´a parlé plus des raisins que de la galère." (Ben Jelloun 1996: 137.) Mit diesem Wissen wird insbesondere eine Passage des Romans, in der Nadia ihre Pressearbeit im für ihre Kandidatur auf der Liste der Verts für die Législatives schildert, klarer. Hier spielt der Autor deutlich auf die genannten realen Personen an. In einem langen Ein-Satz-Monolog Nadias heißt es u.a.: "donner un coup de main à Sadia qui fait une enquête pour Banlieuescopies [...] me concerter avec Adil qui a plein d´informations à me refiler" (Ben Jelloun 1996: 115.).

Der Paratext Ben Jellouns verweist also sowohl auf den Romantext als auch auf reale gesellschaftliche Verhältnisse in Form des Berichtes. So wird deutlich, dass entsprechende Vorarbeiten Ben Jellouns, also die Lektüre des Berichts, aber auch, wie die Danksagung ebenso verrät, Gespräche mit Kontaktpersonen und Betroffenen, die Grundlage für den récit waren. In diesem Zusammenhang ist auch der ein Jahr vor Erscheinen der Erzählung Les raisins de la galère von Ben Jelloun und Jazouli gemeinsam erstellte soziologische Band über die soziale Situation in der Banlieue zu nennen. (9) Alles zusammen genommen läßt sich also nicht nur von einer intertextuellen Ästhetik, sondern von Intertextualität im eigentlichen Sinn sprechen. (10) Trotz der durchgehaltenen Figurenperspektive und der Linearität des Textes enthält Les raisins de la galère aufgrund der vielfältigen Auskunftsquellen der Vorstudien eine Breite an Blickweisen, die im Text selbst über die fragmentarischen Textelemente und deren Komposition im Bericht Nadias angedeutet wird.(11)


La misère du monde: Dokumentarische Form und Ästhetik

Aufgrund dieser Bekenntnisse im Nachwort erscheint es sinnvoll, auch noch einer weiteren Anspielung im Roman nachzugehen. Relativ zu Beginn des Textes schildert Nadia ihr politisches Engagement in der Schule als langjährige Klassensprecherin, das bis zur Organisation eines Streiks führt, der aufgrund der überfüllten Klassen eine zusätzliche vierte Wirtschaftsabiturklasse (terminale B) forderte und erreichte. In diesem Kontext beschreibt sie ihre schulischen Probleme, die sich aus dem politischen Engagement und ihrer intellektuellen Orientierung an Lebensrealitäten ergeben. So ist ihr erstes theoretisches Aha-Erlebnis auch ein Buch, das nicht nur für ein breites (nicht wissenschaftliches) Publikum geschrieben ist, sondern sich zusätzlich auf ihr eigenes Lebensumfeld, die Banlieue, bezieht, ihre Beurette-Identität anspricht und auch ihre berufliche Zukunft bestimmen wird(12) :

Mais le cours de philo m´énervait : je ne retenais pas les idées, j´avais l´impression qu´elles me traversaient comme une passoire. Trop abstrait pour moi. Un jour, ma prof me donna à lire un livre de B. Tout à coup, les choses commencèrent à s´éclaircir dans ma tête. Ce qu´écrivait ce sociologue renvoyait à des situations que j´avais connues. Je retrouvais là-dedans de quoi expliquer la vie mal faite de mon père, de mon grand-père. B. exprimait avec des mots précis des sentiments que nous avions éprouvés, comme l´humiliation, le rejet. (Ben Jelloun 1996: 23.)

Ben Jelloun verweist hier auf den von Pierre Bourdieu zusammen mit Patrick Champagne und anderen verfassten und 1993 herausgegebenen Band La misère du monde, in dem sich Analysen und Kommentare über die Situation von und Interviews mit gesellschaftlich marginalisierten Gruppen abwechseln. Dieses Opus Magnum, das VertreterInnen sozial und gesellschaftlich ausgegrenzter Gruppen zu Wort kommen läßt und typische Großstadtprobleme unserer Zeit thematisiert, ist eine Art Reaktion auf den oft zitierten "Rückzug des Staates". Es enthält zahlreiche Schilderungen verschiedener gesellschaftlicher Probleme, die in der Banlieue besonders stark zum Ausdruck kommen. Neben dem Wohnungsproblem wird genauso der zunehmende Neoliberalismus auf dem Arbeitsmarkt und die damit verbundene Entsolidarisierung thematisiert. Gleichfalls sind die Schulen und die dort auftretenden Probleme wie Desinteresse, mangelnde (Aus-)Bildung, Drogen und Kriminalität ein Thema. Kurzen Einleitungen von wenigen Seiten schließen sich in der Regel Interviews mit StreetworkerInnen, SchülerInnen oder HausbesorgerInnen von HLMs an; eine Kompositionstechnik, die Ben Jelloun Arbeitsweise verwandt ist. Die Anspielung Ben Jellouns bezieht sich so auf Inhalt und Form. (Röhrig 1999: 164-165.) Die einführenden Artikel, die von der Form her zwischen essayistischen Kommentaren und wissenschaftlichen Analysen variieren, stellen meist die im anschließenden Interview befragten Personen vor und fassen deren Situation zusammen. Sie erinnern so an Portraits in Ben Jellouns Text, die auch durch an Interviews gemahnende Zitate angereichert sind, wie das von Rezki. Dazu kommt, dass der soziologische Band für ein breites Publikum gedacht ist und auf wissenschaftliche Normen, z. B. im Sinne von Verweisen, weitgehend verzichtet; die Textgattungen wechseln sich ab: Sozialreportagen, Portraits, zusammenfassende und kommentierende Einführungen in die Interviews oder essayistischen Analysen.(13)


