Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. Februar 2003

Die Gesellschaft der toten Radfahrer

Michail Blumenkrantz (Charkow)
[BIO]

 

Heute wird immer häufiger über das Ende des Postmodernismus gesprochen. Niemand weiß genau, was für ein Patient sich unter diesem Namen verbirgt, aber das "medizinische Gutachten" über seinen Tod wird schon vorbereitet. Man kann ein leidenschaftlicher Anhänger oder Ankläger dieser Richtung sein, doch man muss zugeben, dass der Postmodernismus nur die Rolle des Lackmus-Testes für moderne geistige und antigeistige Tendenzen gespielt hat.

Es kann sein, dass er als eine allergische Reaktion entstanden ist, die Reaktion auf den gewissenlosen Missbrauch der überindividuellen Werte, auf das brutale System der Wahn-Hierarchie, das von einem totalitären Regime vorgegeben wird. Aber die Allergie ist nicht nur eine schmerzliche Abstoßreaktion, sondern auch häufig eine schwierige Krankheit, die manchmal letal endet.

Wir sind drei Stadien der Dekonstruktion erfolgreich durchgegangen: den Tod des Gottes, den Tod des Autoren, den Tod des Lesers und allem Anschein nach durchleben wir jetzt das vierte Stadium - den Tod des Dekonstruktivisten. Wen könnten wir noch begraben?

Über Verdienste und Nachteile des Verstorbenen werden noch viele Grabreden gesprochen werden, aber schon jetzt erhebt sich die Frage nach dem Erben. Darüber hat einer meiner Kollegen die Vermutung ausgesprochen, dass an Stelle des Postmodernismus die Epoche der totalen Taktilität tritt. Mir scheint dieser Wechsel nur den nächsten Schritt, ein noch schwierigeres Stadium derselben Krankheit zu bedeuten. Der berühmte Blinde von Bruegel illustriert gut das Reich der totalen Taktilität und die Perspektive eines solchen Weges.

Trotzdem ist die Gefahr ziemlich real, denn ähnliche Tendenzen der Entwicklung sind in der heutigen Zivilisation begründet, und sie haben in Prinzipien der modernen Ästhetik schon ihre Äußerung gefunden. Unter anderem bemerkt Jean Baudrillard: "Das ganze Fühlbarkeits-Paradigma hat sich verändert; das Betasten ist nicht mehr eine implizite Eigenschaft der Berührung, es heißt nur die epidermische Nähe des Auges und der Gestalt, das Ende der ästhetischen Distanzierung..."(1)

Die Fortsetzung dieser Richtung würde die weitere Hypertrophie des Hedonismus, der in der westlichen Kultur vorgegeben ist, bedeuten und die Situation zur Folge haben, die Baudrillard metaphorisch so beschrieben hat: "Die toten Radfahrer setzten ihr Wettrennen auf der Trans-Sibirien Magistrale mit stark steigender Geschwindigkeit fort, indem sie die Pedale ihrer Fahrräder immer schneller drehten(2).

Und es geht noch nicht einmal darum, dass die Bestrebungen, die aus dem Hedonismus der modernen Gesellschaft hervorgehen, einen gewaltigen umweltzerstörenden Charakter haben, sondern darum, dass die Geschichte der vergangenen Zivilisationen schon gezeigt hat, dass der Hedonismus eine Sackgasse der Kulturentwicklung ist.

Auf der Suche nach immer neuen Vergnügen zerfließt das menschliche Leben in alle Richtungen und verliert die Tiefen-Dimension, ohne die es immer mehr an Sinn verliert.

Gleichzeitig taucht auch im Vergnügen selbst immer mehr ein neronischer Schatten auf. Eros und Thanatos diktieren ihre Regeln auf allen Bühnenbrettern unserer Kultur - von Literatur und Musik bis Malerei und Kinematografie. Das Pathos der totalen Dekonstruktion kitzelt angenehm unsere, von der Konsum-Langweile übersättigten Seelen.

In der Kinematographie gibt es eine Reihe provokanter Filme, in denen dieses Thema in Form einer intellektuellen Parabel abgebildet ist - von Ferreri's "Das Grosse Fressen" bis zum "Autounfall" von Kronenberg.

Besonders charakteristisch ist der letzte Film. Die Personen mit verlorenem Lebensgeschmack versuchen mit einer manischen Beharrlichkeit eine Situation des Autounfalls zu erleben. Es bewegt sie kein freudscher Todestrieb. Nur im Kontakt mit der Möglichkeit ihres eigenen Todes können sie sich noch lebendig fühlen. Von der Berührung mit dem Tod entsteht in ihnen ein starker vitaler Antrieb, der sich sofort in einen stürmischen Paroxysmus sexualer Leidenschaft auflöst. Die Personen fallen in Circulus vitiosus: von Thanatos zu Eros, von Eros - zurück zu Thanatos.

