Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. Februar 2003

Sprach- und Kulturchancen. Aussicht der Translation

Tamara Fessenko (Tambov, Rußland)
[BIO]

 

Das Übersetzen bestimmt die Existenz der Sprache und der Sprachkultur. Jacques Derridas Meinung nach gibt es eigentlich im gewissen Sinne keinen Text außer der Übersetzung: "Es gibt wohl nur Schrift in Übersetzung, wie die Genesis uns sagt" (Derrida 1988: 38). Sogar jedes Sprechen ist eine Art Übersetzung: "Reden ist Übersetzen - aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heißt, Gedanken in Worte, Sachen in Namen, Bilder in Zeichen" (Hamann 1950: 198). Das Übersetzen vermittelt sozusagen die Wechselwirkung von Wörtern und Gedanken, Sachen oder Bildern. Es geht dabei nicht nur um eine interkulturelle oder interlinguale Kommunikation, sondern um einen Vorgang innerhalb der Psyche und des Bewusstseinsinhalts der Menschen.

Daraus folgt, dass der Übersetzer nichts weiteres tun kann, als Differenzen seiner Denkweise und seiner Bewusstseinsgestalten zu produzieren und sie im Spiel der Sprache einzusetzen.

 

1. Zur Kultur und Denkweise

Es wird von uns die These vertreten, dass die Kultur eigentlich die Summe der geistigen Errungenschaften einer Zeit oder eines Volkes ist, bezogen auf die Bereiche von Musik, Kunst, Literatur, Wissenschaft usw., die auch Moral, Glaube, Sitte, Brauch, Gewohnheiten und Verhaltensformen einschließt, welche der Mensch im Prozess der Sozialisation erwirbt. Kultur ist also nicht etwas, was von Natur aus gegeben ist, sondern vielmehr das, was durch das Leben in der sprachkulturellen Gemeinschaft erworben wird.

Kultur muss eigentlich mit zum Wesen des Menschen gehören, sie ist ein Potential, das zum Menschen gehört, doch die jeweiligen Aktualisierungen dieses Potentials sind von Gruppe zu Gruppe und von Zeitperiode zu Zeitperiode verschieden. Kultur tritt dem Menschen nicht in einer einheitlichen Ausgestaltung gegenüber, weil jede menschliche Gesellschaft im Verlauf ihrer Geschichte ihre besonderen kulturellen Gestaltungen hervorbringt. Die menschliche Kultur hat sowohl ihre Einheit, als auch ihre Vielfalt.

In der Verkoppelung von Einheit und Vielfalt der menschlichen Kultur wird sowohl die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, als auch die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen widergespiegelt.

Zur Illustration dieser These ist zuerst das Problem der Einheit der Kultur zu verfolgen, auf das - wie bekannt ist - unter anderem drei Schulrichtungen wie Diffusionismus, Funktionalismus und Strukturalismus eine Antwort zu geben versucht haben.

Eine Diskussion über diese, so auch über andere Schulrichtungen gehört nicht in den Aufgabenbereich der vorliegenden Arbeit, im Rahmen derer versucht wird, das Verbindende der Einheit und der Vielfalt menschlicher Kultur zu entdecken.

Von den meisten Forschern wurde unterstrichen, dass sämtlichen sozialen und kulturellen Hervorbringungen der Menschheit ähnliche Strukturprinzipien zugrunde liegen, die nicht von den sozialen Beziehungen, sondern von der Organisation des menschlichen Gehirns abhängig sind, die jene Matrix liefert, mittels derer Strukturen sich selbst erzeugen.

Unsere Untersuchungen der Wechselwirkung von Denken, Bewusstsein, Sprache und Kultur (Fessenko 1999, 2002) ermöglichen es zusammenzufassen, dass im menschlichen Bewusstsein konzeptuelle und sprachliche Ebenen zu unterscheiden sind.

Mittels verbaler Zeichen wird vom Individuum ein Umweltfragment in sein Bewusstsein integriert, wo es durch sein konzeptuelles System verarbeitet wird. Das konzeptuelle System dient auch als eine ständige Kontextbedingung für den Gebrauch und das Verstehen der sprachlichen Zeichen, d.h. im Sprachsystem kann nichts anderes verbalisiert werden, als das, was auch im individuellen konzeptuellen System vorhanden ist. In jede ethnische Sprache wird deswegen eine bestimmte (für dieses Sozium typische) Konzeptualisierungsweise eingegliedert, die durch Umfeldwissen und soziokulturelle Hintergrundkenntnisse bedingt ist. Die Sprache ist sozusagen die Realität des Gedankens.