Palimpseststruktur und Gattungszuschreibung

Anknüpfend an die intertextuelle Ästhetik Ben Jellouns durch die Anspielungen an soziologisches Quellenmaterial wie den Bericht Les raisins de la galère und die Sammelstudie Bourdieus La misère du monde kann zumindest für Einzelpassagen die im Hinblick auf das Gesamtwerk und insbesondere La réclusion solitaire getroffene Feststellung der Überlappung von Wissenschaftsessayistik und Literatur bei Ben Jelloun auf Les raisins de la galère übertragen werden. In diesem Sinne kann mensch nicht nur von soziologischen Textspuren, sondern auch von palimpsesthaften Zügen der Erzählung sprechen. Denn vordergründig wirkt der Text wie ein "normaler" fiktiver realistischer Roman, bei Entschlüsselung der Anspielungen und der Hinzuziehung von Ben Jellouns Werk sowie seiner Erfahrungen als Sozialpsychiater, Wissenschaftler und Journalist werden die verschiedenen Textschichten, die in Ben Jellouns Werk immer wieder durchscheinen, zunehmend deutlich. Genette umreißt dieses Phänomen der Mehrschichtigkeit mit dem Begriff palimpsestes(14) und spricht von einer littérature au second dégré, ein Literaturverständnis, das Pfisters Auffassung der Intertextualität und der Prätexte sehr ähnlich ist. Beide beschreiben mit diesen Begrifflichkeiten ein textuelles Phänomen, das nicht punktueller, sondern struktureller Natur ist. In diesem Sinne räumt auch Spillers formale Analyse von Ben Jellouns L´homme rompu (1994) der Verweisstruktur einen zentralen Stellenwert ein. Sie ist so allgemein gehalten, dass sie auch auf Les raisins de la galère umgelegt werden kann. Er umreißt das hier als palimpsestes bzw. Intertextualität bezeichnete Phänomen mit dem Begriff der réécriture:

Wie Rachid Boudjedra, ein anderer Meister der réécriture und des Selbstzitats, setzt auch Ben Jelloun auf die vielfältigen Möglichkeiten der Intertextualität bei der Aufarbeitung eigener und fremder Texte. Die Collage von Versatzstücken der eigenen Biographie, Wiederholungen, Redundanzen, Metamorphosen, echte und falsche Zitate sowie Pastiche und Parodie sind die technischen Hilfsmittel einer solchen maschinellen Schreibweise. (Spiller 1999: 14.)

Bezüglich der Gattung scheint so die von Ben Jelloun in der Nachbemerkung verwendete Bezeichnung récit wesentlich angebrachter als der im Untertitel enthaltene Begriff roman, der womöglich nicht einmal von ihm stammt und aus verkaufsstrategischen Gründen mit Rücksicht auf das europäische Publikum und die hier gebräuchlichen Gattungsnormierungen gewählt wurde. Hier sei noch einmal auf Spiller verwiesen, der die dokumentarische Ästhetik, die Stimmenvielfalt und die Erzählweise Ben Jellouns, die die klassische Romankonzeption sprengen, mit dessen maghrebinischen Wurzeln erklärt. Ihm zufolge gestaltet der Autor seine ErzählerInnenfiguren nach dem Modell des Geschichtenerzählers, der um sich herum einen ZuschauerInnenkreis versammelt. In diesem Zusammenhang betont Spiller die performative Komponente von Ben Jellouns Texten und charakterisiert seine traditionell als Romane bezeichneten Texte als im Grunde erzählerisch inszenierte Sprechakte, die durch das Prinzip der Mehrstimmigkeit geprägt sind. (Spiller 1998: 11.) Wie sich aber im Kontext der Verweise auf die beiden soziologischen Prätexte Ben Jellouns gezeigt hat, geht der Autor wesentlich weiter. Denn die Verwendung von diesen Feldforschungsquellen führt nicht nur zu einer intertextuellen, mehrstimmigen und oralen Ästhetik, sondern verleiht der Erzählung einen dokumentarischen Charakter, der eine Spannung zwischen Fiktion und Dokumentation erzeugt.


Une Arabe qui n´est pas arabe mais kabyle, qui est française mais qui se sent aussi algérienne(15)

Indem Ben Jelloun seine Erzählung als Bericht und Ich-Erzählung Nadias anlegt, macht er die Identitätsproblematik, die politics of location (Bachmann-Medick 1996: 278.), zu einer zentralen Thematik seines Textes. Denn Ben Jelloun eignet sich nicht nur die Stimme einer starken Frau an, sondern er erzählt auch die Geschichte aus der Perspektive einer mehrfach Marginalisierten. Nadia ist Französin algerischer Herkunft, genauer gesagt stammen ihre Vorfahren aus der Kabylei, sie ist Berberin und gehört als gebürtige Französin der génération beur an. Aufgrund dieser mehrfach marginalisierten "Identität" ist Nadias Blick auf die Banlieue von Resteville, ihrem Wohnort von Haus aus vielstimmig; sie ist geprägt von der, wie Bachmann-Medick es formuliert, "heimatlosen" Zwischenexistenz postkolonialer Subjekte (Bachmann-Medick 1996: 279.).

Quel pays est le mien? Celui de mon père? Celui de mon enfance? Ai-je droit à une patrie? Il m´arrive parfois de sortir ma carte d´identité - non, on dit: "carte nationale d´identité". En haut et en majuscules: REPUBLIQUE FRANÇAISE. Je suis fille de cette république-là. Nom, prénom(s), né(e) le, à, taille, signes particuliers, domicile, fait le, par, signature du titulaire. Signes particuliers : néant. Il n´ont rien mentionné. Cela veut-il dire que je ne suis rien? Pas même "rebelle" ou "Beur en colère"? (Ben Jelloun 1996: 124.)

Über diese Perspektive schließt Ben Jelloun an die internationale Kultur- und Literaturdebatte der postcolonial studies und des postkolonialen Romans an und weist so über die konkreten französischen (Banlieue-) Verhältnisse, die u.a. in der behandelten Frage der dokumentarischen Ästhetik thematisiert wurden, klar hinaus.(16) Nadias Selbstverständnis und Lebensrealität sind mit klassisch binären Modellen nicht fassbar, sondern von Instabilität und Desorientierung geprägt. Insbesondere werden nicht mehr lineare Lebensgeschichten, fokussiert sondern jene Momente und Prozesse, die bei der Artikulation von kulturellen Differenzen produziert werden, sogenannte "Zwischen"-Räume. (Bhabha 1997: 123-124, 142-143.) Sie sind ein Phänomen der Massenemigration und der dadurch ausgelösten "bizarre[n] interethnische[n] Beziehungen" (Bachmann-Medick 1996: 285.).

Ein solcher Ort wird durch die Perspektive Nadias fokussiert, die als Frau und Französin arabisch-algerisch-berberischer Herkunft aus der Banlieue, konkret, dem Val-de-Nulle-Part Resteville berichtet und zudem aufgrund ihrer Integrationsambitionen auch in ihrem Milieu eine Außenseiterrolle einnimmt. Eine eindeutige Positionierung kann aufgrund der komplexen Identitätsstruktur nicht erfolgen. Einerseits nimmt Nadia als Arbeitertochter und Französin eine klassische Banlieueblickweise ein, andererseits ist diese durch ihre vielschichtige kulturelle Herkunft sowie ihre Identität als Frau gebrochen.

