Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. Februar 2002

Der Stachel der Rettung

Penka Angelova (Rousse/Rustschuk)
[BIO]

 

Die Geschichtsschreibung kennt und verfolgt nur die großen Massaker, von denen eines der Letzten den Namen Holocaust bekam. Die Geschichtsschreibung kennt keine großen Rettungen - gewiss nicht deswegen, weil es sie nicht gegeben hat, sondern deswegen, weil sie kein "attraktives" historisches Thema gewesen sind, weil die romanhafte Narrativität der Geschichtsschreibung mit viel größerem Eifer die Untaten und die Heldentaten verfolgt hat, so wie sie sich auf dem Schlachtfeld ereignen; eine jede historische Rundschau - sogar der letzten Jahre - verfolgt vielmehr die Massaker und den Genozid als die Gegenbewegungen, und das Verbrechen hat in der Geschichte eine viel größere Anziehungskraft gezeitigt als die Normalität der menschlichen Beziehungen. Andererseits kommt im Spannungsfeld einer Geschichtsschreibung von Siegern und Besiegten der Rettung eine andere Bedeutung zu als in einer Wirklichkeit, in der es keine Sieger und Besiegte, sondern lauter arme Teufel gibt. Das gegenseitige Helfen und der normale menschliche Umgang kann sich in Grenzsituationen zu einer Art Heldentum verwandeln, der dann sowohl bei den "Rettern" als auch bei den "Geretteten" eine gewisse Scham erweckt, die aus der Gegensätzlichkeit der Wertevorstellungen in den Lebenssituationen erwächst.

Seit fünfzig Jahren werden Abhandlungen und Studien über diese Problematik geschrieben und manchmal scheint es, dass die Theorien vielleicht auch die Zahl der Geretteten erreichen werden. Oder ist gerade dieser Weg der richtige und das Eigentümliche an der Geschichte - dass jedes einzelne Schicksal seiner eigenen Theorie bedarf, weil jedes Leben einmalig ist? Hier möchte ich dem Leser, der diesen Teil der Geschichte kaum kennt, einige Daten zur Verfügung stellen (I) und auf einige Ansätze einer Erklärung dieses Phänomens hinweisen (II)

 

                I

Im zweiten Weltkrieg gehörte Bulgarien zu den Verbündeten Deutschlands und trat, nachdem der Zar schon seit 1935 ein Personalregime einführte und die exekutive Macht in eigene Hand konzentrierte, Ende 1940 formell dem Dreimächtepakt bei. Im selben Jahr wurde das antisemitische "Gesetz für den Schutz der Nation" (GSN) verabschiedet, das als Pendant zum nazistischen "Vorbild" - dem Gesetz für den "Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" - verstanden werden sollte. Am 9. Juli 1942, einige Monate nach der verhängnisvollen Konferenz am Wannsee, setzte das bulgarische Parlament ein weiteres antisemitisches Gesetz, das die entsprechenden legistischen Voraussetzungen für die "Endlösung der Judenfrage" unter bulgarischen Verhältnissen schaffen sollte. Die "bulgarischen Verhältnisse" haben diese "Endlösung" aber nicht zugelassen. Trotz dieser Gesetze war es möglich, dass gerade in und aus Bulgarien keine Juden in die Vernichtungslager und keine Soldaten an die Ostfront geschickt wurden - zwei Erscheinungen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben und doch in einer geheimen Verbindung und Verwandtschaft durch den Begriff der Rettung stehen. Der bulgarische Zar, Boris III, hat keine bulgarischen Armeen an die Ostfront geschickt, weil er gewusst hat, dass die bulgarischen Offiziere und Soldaten keinen Krieg gegen die Russen führen werden, die in Bulgarien als die Befreier von der osmanischen Herrschaft gefeiert wurden, vom "türkischen Joch", wie es im Volksmunde geheißen hat. Martin Gilbert bemerkt, dass Bulgarien "eigentlich der einzige Staat unter deutschem Einfluss und Kontrolle ist, in dem die jüdische Bevölkerung während des Krieges zuwächst."(1)