Zwischen der konzeptuellen und der sprachlichen Ebene funktioniert eine diffuse mental-linguale Ebene, die eigentlich die mentalen Einheiten in verbale (non-verbale) Zeichen transkodiert, d.h. ein sogenannter "mental-lingualer Translator", den wir als "Transform - Code" bezeichnen.

In diesem Zusammenhang ist an den Begriff der "inneren Sprache" zu erinnern, der zuerst vom russischen Literaturwissenschaftler Boris Eichenbaum und dem Prager Linguistischen Kreis eingeführt wurde. Die "innere Sprache" vermittelt zwischen dem Text und dem Subjekt, zwischen Sprache und Psyche und ist essentiell in allen Verstehens- und Kommunikationsprozessen.

L. S. Wygotskij kombinierte die bekannten Theorien miteinander und postulierte, dass die "innere Sprache" zwischen Gedanken und äußerer Sprache vermittelnd das Medium des sprachlichen Denkens bildet: "Sie ist dynamisch, inkonstant und fluktuierend und erscheint zwischen den geformteren und stabileren extremen Polen des sprachlichen Denkens - zwischen dem Wort und dem Gedanken" (Wygotskij 1974: 350). Relevant für unsere Untersuchung ist Wygotskijs Unterscheidung zwischen einer lexikalisch fixierten Bedeutung (Denotation) eines Wortes und seinem umfassenden Sinn mit der Dominanz des Sinns: "Der Sinn eines Wortes ist [...] die Gesamtheit aller psychologischen Fakten, die das Wort in unserem Bewusstsein erzeugt, der Sinn des Wortes ist also ein dynamisches, fließendes und kompliziertes Gebilde mit mehreren Bereichen verschiedener Stabilität. [...] In der inneren Sprache [...] saugt das Wort gleichsam den Sinn der vorhergehenden und der folgenden Wörter in sich auf und erweitert seinen Bedeutungsumfang fast ins Grenzenlose. In der inneren Sprache ist das Wort viel stärker mit Sinn geladen als in der äußeren" (ibid: 343, 347).

Den meisten Sprachträgern ist ein Teil der Assoziationen, die den Sinn eines Wortes ausmachen, gemeinsam, und ein Teil der Assoziationen ist von den individuellen Erfahrungen und Eigenschaften abhängig. Deswegen bleibt die innere Sprache immer individuell und "im letzten unverfügbar, muss auch unverfügbar bleiben, da sie im Personalen verankert ist" (Gössmann 1987: 42).

Die innere Sprache entsteht aus der Verbindung des Denkens und des Sprechens, aber nicht im "sprachlichen Denken", sondern unserer Auffassung nach, im mental-lingualen Translator, d.h. im "Transform - Code", der eigentlich eine Ableitung der "lingual-kognitiven Biographie" des Individuums ist. Mit Wittgensteins These vergleichend ist dieser Transform - Code mit der Denkweise verbunden, und die äußere Sprache stellt dafür das Material zur Verfügung.

Die Architektonik dieses Transform - Codes soll in einigen ihrer Strukturen universal (unifiziert) sein, sonst wäre die intra- und interkulturelle Verständlichkeit unmöglich. Das Funktionieren dieses Transform - Codes ist die Hauptkognitionsbasis jeglicher kognitiven Tätigkeit des Menschen, zu der auch das translatorische Handeln gehört.

Den Kernbereich der menschlichen Kognitionsbasis bildet das mentale Modell des nationalen Kulturraums, das eigentlich das Ergebnis der Konzeptualisierung des realen Kulturraums ist, nachdem er vom Individuum mittels verbaler (non-verbaler) Zeichen in sein Bewusstsein eingegliedert worden ist. Deshalb sind Sinnbilder und Bewusstseinsgestalten ethno-kulturell geprägt.

In dem Transform - Code kommt der enge Zusammenhang von Denken, Sprache und Kultur zum Tragen. Die mentale Leistung und die Kreativität ermöglichen den Sprachträgern fremdkulturelle Information (auch Textinformation) in die eigene mentale Welt zu integrieren und implizit vorhandenes Kulturwissen explizit zu machen. Das Funktionieren des Transform - Codes bestimmt einigermaßen die Einheit der Kulturen.