Si, au réveil, je me retrouve dans un autre pays qui ne sera ni la France ni l´Algérie, dans un autre lit ou une maison flottante voguant sur un cours d´eau inconnu, c´est que la lucidité m´aura prise en pitié. C´est que je me serai exilée dans une contrée anonyme où je serais moi-même enfin devenue n´importe qui, ni plus ni moins qu´une personne sans signe distinctif, affublée d´un nom quelconque rappelant un arbre ou bien un animal, avec un visage au type indéfinissable, un corps qui ne trahit pas ses racines, une voix sans aucun accent... (Ben Jelloun 1996: 123.)

Diese komplexe Identitätsstruktur Nadias wird in Frankreich üblicherweise mit dem Begriff Beur(ette) belegt.(17) Laut Hargreaves ist dieser stark in den 70er Jahren verankert, v.a. als Signifikat der Selbstdefinition und Emanzipation, im Hinblick auf eine Abgrenzung dieser Generation von der EinwandererInnengeneration ihrer Eltern. Es ist ebenso der Versuch, der kulturell-religiösen Stigmatisierung als Fremde zu entkommen. (Hargreaves 1999: 116.)

Bhabha und Medick-Bachmann verwenden verschiedene Termini, die ebenso der Bezeichnung solcher fragiler und widersprüchlicher Lebensrealitäten dienen, die keine fixe Identität erlauben, sondern ständig neue kulturelle Übersetzungs- und Aushandlungsprozesse erfordern. Allerdings bezeichnen diese im Gegensatz zum Beur-Begriff kein länder- und kulturkreisspezifisches Phänomen und sind so global für den Prozeß der kulturellen Verschmelzung in der postkolonialen Debatte einsetzbar. (vgl. Medick-Bachmann 1996; Bhabha 1997.). (18)


Eine Familienchronik der Immigration: Großvater - Vater - Enkelin

Diese Frage der Identitäts- und Traditionsbrüche ist zentrales Thema im Roman. Sie werden in den Identitätsmonologen Nadias im Kontext der Thematisierung der familiären Migrationserfahrung und -chronologie deutlich. Aufgrund der Komplexität ihrer Identität stellt sich für sie nicht das Problem des Heimatloswerdens, wie es sich für ihre Elterngeneration stellt, der im oben zitierten Monolog geäußerte Wunsch nach einer klaren Identität gestaltet sich schwierig. Nadia spricht so von sich als Arabe qui n´est pas arabe mais kabyle, qui est française mais qui se sent aussi algérienne (Ben Jelloun 1996: 114.). Ihre Identitätssuche impliziert so die permanente Konfrontation mit der Familienchronik, die einerseits einen Generationenkonflikt und eine Art Steigerung der Integrationserfolge innerhalb von drei Immigrationsgenerationen aufzeigt, also unterschiedlich intensive Ausprägungen eines hybriden Identitätsmodells deutlich macht, andererseits ein Lossagen Nadias von der Familiengeschichte nicht zuläßt. Dies wird in einem ihrer inneren Monologe deutlich(19) :

Algérie de mon père : 1925-1961, France de mon père : 1961-1991. Et tout le reste sera à toi, rien qu´ à toi. Tu pourras le partager avec ceux que tu as aimés. Mais es-tu seulement capable de classer tout cela? Tu ne vis bien que dans le mélange. Tu as horreur de la pureté. D´ailleurs, existe-elle? Tu mélanges la vie de ton père à la tienne? Quoi de plus naturel? Tu es contre l´oubli, même si tu sais aussi avoir besoin de lui. (Ben Jelloun 1996: 93.)


Das Scheitern der Integration des Vaters

Nadias Großvater, der bereits 1932 aus der Kabylei nach Frankreich emigriert ist, ist klar in der arabischen Kultur zu Hause. Ihm ist die Integration in Frankreich nicht geglückt. Nach 30 Jahren Arbeit als Mechaniker bei Renault ist er, ausgebeutet als billige ausländische Arbeitskraft, kraftlos nach Algerien zurückgekehrt. Sein Sohn nimmt daraufhin seine (berufliche) Stellung in Resteville ein, später wird wiederum dessen Sohn seinen Arbeitsplatz übernehmen. Nach seiner Emigration aus Marokko hat Nadias Vater, eigentlich Analphabet und Maurer, in Frankreich eine Familie gegründet und, im Gegensatz zu seinem Vater, zumindest etwas Lesen und Schreiben gelernt. Er bleibt allerdings, obwohl es Remigrationsüberlegungen gibt, bis zu seinem Tod in Frankreich, lediglich die Beerdigung findet in Algerien statt. Er stellt den typischen aufgeklärt-assimilierten travailleur immigré dar, der es zwar geschafft hat, sich mit viel Integrationswillen einen gewissen Status zu erarbeiten, v.a. seine Familie zu ernähren, letztendlich aber durch die permanente Stigmatisierung als Immigrant gescheitert ist. So stellt er ein Art Gegenmodell zu den muslimischen Traditionalisten und Fundamentalisten dar, nimmt also als maghrebinische Männerfigur durchaus eine emanzipierte Rolle ein. So vertritt er gesellschaftspolitische Vorstellungen, die völlig den valeurs républicaines françaises entsprechen. Er glaubt zwar an Gott, legt aber keinen Wert darauf, in die Moschee zu gehen und befindet im Übrigen, dass Religion eines jeden Menschen Privatsache sei, was dem Prinzip der laïcité entspricht. (Ben Jelloun 1996: 49.) Nadia schildert ähnlich liberale Positionen ihres Vaters bezüglich Geschlechteremanzipation und weltlichem Bildungsanspruch:

Aussi préférais-je deviser avec mon père. Lui au moins me voyait fort bien en mécanicienne. Il ne me contrariait pas, se montrait attentif à tout ce que je disais et faisais. [...] Il disait que si ma sœur avait pu poursuivre ses études, elle aurait été aujourd´hui plus heureuse [...] (Ben Jelloun 1996: 11.)