In den so genannten altbulgarischen Gebieten beginnen schon vor der Verabschiedung des GSN öffentliche Demonstrationen. Mit offenen Briefen und Verteidigungen der jüdischen Mitbürger auf höchster politischer und kirchlicher Ebene beginnt der Widerstand gegen dieses Gesetz.(2)

: In Sofia und in anderen größeren Städten demonstrieren ArbeiterInnen und BürgerInnen; 21 bulgarische Schriftsteller unterzeichnen einen offenen Brief, der im Namen des bulgarischen Schriftstellerverbandes erscheint. Der Publizist Christo Punev veröffentlicht einen offenen Brief "Für den Schutz Bulgariens! Der Menschlichkeit! Und der Freiheit!" in dem er die Einhaltung der Târnovoer Verfassung verlangt und sich wehrt "gegen die Vergesetzlichung eines antihumanen, unzivilisierten und nicht legitimen Gesetzentwurfs, der im wörtlichen Sinne eine Schande für das Bulgarentum" ist.(3)

Sein Brief wird unterzeichnet von ehemaligen Ministern, weiteren SchriftstellerInnen und Künstlern und dem Vorsitzenden des Hohen Rates der Rechtsanwälte. Der Vorstand des Verbandes der bulgarischen Rechtsanwälte verwirft die "jüdische Gefahr für die Volkswirtschaft, die Kultur und die Reinheit der bulgarischen Nation", der Vorstand des bulgarischen Ärzteverbandes stellt "die Behauptung der Minderrassigkeit der Juden als nicht stichhaltig" dar und sieht "keine Gefahr für die rassische Reinheit des bulgarischen Volkes"(4), die Künstlerverbände verteidigen ihre Mitglieder, die Orthodoxe Kirche setzt sich ein und der bulgarische Patriarch führt ein Gespräch mit dem Zaren. Auch die Juden nehmen aktiv und selbstbewusst an ihrer eigenen Verteidigung und Rettung teil: Das Zentrale Konsistorium der bulgarischen Juden schickt Briefe an das Parlament, an die Minister und an die Öffentlichkeit, in denen ausführlich auf die historisch engen Beziehungen zwischen Bulgaren und Juden Bezug genommen wird, sowie auf die gemeinsamen Kämpfe in den nationalen Befreiungskriegen, das friedliche und tolerante Zusammenleben und die gemeinsame Freiheitsliebe.

Es gibt auch Organisationen und Verbände, die das GSN unterstützen oder es sogar für zu mild halten. Die bulgarischen Legionäre veröffentlichen ein Programm unter dem Titel "Unser Kampf", der Gesamtbulgarische Verband und der Bulgarische Nationale Studentenverband verlangen noch strengere ökonomische Maßnahmen, die Jugendorganisation "Brannik" (wörtlich: Krieger) gibt offen zu, dass sie gegen die Juden sind, "weil sie alle Güter besitzen".