Nicht nur die Frage nach der Einheit, sondern auch nach der Vielfalt der Kulturen ist zentral in der vorliegenden Arbeit.

Verschiedene Positionen wurden zu diesem Problem von den Vertretern des Evolutionismus, Kulturrelativismus und der Kulturökologie vertreten.

Für den Evolutionismus lieferte, wie bekannt ist, die "Entwicklungshöhe" der euro-amerikanischen Kultur den Maßstab für eine Klassifikation aller übrigen Kulturen. Doch ist es falsch, die Vertreter dieser Schulrichtung als "Rassisten" im heutigen Wortsinn anzusehen, weil die Rassen von ihnen nicht als "Kulturträger", sondern als Formen und Arten der Gesellschafts- und Kulturentwicklung betrachtet wurden.

Die Evolutionisten sahen die Einheit der Kulturen nicht in der "biogenetischen Grundausstattung" des Menschen, sondern in der Gesamtheit der Kulturen.

Die Vertreter des Kulturrelativismus (vgl. R. Benedict, A. L. Kroeber, M. Meads, M. J. Herskovits u.a.) postulierten, dass jede Kultur ein "in sich abgestimmtes Gefüge eigener Ordnung" ist, in dem sich ein bestimmtes Leitmotiv, ein gemeinsames Grundthema befindet, das eigentlich die Wahrnehmungs- und Verhaltensformen seiner Mitglieder prägt. Jede Kultur besitzt ihrer Auffassung nach Wert- und Normensysteme, die den anderen Kulturträgern als abnorm gelten; d.h. jede Kultur bildet "ein Zentrum für sich". Von dem Kulturrelativismus wird eine Antwort auf die Frage nach der Einheit der menschlichen Kultur verweigert. Der kulturrelativistischen Auffassung entspricht eigentlich die Forderung nach der Kulturmannigfaltigkeitserhaltung. Die Gültigkeit der kulturrelativistischen Forschungsmethode bleibt unbestritten. K.-H. Kohl unterstreicht in diesem Zusammenhang folgendes: "Jede ethnologische Forschung hat die Einsicht in die Kulturgebundenheit unserer eigenen Normen, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen Rechnung zu tragen. Die Relativierung des eigenkulturellen Standpunktes bildet die Grundvoraussetzung eines jeden Versuchs, sich fremdkulturellen Wirklichkeiten verstehend zu nähern" (Kohl 1993: 150).

Die Vertreter der sogenannten "Kulturökologie" (J. H. Steward, M. Haris, R. A. Rappaport, M. H. Fried, R. L. Carneiro u.a.) verbinden die Kulturprozesse mit der sozialen Evolution und hohen Technologien. Sie verstehen unter "Kulturökologie" "die Erforschung der Prozesse, durch die eine Gesellschaft sich ihrer Umwelt anpasst" (Steward 1968: 337). Sie erforschten Kultur und Umwelt in ihrer wechselseitigen Einwirkung.

Was die Vielfalt der Kulturen anbetrifft, so wurde diese von den "Kulturökologen" ganz einfach erklärt: Jede Kultur hat sich in die Richtung entwickelt, die ihr von ihren jeweiligen Umweltbedingungen vorgegeben war.

Eine neue hermeneutische Dimension der Kulturanthropologie wurde in den letzten Jahrzehnten von C. Geertz eröffnet. Die modernen Forscher machen deutlich, wie Einzelpersönlichkeiten durch ihre Enkulturation geprägt sind und die Umwelt dementsprechend unterschiedlich konzipieren, was auch sehr oft von den Mitgliedern ein und derselben Kultur gemacht wird, wenn je nach Psyche, Alter und einer ganzen Reihe anderer Determinanten bald der eine bald der andere Aspekt als höchstrelevant in den Vordergrund tritt.

Wenn die Mannigfaltigkeit der Kulturen unserer Auffassung nach objektiv durch die Mannigfaltigkeit der Kultur-, Wahrnehmungs-, Vorstellungs-, Verhaltensformen bestimmt ist, so wird die Einheit der Kultur durch einheitliche Denkstrukturen und den universalen Transform - Code der Menschen geprägt.