Allerdings verweigert er auch eine völlige Assimilation an Frankreich, er bleibt als travailleur-immigré Algerier, hängt der Kultur seiner Heimat an. Dies verstärkt sich mit dem Alter und negativen Integrationserfahrungen, die ihn resignieren lassen. Er wird v.a. nach der Pensionierung zunehmend inaktiv und verläßt das Haus kaum noch. Statt dessen flüchtet er sich gedanklich in die arabische Welt, erzählt der Tochter von der arabischen Geschichte und der Ankunft des Islams. Von ihr läßt er sich aus Mille et Une Nuits vorlesen und untermalt die Szenen pantomimisch. Symbol für das letztendliche Scheitern seiner Integration, das er selbst auch auf seine mangelnde Durchsetzungskraft im "Gastland" zurückführt, ist der Abriß seines Hauses, das er nach seiner Ankunft im Frankreich der 60er Jahren in einjähriger Arbeit nach dem Vorbild der traditionellen Architektur von Tadmaït, seinem Herkunftsort, geplant und gebaut hat. Dieses weiße Einfamilienhaus, semblable à ces constructions du Péloponnèse que vantent les agences de voyage (Ben Jelloun 1999: 14.), steht mitten in der Stadt Resteville und stellt die Integrationsleistung des Vaters dar. Unter den anderen ImmigrantInnen aus dem Maghreb, die ausschließlich in HLM-Wohnungen "zu Hause" sind, ist es ein viel beneideter Identifikationspunkt und kultureller Import. Die orientalische Architektur in Kombination mit der modernen Ausstattung macht für den Vater Nadias aus dem Haus das Identifikationsobjekt schlechthin, als Symbiose seiner kabylisch-arabischen Herkunft und seiner französischen Lebensrealität, wie Nadia berichtet:

C´était son rêve : donner un toit à ses enfants. Il avait dû refaire plusieurs fois le plan à cause des objections de la mairie. Il y avait là quelqu´un qui ne supportait pas l´idée qu´une famille d´Algériens puisse s´installer en centre-ville ; à ses yeux, un immigré devait habiter la zone, au mieux une cité de transit ou un "logement social". (Ben Jelloun 1999: 14.)
Notre maison faisait figure d´erreur dans un ensemble grisâtre, rationnel et étriqué. Une maison avec dix-sept fenêtres, deux portes, une terrasse, des patios, et surtout une grande salle de bains équipée de toilettes non pas à la turque, mais à l´européenne! Mon père tenait beaucoup à ces détails-là. Tout en édifiant une demeure traditionnelle, il se voulait moderne.
(Ben Jelloun 1999: 15.)

Nach acht Jahren beschließt der kommunistische Bürgermeister Bourru unter dem Vorwand, eine maison de la Culture zu errichten, die sich letztlich als Supermarkt entpuppt, den Abriß des Hauses; die Familie muß in eine der üblichen HLMs umziehen. Hier wird deutliche Kritik an der Praxis der kommunistischen Politik der PCF laut, Einzelinteressen werden ignoriert, Parteiinteressen mit dem Argument des Kollektivs übertüncht, sowie an der gigantomanische Zersiedlungspolitik der 60er und 70er Jahre laut. Das Schicksal der Familie Nadias interessiert ihn nicht weiter. Das Abreissen des Hauses und die Umsiedlung in eine HLM-Siedlung, die Nadia Val-de-Nulle-Part nennt und so die oft schönfärberischen Namensgebungen solcher Siedlungen ironisiert (Röhrig 1999: 166.), steht ebenso für die räumliche Gettoisierung der MigrantInnen und das Fehlen von Integrationsmaßnahmen. So konstatiert Nadia: Pour moi, l´affaire était politique et teintée de racisme. Le Parti communiste français entendait démontrer qu´il était lui aussi capable d´en faire voir aux immigrés. (Ben Jelloun 1996: 21.)

Dieses Ereignis stellt einen klaren Einschnitt in der Familienchronik dar und macht die unterschiedliche Ausprägung der hybriden Identität deutlich. Während der Vater daran zerbricht - die Remigration nach Algerien scheitert nur an seiner mangelnden Entschlusskraft und dem dortigen BürgerInnenkrieg - stellt es für die 13jährige Tochter den Auslöser ihrer politischen Aktivität dar. Denn bei dem Versuch, den Abriß des Hauses zu verhindern, macht sie, trotz ihrer französischen Staatsbürgerinnenschaft, die ersten Erfahrungen mit dem Alltagsrassismus und der politischen Korruption der "linken" Lokalpolitik. Während sie, trotz aller Unsicherheit und Selbstzweifel, das Potential des multikulturellen Erbes nutzen kann und letztendlich ein Beispiel einer geglückten Integration abgibt, führt bei ihrem Vater die hybride Lebensrealität am Ende zur Resignation. Er kann den Verlust seines Identitätsobjektes nicht verkraften und zieht sich aus dem französischen Gesellschaftsleben zurück. (Röhrig 1999: 164-167.)

Mon père n´est pas mort de solitude, mais des suites de très profondes blessures. Son corps était en bonne santé; pas son honneur ni sa fierté. Tout le travail d´une vie avait été balayé d´un revers de main par un maire qui avait gardé en lui la haine de l´Algérie. (Ben Jelloun 1996: 47.)


Entwurzelter Vater, politisierte Tochter

Für die in Frankreich sozialisierte Nadia stellt sich die Frage der Remigration ebenso wenig wie die der Assimilation oder Akkulturation, sondern die des Ringens nach gesellschaftlicher Anerkennung und Gleichberechtigung in Frankreich. Ganz im Gegenteil bereitet für sie der kulturelle und sprachliche Anschluß an das "Erbe" ein größeres Problem, was anhand von ihren beiden Aufenthalten in Algerien besonders deutlich wird.(20) Nadia schildert ihren ersten Besuch im Alter von 13 Jahren mit ihrem väterlichen Bruder Arezki und seiner Tochter Saadia. Nicht nur die Tatsache, dass das Dorf ihrer VorfahrInnen Tadmaït wie ausgestorben wirkt und die zurückgebliebenen alten Frauen wie Statistinnen wirken, schreckt sie ab. V.a. das Beispiel der Remigranten, die, durch das Arbeiten in Frankreich leblos und kraftlos geworden, in die "Heimat" zurückgekehrt sind, macht ihr schnell klar, dass ihr zu Hause in Resteville ist. (Ben Jelloun 1999: 10-13.) So schließt sie mit der Beerdigung ihres Vaters einige Jahre später endgültig mit dem "Land der Väter" ab:

L´enterrement eut lieu par une belle journée calme et blanche. Il y avait des gens qui lisaient le Coran ; les autres pleuraient. Je dormis dans la maison de mon grand-père, seule en compagnie de deux vieilles qui ne savaient parler que le kabyle. Je me sentais en terre étrangère. Le lendemain, je n´avais plus rien à faire dans ce pays. Je mis une journée pour rejoindre la capitale. (Ben Jelloun 1996: 52-53.)