Mit dem Beitritt von Bulgarien zum Dreimächtepakt und der Positionierung von deutschen Truppen beginnt die Vertreibung der Juden aus den Städten auf das Land, in kleinere Städte und auch in Arbeitslager. Auf die Aufforderung aus Berlin, mit der "Endlösung der Judenfrage" in Bulgarien zu beginnen, heißt es im Juni 1943 in einem Brief der deutschen Botschaft in Sofia an das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten in Berlin: "Ich bin fest davon überzeugt, dass der Ministerpräsident und die Regierung eine endgültige und restlose Lösung der Judenfrage wünschen und anstreben. Sie sind dabei aber an die Mentalität des bulgarischen Volkes gebunden, dem die ideologische Aufklärung fehlt, die bei uns vorhanden ist. Mit Armeniern, Griechen und Zigeunern groß geworden, findet der Bulgare an dem Juden keine Nachteile, die besondere Maßnahmen gegen ihn rechtfertigen. Da die bulgarischen Juden größtenteils dem Handwerkerstand angehören und oft auch im Gegensatz zu anderen Arbeitern fleißig sind, hat die bulgarische Regierung meiner Ansicht nach Recht, wenn sie an die Frage von anderen Gesichtspunkten aus herangeht."(5). Es werden Verhandlungen geführt, bei denen auch die Züge festgelegt werden und zum Teil bereit stehen, mit denen die Deportierung beginnen soll. Drei Monate zuvor ist es im Parlament zu einer Protestaktion gekommen - am 17.3.1943 initiiert der Vizepräsident des bulgarischen Parlaments, Dimiter Peschef, ein Protestschreiben an den Ministerpräsidenten Bogdan Filov gegen die Deportation der Juden außerhalb der bulgarischen Grenzen, das von 43 Abgeordneten unterzeichnet wird. Es fehlt nicht an ehrerbietigen Aussprüchen bei der Feierlichkeit dieser Unterzeichnung. Einer der Abgeordneten sagt dabei: "Die Ehre Bulgariens ist gerettet".(6)

Es unterzeichnen auch deutschlandfreundliche Politiker aus den engeren Regierungskreisen. Eine Woche später wird Peschef seines Amtes enthoben und die Rettung der in Mazedonien und Thrakien lebenden Juden scheitert. Auch die Heilige Synode schaltet sich in den Kampf um das Leben der "leidenden jüdischen Minderheit"(7) ein: die Erzbischöfe aus Sofia, Dupniza, Târnovo, Wraca, Plovdiv setzen sich einzeln und gemeinsam für die Rettung der Juden und "insbesondere der christlich-orthodoxen" in der Überzeugung ein, "dass die bulgarische Kirche nicht das rassistische Prinzip vertreten kann, dass einer Rasse das Recht auf Leben versagt wird"(8).

Das Leben der in den altbulgarischen Grenzen lebenden Juden ist ab diesem Moment nicht mehr in Gefahr, da der Zar und die Regierung wegen unterschiedlicher diplomatischer(9) und innenpolitischer Gründe dem Drängen aus dem deutschen Reich immer wieder "Ausreden" entgegensetzen, die mit den "bulgarischen Verhältnissen" begründet werden. Die bulgarische Regierung und der Zar scheinen ihre Gesetzesbeschlüsse im Großen und Ganzen selber nicht sehr ernst zu nehmen - sie erweisen sich in einem eigentümlichen Sinne als "Schreibtischtäter", nämlich, indem sie Einwilligungen unterzeichnen, ohne sie auszuführen und ausführen zu lassen: unter anderem wird die Theorie entwickelt, dass die bulgarischen Juden als Spaniolen gar nicht jene "negative Rolle" haben, wie die Juden in andern Ländern(10), wodurch die rassistische Theorie durch eine noch rassistischere Übertreibung entmachtet wird; auf der anderen Seite betont der Zar selbst, dass die bulgarischen Juden als Arbeiter im Straßenbau für die Weiterführung des Krieges unentbehrlich seien, sodass sogar die deutsche Vertretung in Bulgarien einsieht, dass die Endlösung der Judenfrage in Bulgarien problematisch ist".(11)

Ende März 1943 bekommt die Deutsche Botschaft in Sofia einen Befehl aus Berlin, dass die Transitfahrt von Juden über Bulgarien nach Palästina zu verweigern sei. Dieser Befehl wird nicht durchgeführt, weil er von den hohen Angestellten des Konsulats im bulgarischen Ministerium für auswärtige Angelegenheiten sabotiert wird. Eigentlich nehmen die Angestellten aus der Konsulatsdirektion das Risiko auf sich und stellen Transitvisa für die jüdischen Bürger aus Ungarn und Rumänien während des ganzen Krieges aus.(12)