Die Kultur- und Sprachchancen finden ihre Realisations- und Repräsentationsmöglichkeiten durch die Translation, denn andere Lebensformen, Verhaltensweisen, Denkkategorien, Normen und Werte beschreiben bedeutet immer ein Stück Übersetzungsarbeit. Eine andere Kultur gilt es so wiederzugeben, dass sie die fremden Kulturträger auf die eigenkulturellen Erfahrungen abzubilden vermögen.

 

2. Kultur- und Sprachrepräsentationen im Rahmen der Translation

Die kognitive Translationskonzeption hat manche übereinstimmende Positionen mit der "scenes-and-frames"-Übersetzungstheorie von M. Snell-Hornby: "Die Anwendung des scenes-and-frames-Ansatzes auf die Übersetzung sieht den Übersetzer als kreativen Empfänger, der zum einen die vom Text-frame gelieferte Information verarbeitet, zum anderen sein eigenes prototypisches Weltwissen einbringt, um seine eigene Szene hinter dem Text zu schaffen. Daraus ergibt sich zwangsläufig ein sehr dynamisches Konzept der Übersetzung. Die Szene hinter dem Text besteht aus x kleineren scenes, die aber keine statische Hierarchie aufbauen, sondern ein Gewebe aus einer großen Anzahl von sich gegenseitig beeinflussenden Elementen bilden, in das auch das prototypische Wissen des Übersetzers hineinverwoben ist.

Der Übersetzer ist also gleichzeitig Empfänger und Überträger, er empfängt und dekodiert Zeichen und baut die von ihnen bestimmte Szene auf. Dazu muss er zunächst seinen eigenen Erfahrungshintergrund zu Rate ziehen, um entscheiden zu können, welcher neue frame am geeignetsten ist, die Gesamtszene und die große Vielfalt an Teilszenen hinter dem Text für den speziellen Empfänger, an den die Übersetzung gerichtet ist, auszudrücken. Nach dem scenes-and-frames-Ansatz ist die Übersetzung also ein schöpferischer Prozess, der sich innerhalb eines Synthesezentrums abspielt, dem Denken des Übersetzers" (Vannerem/Snell-Hornby 1986: 192).

Das translatorische Handeln wird keinesfalls auf die Aktivierung von frame durch frame beschränkt. Es geht um die Umsetzung der Denk- und Wahrnehmungsformen und Sinnbilder aus der Ausgangskultur in die Zielkultur.

Das Hauptproblem besteht darin, dass der Übersetzer ungeachtet des mit dem AT- Autor gleichen verbalen Codes eine ganz andere kognitive Basis und ein anderes konzeptuelles System besitzt, wodurch er Konzepte und Sinnbilder der AT- Kultur zu transformieren hat.

Aus der Perspektive des Übersetzers existiert der Ausgangstext als verbale Projektion seiner Kognitionsbasis, weil er ihn in seinen mentalen Raum eingliedert und nach der kognitiven Verarbeitung durch die Zielsprache zu projizieren versucht.

Ausgehend von dem AT lässt sich das translatorische Handeln schematisch in folgende Schritte fassen: Der Übersetzer liest den AT, "macht sich" in der AS "ein Bild" von ihm, überträgt dies in seinen zielsprachlichen Transform - Code und erarbeitet daraus schließlich den ZT.

Die mentale Leistung und die Kreativität ermöglichen dem Übersetzer fremdkulturelle Textinformation in die eigene Textwelt zu integrieren und implizit im AT vorhandenes Kulturwissen im ZT explizit zu machen.

Das wird jedoch nicht von selbst verwirklicht. Wie H. Heine einmal sagte, "übersetzen heißt, in Ketten tanzen". Viele Schwierigkeiten hat der Translator beim Übersetzen von Sprichwörtern, Metaphern, Redensarten usw.

Das Sprichwort ist eigentlich die "Darstellung eines einheitlichen und für sich abgeschlossenen Gedankens" (Wahl 1877: 111). Die Auslegung der Sprichwörter durch mehrere Menschen sowie auch ihre Übersetzung führen oft zu Varianten und Missverständnissen. Zu berücksichtigen sind in erster Linie die sprachlichen Eigentümlichkeiten, denn in den Sprichwörtern kommen noch Begriffe vor, die heute eine andere Bedeutung haben oder vergessen sind, wie z.B. "Schlecht macht alle Dinge recht" ("schlecht"=schlicht), oder in der sprichwörtlichen Redewendung "mit Kind und Kegel" ("Kegel"= uneheliche Kinder). Es wird hier sozusagen die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wiedergegeben.