Während sich bei ihrem Vater im Zweifelsfall der Blick nostalgisch nach Algerien zurückrichtet, blickt Nadia nach vorne in eine Zukunft. Der Entwurzelung des exilierten Vaters steht der binäre Kategorien ablehnende Kosmopolitismus der Tochter gegenüber, die keine Nationengrenzen, dafür auch keine "Heimat" kennt. So bezeichnet sich der Vater Nadia zufolge als vieux dattier transplanté sur le balcon d´une cité de banlieue, sie sieht sich als plutôt du genre herbacée, sans doute de la mauvaise herbe, celle qui pousse n´importe où (Ben Jelloun 1999: 136.). Spiller spricht bezüglich der Ausrichtung von Nadias Selbstverständnis auf einen dritten Verständigungsraum (Medick-Bachmann 1996: 278.), der sich nicht konkret lokalisieren läßt, sondern mehr die durch ihre Geschichte bedingte mehrfache kulturelle Fremdheit und die dadurch erlernten Anpassungskompetenzen beschreibt, von einer veränderten kulturellen Konstellation. Er macht den Generationenunterschied an den Begriffen der Moderne, an die die ImmigrantInnengeneration Anschluß suchte, und der Postmoderne, in die die génération beur hineingeboren wurde, fest. (Spiller 1999: 159-161.) Positiv wird diese grundlegende Differenz zwischen den beiden Generationen und ihrer Lebensrealität in Les raisins de la galère von einem Freund Nadias formuliert. In Anspielung an den Titel heißt es:

Arrête-toi un peu, regarde-toi dans la glace, pose tes fesses sur une chaise, pense à la douceur et à la légèreté de l´éxistence! T´es pas dans la galère. Profit-en! Des raisins, il y en a. Tu as mérité de les cueillir. Sors de ta réserve, oublie tes préjugés. Tous les Arabes ne sont pas comme le mari de ta sœur! [...] Toi, tu as choisi : tu te bats tout le temps. Tu ne veux surtout pas qu´on t´assimile à cette génération perdue. (Ben Jelloun 1996: 67-68.)


Flucht vor der kollektiven Identität: Arioule v/s génération beur

Neben ihrer Position im Verhältnis zur Elterngeneration wird hier aber auch Nadias Selbstpositionierung innerhalb ihrer Generation deutlich. Sie versucht allen Stigmatisierungen zu entkommen, was ihr v.a. von der eigenen Seite, der génération beur viel Kritik einbringt. So grenzt sie sich nicht nur rhetorisch von der eigenen Herkunft ab, indem sie den Terminus Beurette für sich ablehnt, sondern sie legt auch Wert darauf, keinen Beur-Freund zu haben. So heißt es in dem fiktiv intertextuellen Ausschnitt aus ihrem Tagebuch: Mon premier flirt est un Français. Je suis contente que ce ne soit pas un Arabe... (Ben Jelloun 1999: 21.) Sie grenzt sich also sowohl von ihrer Herkunft und den Traditionen ab, als auch von ihrer Generation und radikalisiert so den Weg, den ihr Vater schon ansatzweise beschritten hat. Seiner Mutlosigkeit setzt Nadia allerdings Courage und Konsequenz entgegen.

Nadias Abgrenzung spielt auf die realen intensiven gesellschaftlichen Debatten des letzten Jahrzehnts um die Aktualität bzw. Obsoletheit des "Beur"-Begriffs aufgrund der mit ihm verbundenen Ethnisierung und Gettoisierung der ersten - inzwischen auch zweiten - Generation von FranzösInnen maghrebinischer Herkunft an. Viele von ihnen sind mit dieser Zuordnung nicht einverstanden und beurteilen sie als vielleicht gut gemeinte, aber sie letztendlich doch aus der französischen Gemeinschaft ausschließende Praxis. Denn inzwischen ist der Emanzipationsbegriff zu einem eher negativen, kollektiven medialen Schlagwort geworden, das in enger Verbindung mit der Banlieuedebatte steht. Die Figur des "Beur" wird in der Banlieuedebatte der 80er und 90er Jahre zur Symbolgestalt der Banlieue und ihrer Probleme. (Lochard 1998: 15.) Diese mediale Stigmatisierung, die dem Generationenetikett Beur gesellschaftliche Probleme eingeschrieben hat, kritisiert auch Nadia und stellt dieser medialen Identitätskonstruktion die Realität ihrer AltersgenossInnen gegenüber(21) :

Tout ce que médias et spécialistes ont trouvé à faire, ç´a été de donner un numéro à cette génération : la deuxième! Ainsi classés, nous étions forcément mal partis. On oublie que nous ne sommes pas du tout des immigrés : nous n´avons pas fait le voyage, nous n´avons pas traversé la Grande Bleue, nous sommes nés ici, en terre française, avec des gueules d´Arabes, dans des banlieues d´Arabes, avec des problèmes d´Arabes et un avenir d´Arabes. (Ben Jelloun 1996: 76-77.)

In ihrem Endmonolog, in dem sie noch einmal ihr eigenes Selbstverständnis verortet, setzt sie die Kritik sprachlich kreativ um. Allen Stigmatisierungen als Araberin, Berberin oder Beurette stellt sie eine für sie stimmige eigene Identitätskonstruktion entgegen, die insbesondere über ihre wortsymbiotischen Neologismen an hybride Identitätskonzeptionen und -metaphern wie dem der dritten Sprache (Bachmann-Medick 1996: 278.) anknüpft. Über Wortspiele schafft sie sich ein eigenes Kreolisch, das hier lautmalerisch wiedergegeben wird, und mit dem sie alle binären Kategorien ablehnt, sich aber gleichzeitig über ihren Identitätsmonolog lustig macht:

Je ne savais pas qu´une tête d´Arioule pouvait peser ainsi des tonnes. Arioule! D´Arabe et de Bougnoule, qui sont kif-kif! Avec ça, on fait plus court et on rigole. Je ne suis pas beur, mais arioule. Ou kaboule, qui rime avec maboule! Mais ma Kabylie est bien loin. Elle m´a sans doute oubliée. Je reste pourtant la fille d´une tribu qui s´est déplacée il y a des siècles à dos de mulet à travers le monde pour s´arrêter un jour devant Paris ; dans ses faubourgs, la tribu campe toujours. C´est elle que j´entends, la nuit, ranimer ses feux et ses chants. (Ben Jelloun 1996: 127.)