1934 betrug der Anteil der Jüdinnen und Juden an der Gesamtbevölkerung Bulgariens 0.80 %. 97% davon lebten in den Städten. Das Gefälle für das Land war 21,4% städtische Bevölkerung zu 78,6 % Dorfbevölkerung. Folgende soziale Struktur zeichnete sich bei den Juden in Bulgarien in den Jahren 1936-1946 ab: etwa 35% Arbeiter, davon 12% in der Industrie, 14% in den Gewerben und etwa 1% im staatlichen Bereich; 15,18% mittlere Schicht zwischen der Arbeiterschaft und dem Kleinbürgertum, etwa 27% Kleinbürgertum, 5,26% mittleres Bürgertum und 0,49% Großbürgertum. Die Schicht der sogenannten "Inteligencija" - das gebildete Bürgertum darunter Beamtentum - betrug 17,21%. In der staatlichen und gesellschaftlichen Verwaltung arbeiteten 4,36%, freiberuflich 2,25% und 0,97% in der Industrie. Die Sozialstruktur der jüdischen Bevölkerung war der der bulgarischen städtischen Bevölkerung insgesamt sehr ähnlich. Wie in den meisten europäischen Ländern - ganz besonders nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten - tendierten auch viele der bulgarischen Juden zu sozialistischen bzw. kommunistischen Ideen, in denen sie im Begriff des "Antifaschismus" eine Rettung vor der nationalsozialistischen Gefahr sahen.

Vor dem zweiten Weltkrieg wurden Jüdinnen und Juden in Bulgarien weder als Minderheit wahrgenommen, noch waren sie wegen ihrer Abstammung Repressalien ausgesetzt. Die Geschichte der bulgarischen und jüdischen Bevölkerung ist auch mit den gemeinsamen Widerstandskämpfen gegen die Fremdherrschaft verflochten: so berichten z.B. die Chroniken, dass im schicksalsträchtigen Kampf im Russisch-Türkischen Krieg auf dem Schipka-Pass im Balkangebirge ,,als das Schicksal des Krieges und der Freiheit entschieden wurde, neben den bulgarischen Freischärlern auch Juden teilgenommen haben, und eine entscheidende Rolle für den Ausgang der Schlacht hat z.B. der jüdische Kämpfer Leon Krudo am 21.8.1877 gehabt. Die künftige Hauptstadt Sofia verdankt im Dezember 1878 ihre Rettung vor den Armeen des Suleiman Pascha, der die Stadt umlagert und den Befehl zu ihrer Vernichtung bekommen hatte, dem Rabbiner von Sofia, Gabriel Almuslino, der den Suleiman als Solomon und Literaturprofessor an der Sorbonne in Paris kannte und ihn überzeugen konnte, seine Armeen zurückzuziehen, wofür er dann vor dem osmanischen Gericht bitter bezahlen musste. Gerettet wurden dabei etwa 6000 Bulgaren, 6000 Juden und 6000 Türken - die damalige Bevölkerung der Stadt Sofia.

Die Juden und Jüdinnen haben an allen Kriegen und Kämpfen als bulgarische Bürger und als Streiter für die nationalen Ideale teilgenommen; viele haben sich auch am antifaschistischen Kampf beteiligt und sind als Kommunisten verurteilt worden. Viele waren auch in Regierungen und Verwaltungen und wurden mit Ausnahme dieser kritischen Periode niemals als "Minderheit" wahrgenommen, haben weder Vor- noch Nachteile einer Sonderbehandlung genossen.