Bei der Translation ist zu berücksichtigen, dass es Sprichwörter gibt, die ihre Aussage unverhüllt ausdrücken, und die sich zur Darstellung eines Sachverhaltes der Metaphern bedienen.

Die ersten lassen sich adäquat übersetzen und haben äquivalente fremdsprachige Versionen, z.B.: "Entweder, oder", "Einer kann nicht alles", "Ende gut, alles gut", "Erst besinn's, dann beginn's" u.a.

Die "metaphorischen" Sprichwörter möchten uns auf die Aussage aufmerksam machen, die durch sie dargestellt wird und die aus dem Sprichwort erst "herausgelesen" wird. Wenn man die Struktur der dargestellten Situation "entdeckt" hat, so kann man das Sprichwort auf jede strukturgleiche Situation anwenden und äquivalent in der ZS wiedergeben, z.B. "Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus", "Der Teufel ist nicht so schwarz, als man ihn malt", "Der Fisch fängt am Kopf an zu stinken", "Langsam, aber sicher" u.a.

Was passiert beim Sprichwortübersetzen? Zuerst versucht der Übersetzer die im Sprichwort dargestellte Situation zu verstehen und danach von dem konkreten Inhalt des Sprichwortes zu abstrahieren. Das Sprichwort wird in bestimmten Punkten zu einer strukturgleichen Analogie für den Übersetzer. Per Analogieschluss wird es ihm möglich, das Sprichwort auf seine Situation zu beziehen.

Der Übersetzer kann auch ein Sprichwort nicht sofort verstehen, was durch folgendes zu erklären ist:

  1. Unkenntnis der im Sprichwort enthaltene Begriffe;
  2. "Nicht-Geläufigkeit" der historischen Situationen, in der das Sprichwort Gültigkeit besitzt;
  3. "Unbegreiflichkeit" des psychischen Inhaltes des Sprichwortes.

Meistens wird die Sprichwortbedeutung vom Übersetzer auf den konkreten Anlass übertragen. Eine unerlässliche Interpretation braucht der Übersetzer für das Verständnis einer psychologischen Bedeutung des Sprichwortes, um seinen Inhalt in eine situationsübergreifende Aussage zu übersetzen. Die psychologische Bedeutung aufzudecken scheint für den Übersetzer wichtig zu sein, weil er den Anspruch der Sprichwörter an das kognitive System der Rezipienten "aufdecken" muss, um sie im optimalen Kontext zu benutzen.

Die Sprichwörter können einerseits metaphorische Beobachtung explizieren. Für die Erfassung der psychologischen Bedeutung muss sich die Übersetzerinterpretation auf die gemeinsame Struktur aller möglichen Anwendungssituationen beziehen. Das gilt besonders für Sprichwörter, die Übertreibung oder Spott (Ironie) ausdrücken, wie z.B.: "Er kann fliegen - ohne f", "Wer einkauft hat hundert Augen nötig, wer verkauft nur eins", oder ein solches Sprichwort, das fast in jeder Sprachkultur eine ganze Sprichwortklasse repräsentiert: "Es ist besser ichts, denn nichts, sagte die Mücke und pisste in den Rhein".

Obwohl ein Widerspruch (eine Inkonsistenz) zwischen dem tatsächlich Gemeinten und der Aussage in solchen Fällen besteht, erlaubt das konzeptuelle System des Übersetzers ihm den inneren Sinn des Gemeinten zu verstehen und ZS - Versionen zu finden.

Es gibt auch Sprichwörter, die in einer Metapher ihre Gültigkeitsbereiche präsentieren. Der Übersetzer braucht unerlässlich eine Sinn- und Strukturinterpretation, um die impliziten Konditionierungen auf die psychologische Bedeutung des Sprichwortes zu übertragen, wie z.B.: "Wer den Aal hält beim Schwanz, dem bleibt er weder halb noch ganz". Man muss merken, dass die Gültigkeitssituationen, in denen dieses Sprichwort Verwendung findet, eindeutig eingeschränkt sind, so dass die Interpretation heißen sollte: "Wer eine Sache falsch anpackt, wird verlieren". Der Zeitpunkt der Sprichwortbenutzung ist abstrakt ausgedrückt: man darf sich nicht zu früh freuen, denn wenn man "den Aal" falsch hält, entkommt er in beliebiger Zeit.