Der Val-de-Nulle-Part

Der Text Ben Jellouns ist eine literarische Kritik mit stark dokumentarischer Ästhetik am mangelnden politischen Willen zur Integration und am Alltagsrassismus. Im Zentrum der Debatte der Banlieueprobleme stehen so nicht die sozialen Erklärungsmuster, sondern die kulturell und ethnisch spezifischen Lebensprobleme der MigrantInnen und die daraus resultierenden Identitätskonflikte, die in den Kontext der condition postcoloniale gestellt werden. Trotz der Integrations-"Karriere" Nadias beschreibt dieser fiktiv-testimoniale Text die Situation in der Banlieue als trostlos und negativ. Den Perspektivierungen und Schwerpunktsetzungen entsprechend unterschiedlich schließen die beiden Texte auch.

Der Roman wechselt auf den letzten beiden Seiten die ErzählerInnenperspektive, der abschließende lange Identitätsmonolog Nadias bricht ab, der Roman endet mit einer Passage aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers. Nadia blickt auf ihre Erlebnisse zurück und hört die Stimme ihres Vaters, hinter der laut Spiller die des Autors steht (Spiller 2000: 264.):

L´important est que tu restes décidée à te battre. Pas de répit. Pas de repos. Là où je me trouve, tu me fais du bien. On dirait que tu prends la revanche de toute la famille. Mais pense à ta vie, à ton avenir. Je ne m´inquiète pas trop pour toi, je te connais, je sais que tu es une femme libre. On n´aime pas beaucoup ça chez nous, mais moi, je t´ai toujours voulue ainsi. Quitte ce pays-ci, voyage, va à la découverte du monde. Mais, où que tu ailles, n´oublie jamais qui tu es, d´où tu viens. Un jour ou l´autre, le village de tes ancêtres t´accueillera et te fera la fête. (Ben Jelloun 1996: 135-136.)

Noch einmal wird die Frage nach der Identität gestellt, d.h. die in ihren Reflexionen oft geäußerten Fragen und Zweifel nach ihr werden nun prägnant von der Stimme ihres Vaters beantwortet. Sie macht eine Art Bestandsaufnahme ihres Lebens und gibt ihr den Ratschlag, ihren kämpferischen Weg weiter zu gehen, aber trotz aller Emanzipation und Mobilität, trotz allen Universalismus, der ein Zeichen des geglückten Lebens zwischen den Kulturen ist, die eigenen Wurzeln nicht zu vergessen. Letztendlich wird Nadia aber von ihrer Lebensrealität eingeholt und richtet den Blick nach vorne:

Le facteur sonne ; il apporte un paquet recommandé. Elle signe en arabe. Cela paraît amuser le préposé qui, du coup, lui tend une feuille et réclame un autographe: "C´est beau, l´écriture de droite à gauche!" (Ben Jelloun 1996: 136.)

Das gelieferte Paket verspricht Hoffnung, die Reaktion des Postboten zeigt, dass es neben dem Rassismus auch einen für das Andere offenen und interessierten Teil der französischen Bevölkerung gibt, der ein produktives und respektvolles Zusammenleben möglich machen könnte.


Resümee

Die Perspektive Nadias auf die Banlieue von Resteville zeigt im Wesentlichen einen Ausschnitt von ihr, nämlich den von maghrebinischen ImmigrantInnen geprägten Val-de-Nulle-Part, der ihr tägliches Leben und ihr Selbstverständnis prägt.

Die Beschreibung dieser Realitäten in den Texten findet oft in Form einer Konfrontation, nämlich der des Generationenkonflikts statt, der die Ambivalenz zwischen der Herkunft der Charaktere und ihrer Einschreibung im gegenwärtigen und alltäglichen Leben, also ihrem konkreten Milieu, zum Ausdruck bringt. Die von den Eltern "angebotenen" Identifikationspunkte der maghrebinischen Kultur stehen der Alltagskultur dieser "Spannungsräume kultureller Auseinandersetzung" ("third space") (Bachmann-Medick 1996: 285.) der "communautés marginalisées" gegenüber: "La culture des parents devient une culture "étrange" aux yeux des enfants nés ou arrivés très jeunes en France. Que ce soit la langue, les pratiques religieuses ou la mode vestimentaire [...]" (Bouchentouf-Siagh 1995: 319-320.).

Hier läßt sich leicht eine Parallele zur Immigrationschronik Nadias bei Ben Jelloun denken, wo dieser Generationenkonflikt zwischen Nadia und ihrem Vater breiten Raum einnimmt. Wie von Bouchentouf-Siagh allgemein beschrieben, empfindet auch Nadia die Kultur Algeriens, konkret der Heimatstadt ihrer Familie, Tadmaït als fremd und stellt ihr ihre vertraute hybride Banlieue gegenüber:

Des jeunes comme Saadia et moi n´avions rien à faire dans ce mouroir. Après la fête, j´ai été prise de nausées. C´est fou ce qu´on mange, dans notre tribu! Et si tu ne t´empiffres pas, c´est que tu ne les aimes pas. J´avais essayé de faire semblant, mais on m´avait forcée, gavée. Vivement Resteville! Là, au moins, personne ne poussait à la consommation! (Ben Jelloun 1996: 15-16.)

Diese konkrete und lokale "Erdung" universaler Phänomene ist gerade aufgrund der immer mehr überhand nehmenden (Sprachen der) Globalisierung, die eine zunehmende Angleichung der Lebensrealitäten (von der Wirtschaft bis zur Wissenschaft) deutlich machen und forcieren, um so bedeutender. Hier könnte literarischen und wissenschaftlichen Nieschen die Rolle zukommen, über das ihr eigene Mittel der Differenzierung die jeweiligen kulturellen Unterschiede zu betonen oder zu kreiern versuchen, also eine regional-internationale Gegenstimme zur marktkonformen Vereinheitlichung herauszubilden. (Bachmann-Medick 1996: 290.)