 

                II

Die Theorien über die Rettung der bulgarischen Juden gruppieren sich hauptsächlich um einige Zentren. Bis 1989 wurde besonders die Rolle der Kommunistischen Partei hervorgehoben. Eine zweite Theorie gruppiert sich um den Zaren und seine Regierung. Jüdische Untersuchungen orientieren sich auch an der Rolle der Juden als Faktor im Kampf um ihre Rettung(13) oder auch als Faktor im nationalen Befreiungskampf der Bulgaren. Es gibt auch geopolitische Auslegungen(14). Weiters existieren Untersuchungen über die Rolle von englischen und amerikanischen Politikern, die Rolle von Radio London und des Jüdischen Weltkongresses. Und trotzdem gibt es etwas, das bei allen diesen Auslegungen, die in ihrer Beweiskraft sich auf bestimmte Gruppen und Aktionen konzentrieren, das Phänomen nicht ganz erfasst. Denn zahlreiche Demonstrationen und Verteidigungsaktionen hat es auch in anderen Städten, die in der selben politischen Konstellation wie Sofia waren, gegeben - in Budapest, in Prag, in Bukarest. Konnte der Druck der Öffentlichkeit dem Druck des Reiches widerstehen? Und wenn schon, warum gerade in Bulgarien und in keinem anderen Land? Offensichtlich sind weitere Erklärungsmuster nötig, die dieses Phänomen erfassen sollten. Wie war es möglich, dass in Bulgarien kein Massenwahn entstand, wie er in anderen Ländern sich entfacht und ausgetobt hat? Antisemitische Stimmungen hat es immer und überall unter einzelnen Leuten gegeben, so wie es nachbarfeindliche Stimmungen immer und überall in der Geschichte gegeben hat - und die Juden sind ja überall in der Welt die ewigen Nachbarn. Da macht Bulgarien keine Ausnahme - das zeigt auch das Buch mit den Kindheitserinnerungen von Leontina Arditti(15). Warum haben diese Stimmungen nicht die Masse ergriffen, warum blieben sie nur in einzelnen geschlossenen Gruppen? Hannah Arendt war die erste, die mit ihrer Kenntnis über massenpsychologische Phänomene in einem Aufsatz über die Rettung der Juden in Bulgarien auf die Reaktion der Bevölkerung eingegangen ist, auf das Mitleid, das die Judensterne erweckten und die Hilfsbereitschaft, die aus diesem Mitleid entstand. Dieses Mitleid entstand aus einer gemeinsamen historischen Nachbarschaft in einem Vielvölkerstaat, in dem viel Leid erlitten und viel Toleranz erlernt werden musste, aus einer gemeinsamen Geschichte und gewiss aus einem Stachel der Rettung, der genauso massenpsychologisch wirken kann wie sein Gegenpart - der Massenwahn.

Elias Canetti spricht in seinem Werk "Masse und Macht" von dem Stachel des Befehls - von der Notwendigkeit, Befehle, die man ausgeführt hat, unbewusst weitergeben zu müssen, um sie loszuwerden. "Jeder Befehl besteht aus einem Antrieb und einem Stachel. Der Antrieb zwingt den Empfänger zur Ausführung [...] Der Stachel bleibt in dem zurück, der den Befehl ausführt [...] Der Inhalt des Befehls bleibt im Stachel erhalten; seine Kraft, seine Tragweite, seine Begrenzung, alles ist für immer vorgebildet worden, in dem Augenblick, da der Befehl erteilt wird. Es kann Jahre und Jahrzehnte dauern [...]" (MMII, 32)(16). Der höchste Befehl ist der des Tötens. Eine enorme Steigerung der Macht und des Befehls ist die Begnadigung und die Rettung. Es scheint möglich, dass es massenpsychologisch auch einen solchen Stachel der Rettung gibt, der nunmehr bei den Geretteten bleibt und dessen Antrieb in einem jeden Kindheitstraum schlummert - jemanden zu retten oder gerettet zu werden. Ein Bedürfnis, aus dem ganz besonders die Filmproduktion großes Kapital schlägt: Das Bedürfnis, dass Gutes mit Gutem vergolten wird. Der Stachel wird bei Canetti in einem tiefen Zusammenhang mit dem Begriff der Umkehrung gesehen, die bei ihm sowohl eine anthropologische als auch eine dramatische Konstituente ist - indem man zum Subjekt dessen wird, wessen Objekt man war, tritt die Umkehrung als "eine der großen Quellen seelischer Energie im Leben des Menschen." (MMII, 33.)