In denselben Kreis sind auch die Teilnehmer der Terrorgruppen geraten, nur ist ihr Eros in eine dominante nationale oder religiöse Idee sublimiert. Eros und Thanatos haben die Kraft in der verwüsteten und verdunkelten Seele eines modernen Menschen die äußersten Reizungen zu produzieren, und es ist kein Zufall, dass postmoderne Ästhetik mit der Wollust eines Geiers um diese, die Lüsternheit des Denkens aufwühlende Themen, Kreise zieht.

Die Analyse des heutigen Terrorismus, die sich nur auf soziale und wirtschaftliche Gründe begrenzt, sieht nur den kleinen Teil des Eisbergs. Für ein pragmatisches Denken ist es unfassbar, dass ein Mensch gegen seinen offensichtlichen Nutzen, gegen seine sozialen, wirtschaftlichen und anderen materiellen Interessen handeln kann. Die Terroristen, die am 11. September eine ungeheuerliche Aktion durchgeführt haben, stammten alle aus keinen armen Familien, hatten eine gute Ausbildung und die Möglichkeit, alle Güter der europäischen Zivilisation zu nutzen. Man kann natürlich solche Fälle auf Rechnung des religiösen Fanatismus oder einer Unzurechnungsfähigkeit setzen, aber sogar "der Große Inquisitor" von F. Dostojewski mit seiner äußerst skeptischen Einschätzung der menschlichen Natur ("denn sie sind schwach, lasterhaft, nichtig, und sind Rebellen") hat sich vorbehalten, dass "der Mensch lebt nicht vom Brot allein...", dass er außer dem Brot auch zu wissen braucht, wofür er eigentlich lebt, und "ohne eine feste Vorstellung davon, wozu er leben soll, wird der Mensch gar nicht leben wollen, und er wird sich eher vernichten, als dass er auf Erden leben bliebe - selbst dann nicht, wenn um ihn herum Brote in Fülle wären."(3)

Die westliche Demokratie hat eine Reihe der unumstößlichen ausschlaggebenden Vorteile vor den anderen Systemen der Gesellschaftsordnungen. Und vor allem - die Achtung vor der individuellen Persönlichkeit. Aber - paradoxerweise - ist sie heute soweit gekommen, dass selbst in ihr die Existenz der individuellen Persönlichkeit gefährdet ist. Die Persönlichkeit bedeutet nur den geistigen Vektor eines Menschen. Und es geht nicht um die Säkularisation der christlichen Kultur, sondern um die Zerstörung der sakralen Grundlagen des Daseins mit Nicht-gefordert-Sein der geistigen Dimension der menschlichen Existenz in der modernen post-industriellen Gesellschaft.

Das Ideal des Lebenserfolgs wird in dem Gesellschaftsbewusstsein als Karriere eines Show-Business-, Kino-, Sport-Stars oder eines erfolgreichen Geschäftsmannes vorgestellt.
Der Bereich der geistigen Interessen wird in die Peripherie des Gesellschaftslebens geschoben, es wandelt sich um in ein Freizeitverbringen, in ein Hobby der Sonderlinge oder ein Thema für marginale esoterische Studien. Das Monopol auf das geistige Leben gerät in die Hände der Kirchen- und Sekten-Organisationen, deren parteiische Unversöhnlichkeit und intellektuelle Armseligkeit die Abneigung eines Geistig-Intellektuellen auslösen.

Die Museen- und Philharmonie-Besuche sind für moderne Schätzer des Schönen insofern ein Weg zur Kultur, wie der Aufenthalt der Ägyptischen Pharaonen in ihren Pyramiden eine Form des geistigen Lebens war. Beides ist nur in Sarkophagen zu erhalten.

Ungewollt kommen mir die "Poeme über den Antichrist" des russischen Philosophen W. Solowjew in den Sinn. Sein Antichrist deklariert "die Errichtung für die ganze Menschheit der allerwichtigsten Gleichheit - der Gleichheit der allgemeinen Sattheit", und er sieht den Hauptunterschied zu Christ darin, dass der letzte "ein Wiedergutmacher der Menschheit gewesen ist, ich aber bin dazu gerufen, ein Wohltäter dieser teils gut gewordenen, teils nicht gut gewordenen Menschheit zu sein [...] Christ, als ein Moralist hat die Menschen durch das Gute und Böse geteilt, ich aber vereinige sie durch die Güter"(4).