© Daniel Winkler (Paris)

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==> Literaturverzeichnis

NOTES

(1) Dem Titel ist zu entnehmen, daß die Methode nicht rein psychologisch oder soziologisch ist. Die literarische Qualität wird in Widmung, Danksagung, "Présentation", "Remarque" und "Introduction" bestätigt, die den subjektiven Zugang zur Erkenntnis unterstreicht. (Spiller 1999: 153.)

(2) Spiller weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass Ben Jelloun Derridas Différence-Begriff korrigiert, um ihn den Lebensrealitäten der Banlieue anzupassen: Die Neupositionierung im kulturellen Feld erfolgte aus einer Perspektive, die an der gesellschaftlichen und politischen Praxis orientiert ist. Die Betonung der Unterschiede trägt wenig zur Integration bei, diese Erkenntnis steht im Mittelpunkt von Les raisins de la galère und Le racisme expliqué à ma fille, eine als Kinderbuch verfaßte Abhandlung über den Rassismus, die die in Hospitalité française aufgenommene ethische Fundierung der Gastfreundschaft fortführt. (Spiller 1999: 155-159; hier: 155.).

(3)Als Leitfaden dient hier Gérard Genettes Werk über den Paratext (Genette 1987). Er beschreibt den Paratext als Verlängerung eines Textes, der diesem zum Zweck der Präsentation des eigentlichen Textes untergeordnet ist. Der Paratext kann aus verbalen und non-verbalen Elementen wie Titel, AutorInnenname, Illustration, Satz, Vorwort etc. bestehen. Er macht den Text zum Buch, durch ihn wird der Text präsentiert und über ihn rezipiert. Der Paratext ist also die "Schwelle" (= Seuil) zwischen LeserIn (=Außenwelt) und Buch einerseits, Buch und Text andererseits. So lautet auch der Titel des Originals in Anspielung an den Namen des Verlages, in dem das Buch erschienen ist, Seuils. Genette unterteilt den Paratext in Peritext und Epitext. Der Peritext faßt das Umfeld eines Textes innerhalb eines Buchbandes zusammen, der Epitext umfaßt alle Informationen, die sich außerhalb des Textes befinden (z.B. Zeitungsinterview, Tagebuch). (Genette 1987: 7-11.)

(4)Banlieuescopies, 91 bis, rue du Cherche-Midi, 75006 Paris (Le Monde 2.3.95: 9).

(5) Vgl. Le Monde 3.1.92: 2.

(6)Der Bericht heißt mit vollständigem Titel Les raisins de la galère. Etude exploratoire sur les préadolescents dans les quartiers populaires. Er hat 74 Seiten und wurde 1994 unter der Leitung von Adil Jazouli verfaßt, allerdings nie verlegt. So ist er auch nicht über einschlägige wissenschaftliche Bibliotheken erhältlich. Laut der Homepage des Ministère de l´Equipement, des Transports et du Logement befindet er sich im dort angesiedelten Centre de Documentation de l´Urbanisme. (Vgl. http://www.urbanisme.equipement.gouv.fr/cdu).

(7) Ein Teil der Berichte ist u.a. von der délégation interministérielle à la ville in Auftrag gegeben worden. (Le Monde 19.11.92: 14; 2.5.95: 1, 9.)

(8) Vermutlich handelt es sich hierbei um Saadia Sahali, die unter der Leitung von Jazouli auch den 1996 erschienen Banlieuescopies-Bericht Les jeunes musulmans en France. Les jeunes Noirs en France. Études exploratoires. mitherausgegeben hat. (Le Monde 22.7.96.)

(9) Adil Jazouli/Tahar Ben Jelloun 1995: Une saison en banlieue, courants et prospectives dans les quartiers populaires. Paris.

(10) Zum Begriff vgl. Ulrich Broich/Manfred Pfister 1985. Pfister definiert die Intertextualität als Beziehung zwischen Texten und geht, diese Konzeption einschränkend, davon aus, dass jeder Text auf bereits vorhandene Texte reagiert. D.h. dass sowohl jeder Gegenstand als auch jedes Strukturelement eines neuen Textes bereits in anderen Texten vorhanden und beschrieben ist. Intertextualität kann so als Oberbegriff für Bezüge in einem Text auf andere Texte, sogenannte Prätexte, oder auf in diesen enthaltenen Codes und Sinnsystemen verstanden werden. Darunter fallen literaturwissenschaftliche Phönomene wie Zitat, Anspielung, Adaption, Parodie etc. Allerdings wird hier davon ausgegangen, dass die Bezüge auf Prätexte nicht nur punktueller Natur sind. (Pfister 1985: 11-15.)

(11) Spiller resumiert den Roman im Kontext von Ben Jellouns Œuvre wie folgt: Damit liegen auch diesem linearen und realistisch geschriebenen Text die Konstruktionsprinzipien der komplexeren Romane zugrunde. Wieder ist die Ich-Erzählerin die mündliche Quelle für die schriftliche Überarbeitung eines Erzählers; wieder entsteht durch die Einbeziehung anderer Informanten Mehrstimmigkeit; wieder tritt der Autor als Zeuge einer ihm vertrauten Wirklichkeit auf, um durch persönliche Anteilnahme seine Glaubwürdigkeit zu erhöhen. (Spiller 1999: 160.)

(12) François Maspéro verweist in seiner Besprechung der Erzählung auf Nadias "Käpferinnennatur" und ihre letztendlich erfolgreiche Schulkarriere: Elle se bat, elle est toujours battue: [...] contre les classes surpeuplées de son lycée, elle qui passera sa licence d´économie et deviendra sociologue [...] (Le Monde 19.1.96: 3.)