Eine weitere Unikalität in der bulgarischen Geschichte bekräftigt die These von diesem Stachel: meines Wissens ist Bulgarien das einzige europäische Land, in dem als Nationalfeiertag(17) ein Tag der Befreiung durch eine Fremdmacht gefeiert wird: der 3. März, der Tag der Unterzeichnung des Berliner Friedensvertrags und des Endes des Russisch-Türkischen Krieges wird in Bulgarien seit über hundert Jahren als Nationalfeiertag gefeiert.

"Wo immer es Menschen gibt", schreibt Canetti in Masse und Macht, "auf der ganzen Erde, findet sich die Vorstellung von den unsichtbaren Toten. Man möchte sie als die älteste Vorstellung der Menschheit bezeichnen [...] ihre Einwirkung auf die Lebenden war ein wesentlicher Teil dieses Lebens selbst."(18)

Dieser Feiertag ist sich selber treu geblieben. Es gab und gibt immer wieder auch andere Nationalfeiertage, aber diesem bleiben die Bulgaren treu. Als Tag der Befreiung von der osmanischen Herrschaft (bis vor etwa 10 Jahren hieß es auch vom "türkischen Joch") feiert dieser Tag auch die Befreier und gedenkt der Tatsache, dass ein Volk durch ein anderes befreit worden ist, ohne nachher besetzt worden zu sein. An diesem Feiertag wird die Masse von Toten heraufbeschworen, die nicht nur "vom eigenen Stamm", die eigenen Feriwilligen und Landwehrsoldaten sind, sondern von anderen Nationen, die alle ihr Leben für die Freiheit und für die Nachkommenschaft in diesem Land gelegt haben.

Auch hier wechseln die Theorien alle paar Jahre, je nach politischem und wissenschaftlichem Wandel - man weiß immer wieder zwischen den Ansprüchen einer auf Hegemonie orientierten zaristischen Regierung und der Rekrutenschaft zu unterscheiden, die mit Slogans für die Rettung der "slawischen Brüder" oder der Christenheit in Bulgarien in den Krieg gezogen ist und ihr Leben geopfert hat, eine Armee, die aus russischen, rumänischen, finnischen u.a. Soldaten und Offizieren rekrutiert wurde. Feiertage konsolidieren das kollektive Gedächtnis, stützen das kulturelle Gedächtnis. An einem Feiertag kehrt die Geschichte als Mythos wieder, verfestigt sich im kulturellen Gedächtnis, ritualisiert den historischen Mythos. In diesem Ritual erkennt die Masse ihre Gründungsmythen wieder, identifiziert sich mit ihnen. In einem Nationalfeiertag wird das nationale Selbstbewusstsein geprägt. Egal, welche sonstigen Prämissen bei einem Feiertag hervorgehoben werden, ein Grundmythos bleibt, um den sich die anderen Variablen gruppieren. Bei dem bulgarischen Feiertag hat es auch immer wieder unterschiedliche Auslegungen gegeben - mit der Wandlung der kulturpolitischen Verhältnisse wandeln sich auch die Auslegungen und die Schwerpunkte. Introvertiert tendieren die Auslegungen zwischen einer Überbewertung der innenbulgarischen Defensive auf der einen Seite und der Selbstbezichtigung eines Volkes, das auf die Befreiung und die Rettung geharrt hat, das seine eigene Befreiung nicht selbst erkämpfen konnte, auf der anderen Seite. Evident bleibt im Massenbewusstsein immer wieder die Tatsache, dass Befreiung und Rettung von außen gekommen sind, dass ein kleines Volk in jenem Vielvölkerstaat nicht allein seine Unabhängigkeit erkämpfen konnte und auf fremde Hilfe angewiesen war. Extrovertiert wurden Forschungen angestellt und es wurde explizit zwischen den imperialen Interessen vom zaristischen Russland und den Werbestrategien unter der gemischten Bevölkerung für den Krieg, wo eindeutig die Rekrutenschaft aufgerufen wurde "für die Rettung der slawischen und christlichen Brüder" nach den Massakern von zwei erfolglosen bulgarischen Aufständen. Es wurde immer wieder der in diesem Befreiungskrieg gefallenen russischen, rumänischen, finnischen Soldaten gedacht. Ein solcher Nationalfeiertag ruft die Massen der Befreiten, der Überlebenden, der Geretteten zusammen als Festmassen der Dankbarkeit, des Jubels des Überlebens und der Geretteten und deren Nachkommenschaft hervor, eine Anrufung der unsichtbaren und sichtbaren Massen der Geretteten und Überlebenden. Die unsichtbare Masse der Nachkommenschaft veranschaulicht sich hier in der Sichtbarkeit der Nachkommenschaft jener, die damals gerettet wurden und künftiger unsichtbaren Nachkommenschaften, die als Frucht dieser Rettung diesen Dank multiplizieren werden.

