Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. Februar 2003

Interkulturalität und Alterität in fiktionalen Reiseberichten

Gabriella Hima (Budapest)
[BIO]

 

Die Frage nach dem Wesen des Menschen, nach seiner Natur und seiner Lebenswelt, welche die Anthropologie als Wissenschaft einmal begründete, reichte von Anfang an über die eigene Lebenswelt hinaus. Fragen, wie: Mittels welcher Bilder kann das Fremde dargestellt werden bzw. welche Alternativen zu vertrauten Vorstellungsmustern eröffnen sich, welche Varianten des bekannten Menschenschlags zeigen sich - tauchten mit den ersten Reisen auf. Reiseberichte über völlig unbekannte Formen sozialer und politischer Ordnungen oder über äußerst merkwürdige Dispositionen des fremden Alltagslebens thematisieren den Unterschied zwischen dem scheinbar Bekannten und dem völlig Unbekannten. Die Diskurs- und Systemtheorien, welche als theoretische und methodologische Grundlagen für Alteritäts- und Interkulturalitätsforschungen dienen, gehen davon aus, daß das Fremde keine vorfindbare Gegebenheit, sondern eher ein Relationsbegriff ist, also nicht von vornherein wahrnehmbar, sondern eine Form des In-Beziehung-Setzens. Nicht der Unterschied macht einen zum Fremden, sondern seine Institutionalisierung, welche überhaupt zur Wahrnehmung des Unterschieds führt. Selbst die Differenz ist eine Bedeutungszuschreibung.(1) Die Forschungsrichtung zu Reiseberichten hat sich daher in den letzten beiden Jahrzehnten umgedreht: ihr Gegenstand ist nicht mehr die beschriebene Kultur, sondern die Dispositionen der beschreibenden Kultur. Der Reisebericht ist keine historische Quelle mehr, sondern nur Dokument des Wahrnehmenden.(2)

Die Untersuchungen des Fremden beschränkten sich jedoch von Anfang an nicht auf die Gattung des Reiseberichts, sondern umfaßten auch die narrativen Entwürfe der Begegnung mit dem Fremden in fiktionalen Texten. Die writing culture-Debatte, eine Bewegung innerhalb der anglo-amerikanischen Ethnographie, stellt die strikte Unterscheidung zwischen Faktum und Fiktion in den Beschreibungen fremder Kulturen in Frage. Demgegenüber betont sie die "fiktionalen-allegorischen Elemente wissenschaftlicher Beschreibungen".(3)

Die fiktionalen Texte eignen sich das Fremde an oder - im Gegenteil - grenzen es aus. Inklusion und Exklusion sind zentrale Fragen der Fremdenbeschreibung. Selbst die Abgrenzung kann positiv sein, wenn das Fremde solchen Wissensordnungen gegenübergestellt wird, welche ihre Orientierungsleistung schon verloren haben. In diesem Fall wird das Fremde als utopistisches Reich zum Gegenbild der gewöhnten Ordnung, das sich nur irgendwo weit entfernt - in der Fremde - befinden kann. Der andere Ort ist die Fremde als "Gegenplazierung" der eigenen Kultur, das perfekte Gegenbild, das im Gegensatz zur Utopie, nicht das Nirgendwo, sondern das Anderswo - mit Foucaults Wort: "Heterotopie" - bezeichnet. Das Anderswo ist zwar faszinierend, aber kaum auf die Heimat übertragbar. Es ist zu fest als Ort des Fremden etabliert, als daß es ein Modell für das Eigene werden könnte.

Der Begriff Fremde, der die Beziehung von Nähe und Abstand markiert, bezeichnet vor allem räumliche Bewegungen, deshalb ist er gattungsmäßig mit der Reiseliteratur verbunden. Jener Topos, laut dem der Bewährungsraum des Helden in der entfernten Fremde angesiedelt werden muß, ist zu dem wirkungsmächtigsten Gattungsmuster der abendländischen Literatur geworden, vom antiken Epos über den Ritterroman bis zum Bildungsroman: der Held verläßt den vertrauten heimatlichen Boden, um seine Identität neu zu bestimmen oder die Mission seiner Selbstfindung in der Welt zu erfüllen. (Das Wort "fremd" hängt auch etymologisch mit dem "Reisen" zusammen: vgl. die lateinischen Wörter peregrinus [fremd] - peregrinor [umherreisen]; auf die gotische, althdt., mittelhochdt. Partikel fram [entfernt] geht die englische Präposition from zurück, wie auch das deutsche fremd in doppelter Bedeutung [Fernher-Sein bzw. Nicht-Eigen-Sein, Nicht-Angehören].)(4)

Fremdheit als Nicht-Zugehörigkeit zu einem sozialen Verband bezeichnet das Unvertraute. In diesem Sinn - also als "Unvertrautheit" - unterscheidet der Philosoph Bernhard Waldenfels zwischen den verschiedenen Stufen der Fremdheit, nach denen sich die "Zugänglichkeit des Unzugänglichen" strukturiert. In ein neues Spannungsverhältnis geraten die verschiedenen kulturellen Interaktionsformen, wenn durch Reise geographische und/oder soziale Distanz abgeschafft wird. Zugleich aber eignet diesem räumlich-sozialen Aspekt des kulturdifferenten Beziehungsverhältnisses auch eine temporale Komponente, insofern in der wechselseitigen Wahrnehmung unterschiedliche Zeithorizonte und Entwicklungsstadien aufeinander treffen. In diesem Sinn spricht auch Ortfried Schäffter über die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen".(5)

Die narrativen Entwürfe der Begegnung mit dem Fremden stellen ein dialogisches Modell her, von dessen Konstruktionsprinzipien die Reise eines der wichtigsten ist. Im Ramen dieses Workshops werden wir Reisegeschichten untersuchen, in denen der Held das Fremde erfährt und in seinen Reflexionen auf diese Erfahrung hin das Eigene neu denkt oder neu erlebt oder sogar neu kritisiert. Alle Texte wurden aus dem Erzählband des ungarischen Schriftstellers Dezsö Kosztolanyi ausgewählt (auch in deutscher Fassung vorhanden). Als Einleitung habe ich zwei Früh-Erzählungen ausgesucht (1913), alle anderen stammen aus den späteren Kornel Esti-Geschichten (1925-36).