(13) V.a. der Artikel The Zone von Loïc J. D. Wacquant ist bezüglich seiner intertextuellen Bezüge interessant. Das Interview wird durch zwei bibliographisch belegte Artikelzitate durchbrochen. Einmal handelt es sich um einen soziologischen Text (der auf dem von Walcquant heraugegebenem Chicago Fact Book beruht), beim zweiten um einen Extrakt aus der Autobiographie von Malcolm X. Hier zeigt sich also ganz intensiv eine Parallele zur Erzählung Ben Jellouns, einmal in Hinblick auf den Ausschnitt aus Nadias Tagebuch und die über Nadias Reflexionen breit thematisierte Identitätsfrage, zum anderen in Hinblick auf die Intertextualität an sich. Auch was die Perspektivierung betrifft, drängt sich eine Parallele auf: Wacquant berichtet über die "Banlieue" von Chicago. Indem der Autor seine Beobachtungen immer wieder auf Frankreich umlegt, ergibt sich eine doppelte Blickweise auf die thematisierten sozialen Fragen. Hier steht also nicht nur das Thema der sozialen Marginalisierung im Vordergrund, sondern ganz stark auch die Frage der Alterität und der Perspektive, zwei Grundthemen des Romans. Ben Jelloun wie Wacquant, als französischer Forscher in den USA, nähern sich sozusagen von außen der Pariser Gesellschaft an und übernehmen eine Brückenfunktion zwischen zwei Kulturen. (Wacquant 1993: 179-183.)

(14) Vgl. dazu Genette 1982.

(15) Vgl. Ben Jelloun 1999: 129.

(16) Im Zentrum des Postkolonialismus stehen Texte, die sich, wie oben in Bezug auf Nadia thematisiert, zwischen Kulturen verorten und die die eigene kulturelle Perspektivierung reflektieren. Ein klassisches Beispiel hierfür sind in Metropolen angesiedelte Romane, die die Mischung von Kulturen in den Metropolen zum Thema haben. In diesen Texten wird deutlich, dass Ideen oder Denkweisen, die sich an einem spezifischen Ort manifestieren, eigentlich internationale Großstadt-Phänomene sind. Gleichzeitig machen sie deutlich, dass Multikulturalität auch immer Kulturkonflikt bedeutet, d.h. dass hinter kultureller Vielfalt auch immer konkrete und reale Schicksale stehen (Bachmann-Medick 1996: 271-273.):
Grundlage solcher Texte ist mehr denn je die Verarbeitung von wirklich erfahrener Alterität und selbst durchlebten Kulturkonflikten, die weit hinausgeht über eine bloße literarische Imagination fremder Welten. (Bachmann-Medick 1996: 273.).

(17) Der erste öffentliche Gebrauch des Begriffes ist auf die Gründung des Radio Beur in der Banlieue nördlich von Paris im Jahr 1981 u.a. durch Nacer Kettane zurückzuführen. In der Presselandschaft wurde der Begriff erstmals im Jänner 1982 in einem Artikel der Libération verwendet. Eine breite Definition des Begriffs gibt Nacer Kettane, der ihn über eine doppelte orale Inversion etymologisch vom Begriff arabe (arabe - rebe - ber, geschrieben beur) herleitet, ihn aber semantisch von arabe abgrenzt und mit einem gemeinsamen kulturellen und geographischen Raum, dem Maghreb, und einem sozialen Raum, der Banlieue, sowie der Arbeiter-/Unterschicht Frankreichs identifiziert. (Hargreaves 1999: 116, 119; Laronde 1993: 51.)

(18) Der Schlüsselbegriff der Hybridität kennzeichnet eine Sphäre, in der man sich innerhalb des Geflechts der Kulturen dem kulturell Anderen aussetzt, was bedingt, daß die zähen Traditionen, an denen das eigene Selbstverständnis jeweils festgemacht wird, gleichsam verflüssigt werden können. (Bachmann-Medick 1996: 279.)

(19) Spiller sieht diese inneren Monologe Nadias eher als Umsetzung eines Dialogs des Autors mit seinem Geschöpf und bezieht seinen Interpretationsansatz konkret auf diese Passage Nadias. (Spiller 2000: 264-265.)

(20) Die kulturellen Diskrepanzen zwischen ihr und ihrem Vater zeigen sich auch in Form der Sprachkenntnisse: Während sich beim Vater im Französischen teilweise eine arabische Aussprache einstellt, verhält es sich bei Nadia umgekehrt: Il roulait alors les r, comme au pays. En temps normal, il ne les roulait pas. Chez lui, c´était une façon de rappeler d´où il venait tout en s´exprimant dans une autre langue. [...] Son français était truffé de vocables arabes. J´essaie de ne pas tomber dans le même travers. C´est plutôt l´inverse : je parle assez mal l´arabe, et du kabyle je n´ai retenu que quelques mots. (Ben Jelloun 1996: 66.)

(21) Eine kritische Position vertritt in diesem Zusammenhang auch der französische Schriftsteller und Soziologe algerischer Herkunft Azouz Begag. (Begag 1999: 21-25.). Ähnlich wie Nadia vermeidet Begag den Begriff "Beur" und kritisiert ebenso die politische Diskriminierung, die sich hinter des allzu theoretischen Gleichheitsgrundsatzes der Französischen Republik verbirgt. Er spricht von FOV, Français d´origine visible, Franzosen sichtbarer/offensichtlicher Herkunft. (Begag 1999: 24.)


Literaturverzeichnis

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Le Monde: 3.1.92, 19.11.92, 3.12.93, 2.3.95, 23.3.95, 2.5.95, 14.12.95, 19.1.96, 19.7.96, 22.7.96.

Manfred Pfister 1985: Konzepte der Intertextualität. In: Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hgg.) 1985: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen. S.1-30.

Johannes Röhrig 1999: Nachwort. In: Tahar Ben Jelloun 1999: Les raisins de la galère. Roman. Stuttgart. S.157-175.

Roland Spiller 2000: Tahar Ben Jelloun: Schreiben zwischen den Kulturen. Darmstadt.

Roland Spiller 1998: Tahar Ben Jelloun. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.) 1983: Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur. München. S.1-D4 (47. Nlg. 11/1998).

Roland Spiller 1999: Blicke aus dem "Entre-deux". Ben Jellouns Texte zur Immigration als Stationen einer interkulturellen Ethik. In: Ernstpeter Ruhe (Hg.) 1999: Die Kinder der Immigration/Les enfants de l´immigration. Würzburg. S.147-161.

Loïc J.D. Wacquant 1993: Über Amerika als verkehrte Utopie. und The Zone. In: Pierre Bourdieu u.a.: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz. S.179-183.


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Daniel Winkler: Das Elend der Welt im Val-de-Nulle-Part. Tahar Ben Jellouns Erzählung Les raisins de la galère. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 13/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/13Nr/winkler13.htm.

TRANS     Webmeister: Peter R. Horn     last change: 06.06.2002     INST