Dieser Feiertag ist gleichzeitig auch eine Anrufung der unsichtbaren Massen der Toten, die ihr Leben für diese Lebenden geopfert haben. Es ist ein Tag der Vergewisserung, dass Freiheit und Rettung nicht allein, sondern in Zusammenwirken mit anderen erkämpft werden kann. Und der "Stachel" der Rettung und des Gerettetseins wird jedes Jahr an diesem Tag hervorgerufen.

Wenn wir wieder auf die Handlungsweise der Bürger und der Vertreter unterschiedlicher Organisationen und Institutionen einschließlich der Regierung während der Jahre der "Endlösung der Judenfrage" in Bulgarien eingehen, können wir hinter all den Handlungen eine gemeinsame Haltung entdecken, einer Bevölkerung, die in Gefahr der Vernichtung steht, zu helfen, sie zu retten. Selbst bei den Regierungsmitgliedern und bei den Verantwortungsträgern dem Reich gegenüber ist eine entscheidende Ambivalenz in der Haltung zu beobachten: sie nehmen die Verordnungen des Reiches entgegen, verabschieden nicht sehr eindeutige Gesetze, fassen Beschlüsse, äußern sich für die Endlösung, sie tun aber im Sinne eines Massenbewusstsein, dem sie selber auch angehören und anheimgefallen sind, das Gegenteil. Man könnte den Eindruck bekommen, die Juden sind wegen der Schlampigkeit der bulgarischen Regierung gerettet worden. Diese "Schlampigkeit" hat aber ihren historischen und volkspsychologischen Hintergrund. So ist es z.B. undenkbar, dass die hohen Beamten in der Konsularabteilung des Außenministeriums ohne das Wissen des Ministers, der auch Ministerpräsident war, die Transitvisa für Juden ausgestellt haben - Denunzianten hat es immer gegeben. Genauso merkwürdig ist es, als einer der deutschorientierten Politiker, Dragan Zankov, die Petition für die Unterstützung der Juden, die auch in eine Feier der "bulgarischen Ehre" sich verwandelt, unterzeichnet, und als er dann von deutscher Seite daraufhin angesprochen wird, die Erklärung gibt, dass er dadurch auch den Deutschen zugute unterzeichnet habe, und auch die "deutsche Ehre" retten wollte, weil diese "Endlösungsmaßnahmen" den Deutschen einen schlechten Ruf bringen. Intellektuelle, Christliche, Politiker, sie haben gewiss aus eigenem Gewissen gehandelt, aber sie kamen alle von einem Massenbewusstsein und wurden von einem Massenbewusstsein unterstützt, welches die Gelegenheit hatte, den alljährlich gefeierten Dank bewusst oder unbewußt weiterzugeben, die von Anderen bekommene Rettung an Andere weiterzuleiten, zum Subjekt dessen zu werden, dessen Objekt sie historisch waren...