Relevant für den psychologischen Inhalt des Sprichwortes ist das Konzept der Absichten, weil eben Absichten (oder Motive) dem menschlichen Handeln zugrunde liegen. Die Absicht wird von uns als eine zeitlich instabile kognitive Gedächtnisstruktur interpretiert, deren Informationskomponente (Gedächtnisinhalte) die menschlichen Informationsverarbeitungsprozesse und damit das Handeln steuern. Mehrere Absichten können gleichzeitig generiert werden, die dann in dem sogenannten "Absichtsgedächtnis" gespeichert werden müssen, um situationsbedingt zur "Behandlung" ausgewählt zu werden. Die "Absichtsauswahl" wird von mehreren Kriterien bestimmt, wie z.B. von der Erwartung, Wert, Dringlichkeit usw. Nach der befriedigenden Erledigung zerfällt dann die "ausgewählte" Absicht und auf dieselbe Weise kann eine neue Absicht handlungsleitend erledigt werden.

Positiv wird eine Überbewertung der aktuellen Motive zum Ausdruck gebracht, die eine Absichtsauswahl bestimmen, wie z.B.: "Nach schwarzen Kirschen steigt man hoch", "Treibe jeder, was er kann", "Was du nicht heben kannst, lass liegen" usw.

Für den Übersetzer ist relevant zu folgern, dass die Existenz und Funktion der Sprichwörter ihm einen Hinweis auf die Möglichkeit verschiedener Sichtweisen geben. Er muss beachten, dass die Reflexion über die Bedeutung der Sprichwörter auch das Verständnis für die Fülle der Handlungs- und Situationsalternativen fördert. Deswegen kann völlige Identität zwischen AS-Sprichwörtern und ZS-Versionen nur in Ausnahmefällen erreicht werden, weil das Übersetzen eigentlich ständige Interpretation bedeutet, die immer wieder neu und unwiederholbar ist. Die Übersetzungsversionen müssen zu AS-Invarianten nicht gleich, sondern gleichwertig sein.

Als Übersetzungsproblem aus Sicht der Sprachchancen erweisen sich auch Phraseologismen und andere Idiome aufgrund ihrer Mehrgliedrigkeit, Bildlichkeit, Sinnkomplexität und psychologischen Bedeutung. Manche Idiome stimmen in verschiedenen Ethnosprachen überein, die anderen können "leicht verstanden oder entlehnt" werden. In solchen Fällen lassen sich als Ursache für solche Übereinstimmungen allgemeine menschliche Erfahrungen und kognitive Mechanismen feststellen, die dem Übersetzer (und anderen Nichtmuttersprachlern) sprachliche Einheiten aus fremden Kulturkreisen verstehen lassen, weil jedoch das zugrunde liegende "Metaphermodell" (in der Terminologie von Lakoff 1987) in solchen Idiompaaren, wie z.B. "klast' vse jaica v odnu korzinu" (russisch) und "alle Eier in einen Korb legen" (deutsch) identisch ist.

D. Dobrovol'skij weist darauf hin, dass man "nur in dem Fall von kognitiv signifikanten Unterschieden metaphorisch motivierter Idiome sprechen [kann], in dem unterschiedliche konzeptuelle Metaphern vorliegen. Der Beschreibungsapparat von Lakoff weist in dieser Hinsicht ein bedeutendes Erklärungspotential auf und ermöglicht es, Ergebnisse zu bekommen, die auch ohne Bezug auf eine ,Kulturspezifik' interessant sind. So kann die kognitive Metapherntheorie u.a. erklären, warum bestimmte fremdsprachige Idiome leicht verstanden und sogar entlehnt werden können und andere nicht. Das hängt in erster Linie davon ab, ob die konzeptuellen Metaphern, die hinter den entsprechenden sprachlichen Ausdrücken stehen, in der rezipierenden Sprache bekannt sind" (Dobrovol'skij 1999: 51).