Natürlich war Solowjew bereits gestorben, als im zwanzigsten Jahrhundert eine ganze Reihe der Wiedergutmacher der Menschheit an den Tag gekommen ist: von Lenin bis Chomeini. Er hat nicht geahnt, welcher Preis dafür bezahlt werden kann, um die Menschen durch das Gute und Böse zu teilen. Doch selbst der Eintritt solcher Erlöser in die Arena der Geschichte hat außer den sozialen, wirtschaftlichen und anderen, für die Wissenschaft würdigen Gründe, auch andere, nicht wissenschaftliche, aber trotzdem ganz reale Faktoren, und zwar die wunderliche Verwirrung der menschlichen Natur, die - außer dem irdischen Brot - manchmal auch den gewissen höheren Sinn des Daseins, eine Art von überindividuellen Werten braucht. Diese letztere ist eben eine unerschöpfbare Quelle der Wiedergutmacher der Menschheit, nämlich diejenige, die als einzige weiß, wie man alles gerecht einrichten sollte. Es wird aus einem vergifteten Brunnen getrunken, doch daraus folgt nicht, dass der Durst an sich kriminell ist.

Sogar noch mehr, ich wage zu denken, dass ohne diesen Durst die menschliche Geschichte schon längst mit der Epoche des schmatzenden und sich vermehrenden Protoplasmas geendet hätte. Als eine Illustration hätte wieder ein Film von Fellini ("Das Grosse Fressen") gepasst. Es darf nicht die geistige Dimension einer Person ungestraft amputiert werden. Wie sagt ein russisches Sprichwort: "Eine heilige Stelle kann nicht leer bleiben" - früher oder später wird sie von Dämonen besetzt.

Der sich selbst weggeworfene, hoffnungslos in eigener Einsamkeit verlorene Homo Virtuales, dieser ewige Nomade der träumenden Kultur, hegt seinen sehnlichsten Traum über die Begegnung mit dem Anderen. Wie ein Sirenenlied klingt sein unendlicher Monolog über den großen Wert des Dialoges mit dem Anderen. Unermüdlich, auf Tausende Töne singt der moderne Narziss eine begeisterte Hymne dem Anderen. Aber um Gottes Willen darf ihm kein unvorsichtiger Argonaut zu nah kommen: "Die aufrichtigste Liebe in der Welt ist eine Liebe zu dem, was man essen kann."(5). Kannibalismus ist eine radikale Form unserer Gastfreundschaft. Manche brauchen den Anderen, um sich selbst zu finden, andere - um sich selbst endgültig zu verlieren. Der Andere ist nichts mehr als unser "Alibi im Dasein"(6).

Mir scheint der postmoderne Diskurs noch lange nicht erschöpft zu sein. Die Hauptquelle - der Zustand der äußersten Zurückgezogenheit - bleibt unüberwindlich.

Die Projekte der Globalisierung, die nur mit Prinzipien der wirtschaftlichen und informationellen Verbindungen begründet werden - ohne Dialog der Kulturen - der der geistigen Annäherung dient, ist eine neue Abart der alten utopischen Denkweisen. Die heutigen Erbauer des Babelturms werden morgen mit demselben Enthusiasmus eine neue chinesische Mauer errichten.

Wie Antonij Blum richtig bemerkt hat, "die echte Einigkeit wird durch die Einzigartigkeit des Jedermann und nicht durch die Einheitlichkeit geschaffen"(7). Doch die menschliche Einzigartigkeit ist eben die verlorene vertikale Dimension. Wir aber leben schon längst in die Horizontale eingewachsen.

Die weitere Akzentuierung der Taktilität als eine Art des In-der-Welt-Seins kann nur die narkotische Komponente verstärken, die ohnehin schon in der heutigen sowohl Massen- als auch Eliten-Kultur dominiert. Taktilität als die einzige Möglichkeit, den Anderen wahrzunehmen, ist eine Dialog-Form der Nichtsehenden, der letzte Prunk des menschlichen Umgangs, der in der Gesellschaft der verstorbenen Radfahrer noch zugänglich ist. Und wer weiß, vielleicht wird morgen die verdrehte dämonische Geistigkeit der national-patriotischen und religiös-fundamentalistischen Bewegungen eine wahre Alternative zu dem säkularisierten Westen und zwar wie die verlockende Fata Morgana die Senkrechte in einer Welt der verlorenen Horizonte wird.

©  Michail Blumenkrantz (Charkow)

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ANMERKUNGEN

(1) Baudrillard, Transparenz des Bösen. Moskwa , "Dobrosvet", 2000. S.81.

(2) Ibid. S.151.

(3) F. Dostojewski "Die Brüder Karamasov". Leningrad, "Nauka", 1976,V.14. S 232.

(4) Vladimir Solowiew. "Poema ob Antichriste". Moskwa, "Misl", 1988, V. 2. S. 747, 741.

(5) Bernard Shaw. "Die Briefe". Moskwa, "Nauka", 1971. S. 253.

(6) Mikhail Bachtin. Zur Philosophie des Handlung. Moskwa, "Labyrint"1996. S.104.

(7) Antonij Blum. Die Antwort Sindesmos, "Russkaja misl". N. 4199, 27. Nov. - 3Dez.


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Michail Blumenkrantz (Charkow): Die Gesellschaft der toten Radfahrer. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002. WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/blumenkrantz14.htm.

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