Die Geschichte wurde immer von den Siegern geschrieben. Sie wird sich nicht entscheidend ändern, wenn sie von den Besiegten geschrieben wird - nur die Spitze dreht sich um, der Historismus der Vernichtung bleibt. Was würde sein, wenn sie von den Überlebenden, von den Geretteten geschrieben wird, die den Stachel des Rettens behalten und die Scham des Opfers abgelegt haben? Vielleicht ist das eine Chance zum Überleben der Menschheit, ein Historismus der Rettung? Der 11. September 2001 hat gezeigt, dass nicht nur kleine Völker auf fremde Hilfe und gemeinsame Bemühungen für die Rettung der Menschlichkeit angewiesen sind. Dann wäre es wohl möglich, dem Völkermord in einem säkularisierten Sinne zu sagen, "Völkermord, du hast keinen Stachel mehr."

© Penka Angelova (Rousse/Rustschuk)

TRANSINST       Inhalt / Table of Contents / Contenu: No.14


ANMERKUNG

(1) Gilbert, Martin, Atlas de la Shoah, Paris, 1992, p. 153.

(2) THE SURVIVAL: A compilation of Documents 1940-1944. "Shalom" Publishing Center, Sofia 1995.

(3) The Survival, a.a.O., S.14 und S. 60 in Bulgarisch und in Englisch.

(4) The Survival, a.a.O., S.15 und 60.

(5) Aus dem Brief des militärischen Gesandten, Bekerle, in Sofia am 7.6.1943 an das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten in Berlin. In: Ständige Ausstellung "Die Rettung der bulgarischen Juden - 1941-1944. Jüdisches Kulturhaus, Sofia, Al. Stambolijski Str. 50.

(6) The Survival, a.a.O., S. 32 und 76.

(7) Ebd., S. 33 und 77.

(8) Ebd., S. 34 und 77.

(9) Es gibt auch eine Reihe außenpolitischer Gründe, wie englische und amerikanische Vertretungen, Radio London usw.

(10) Ebd., S. 37 und 80, Anm. 89.

(11) Ebd., S. 37, und 81, Dok. 110.

(12) Ebd., S. 35 und 79, Dok. NN: 47, 48, 58, 74, 129.

(13) Josif Ilel: Die bulgarischen Juden - Faktor im Kampf für ihr eigenes Überleben. In: Jahrbuch Band XXX, 1998/99. Almanach für Geschichte der Juden in Bulgarien, Sofia 1999. S. 115-133.

(14) Emil Kazakov: Die Rettung der Juden in Bulgarien und die Nationalfrage. In: Jahrbuch Band XXX, 1998/99. Almanach für Geschichte der Juden in Bulgarien, Sofia 1999. S. 103-115.

(15) Leontina Arditti: An meinem Ende steht mein Anfang. Wien, Milena Verlag 2002. Aus dem Bulgarischen übersetzt von Penka Angelova.

(16) Elias Canetti: Masse und Macht, Carl Hanser Verlag 1976. Bd. II.

(17) Angeregt für diese Betrachtung des bulgarischen Nationalfeiertages wurde ich durch eine Studie von Karl-Markus Gauß über den serbischen Nationalfeiertag und die Rekrutierung der unsichtbaren Masse der Toten, in der er die massenkonsolidierende Rolle des Nationalfeiertags untersucht. ( Karl-Markus Gauß: Der Mythos vom Amselfeld. In: Einladung zur Verwandlung. Essays zu Elias Canettis Masse und Macht. Hrsg. von Michael Krüger, Carl Hanser Verlag 1995. S. 512f.)

(18) Elias Canetti: Masse und Macht, Reihe Hanser, 1976, Erster Band, S. 41.


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Penka Angelova (Rousse/Rustschuk): Der Stachel der Rettung. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/angelova_rettung14.htm.

TRANS     Webmeister: Peter R. Horn     last change: 21.2.2002     INST