In jeder Ethnosprache begegnen sich oft Aussagen, wo idiomatische Ausdrücke von anderen Kulturträgern nicht ohne weiteres verstanden werden. Z.B. das Idiom "Tambovskij wolk tebe tovarishch" (wörtlich "Tambover Wolf ist dein Freund") ist für nicht russische Muttersprachler unverständlich, weil die in diesem Idiom fixierten Vorstellungen aus fremdkultureller Perspektive nicht nur vom kognitiven, sondern auch vom kulturellen Standpunkt aus spezifisch sind. Die innere Form dieses Idioms fußt auf der kultur-historischen Vorstellung der Nützlichkeit und des Gemeinnutzens von Wolffellen, die vor zwei, drei Jahrhunderten auf dem europäischen Markt sehr gefragt waren. Man kann behaupten, dass die kognitiven Voraussetzungen für das Entstehen des Idioms "Tambovskij wolk tebe tovarishch" als kulturspezifisch angesehen werden können: "Als kulturspezifisch können nur die sprachlichen Erscheinungen eingestuft werden, die [...] kulturell bedingte Ursachen und /oder kulturell signifikante Konsequenzen haben" (ibid: 54). Die wörtlichen Übersetzungen solcher Idiome müssen mit einem kulturellem Kommentar versehen werden.

 

Zusammenfassung

Ziel dieses Beitrages war, den Blick auf einen neuen Aspekt des vieldiskutierten Themas der Kulturgleichheit und -unterschiedlichkeit zu richten. Als Basis für Interpretation und Übersetzen der sprachlichen und kulturellen Phänomene dient der individuelle "Transform - Code", der eigentlich eine Ableitung der "lingual-kognitiven Biographie" des Individuums ist und dessen Architektonik in einigen ihrer Strukturen universal (unifiziert) sein soll, sonst wäre die intra- und interkulturelle Kommunikation nicht möglich.

Die Ethnosprachen haben ihre national-kulturelle Komponente, die auf der inneren Form der sprachlichen Einheiten basieren und mit kognitiv relevanten zwischensprachlichen Unterschieden in Verbindung stehen. Darauf basiert unsere Schlussfolgerung über das Vorhandensein von Korrelationen zwischen konzeptueller Struktur, kulturellen Codes und sprachlichem Ausdruck.

Es kann nicht behauptet werden, dass zwischensprachliche Kontraste aus Sicht der Ethnokultur und menschlicher Kognition signifikant sind. Die Aufgabe der Translation besteht in der Umsetzung der Denk- und Wahrnehmungsformen und Sinnbilder aus der Ausgangskultur in die Zielkultur.

© Tamara Fessenko (Tambov, Rußland)

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LITERATURVERZEICHNIS

Jacques Derrida: Ulysses Grammophon, Berlin 1988.

Dmitrij Dobrovol'skij: Kulturelle Spezifik in der Phraseologie. In: Phraseologie und Übersetzen, Hrsg.: A. Sabban, Bielefeld 1999, S.41-58.

Tamara Fessenko; Real'nyj mir i mental'naja real'nost': Paradigmy vzaimootnoshenij, Tambov 1999.

Tamara Fessenko: Spezifika nazional'nogo kul'turnogo prostranstva v serkale perevoda, Tambov 2002.

Wilhelm Gössmann: Theorie und Praxis des Schreibens. Wege zu einer neuen Schreibkultur, Düsseldorf 1987.

Joh. Georg Hamann: Aesthetica in nuce (1762), Sämtliche Werke. Hrsg.: J. Nadler, Bd. II, Wien 1950.

Karl-Heinz Kohl: Ethnologie - die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung, München 1993.

J. H. Steward: Cultural Ecology. In: The Encyclopedia of Social Sciences, New York, V. 4, P. 337-344.

Mia Vannerem u. Mary Snell-Hornby: Die Szene hinter dem Text: "scenes-and-frames semanties" in der Übersetzung. In: Übersetzungswissenschaft. Eine Neuorientierung. Hrsg.: M. Snell-Hornby, Tübingen 1986.

Lew Semjonovich Wygotskij: Denken und Sprechen. Frankfurt 1874.


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Tamara Fessenko (Tambov, Rußland): Sprach- und Kulturchancen Aussicht der Translation. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/fessenko14.htm.

TRANS     Webmeister: Peter R. Horn     last change: 13.2.2003     INST