Das deutsch-österreichische Ungarn-Schema von einem unkultivierten, zurückgebliebenen Volk(6) wird von Kosztolanyi sowohl als satirisches Nationalporträt in der Erzählung Bácska (1913) als auch als fatales Schicksal in der Erzählung Der närrische Ungar (1913) verarbeitet. In Bácska entspricht der Hauptdarsteller den Ungarn-Stereotypen, indem er diese loswerden will. Er versucht seine europäische Bildung dem französischen Gast dadurch zu beweisen, daß er ihn auf betont nicht-ungarische Art amüsiert. An dieser vermeintlich europäischen Gastfreundschaft stirbt der Franzose fast. Die Komik der Handlung basiert auf dem Verkennen sowohl ungarischer als auch westlicher kultureller Verhaltensmuster seitens der Hauptfigur. In der Erzählung Der närrische Ungar (1913) geht der Hauptdarsteller auf Weltreise und durch sein skandalöses Benehmen gerät er in den Ruf des "närrischen Ungarn", während er seinerseits alle anderen Nationen für verrückt hält. Die wechselseitige Fremdheit mündet hier in gegenseitige Unvereinbarkeit. Der Hauptdarsteller wird durch einen doppelten Schicksalschlag - hervorgerufen übrigens auch durch das Streben nach Kultiviertheit - wahnsinnig. Erst nach dem Tod beider Söhne fängt er an, den ungarischen Stereotypen zu entsprechen, die in seinem Sterben ad absurdum geführt werden, und zwar so, daß die Identifizierung mit dem Schema das Schema auflöst:

Er war gar kein Ungar mehr, nur noch ein Orientale, eine dicker, verkommener, asiatischer Stammeshäuptling. (E, p. 319) [88](7)

Das paradigmatische Ungarn-Stereotyp jenes hoffnungslos an seiner Heimaterde haftenden Menschenschlags wird in der Hauptfigur der Erzählung Bandi Cseregdi in Paris, 1910 aus dem Jahr 1925 travestiert.(8) Aus der für ein halbes Jahr geplanten Studienreise des Bacskaer Jurastudents wird nur ein Tagesausflug, und auch dieser scheitert fast schon im Zug nach Paris, wo der junge Patriot, mit österreich-ungarischem Paß, vom französischen Schaffner für einen Österreicher gehalten wird. Der todbeleidigte Bandi versucht, ohne Französisch-Kenntnisse auf deutsch zu erklären, daß er nicht in jener Sprache heimisch ist, welcher er sich gerade bedient. Nach seiner Ankunft in Paris flüchtet er aber vor der deutschen Sprache des österreichischen Beamten der österreich-ungarischen Botschaft in taubstumme Gesten - ebenfalls aus Beleidigung. Und während Bandis Verhalten zur deutschen Sprache durch sein verletztes Nationalgefühl bestimmt wird, ist sein Verhältnis zu der fremden Stadt Paris von seinem überempfindlichen Geruchsinn geprägt. In seiner Geruchstypologie der Weltstädte steht Paris mit dem Geruch nach ausgelassener Butter weit hinter Budapest und Wien. Auch sonst entspricht Paris in keiner Hinsicht Bandis Erwartung. Der einzige Ort, wo er sich wohl fühlt, ist die örtliche "Ungarische Csarda". Für die Heimatgefühle gibt Bandi am ersten Abend sein ganzes Geld aus und nachher verhält sich auf den Straßen von Paris ähnlich skandalös wie der alte närrische Ungar. Beide bieten dem westlichen Publikum ein "Mordsspektakel".

Als Inversion dieser Erzählungen läßt sich das XII. Kapitel des Erzählzyklus Kornel Esti über den schlafenden Präsidenten, Baron von Wüstenfeld lesen.(9) Diesmal wird die starke Stereotypisierung für die Darstellung der Deutschen angewandt.(10) Auch diese Episode spielt auf eine beliebte Variante des Reiseromans - nämlich auf den Bildungsroman - an, ähnlich wie die Geschichte von Bandi Cseregdi, und zwar wortwörtlich: der reisende und gleichzeitig erzählende Hauptdarsteller ist ausgerechnet mit dem Ziel nach Deutschland - ins Land der perfekten Individuen -gefahren, um zu studieren und sich zu bilden.

Kornél Esti verläßt auf Befehl des Vaters - nicht seine Heimat, sondern - das andere fremde Land, Frankreich, um sich in einer neuen Kultur, Mentalität und Sprache - nämlich in der Deutschen - einzunisten. Die neue fremde Welt läßt ihn seine Identität neu bestimmen. Das Fremde als Konstitutionsprinzip des Eigenen wird zur Logik der Narration. Der Schwerpunkt der Erzählung ist zwar nicht die Beschreibung der Deutschen, sondern nur des schlafenden Präsidenten, der jedoch in einem gewissen Sinn den National-Charakter der Deutschen verkörpert. Darauf verweist auch der Name des Städtischen Bildungsvereins, dessen Präsident Baron von Wüstenfeld war, hin: "Germania".

Die Rahmenerzählung, in der auf der Ebene des Dargestellten zugleich die Ebene der Darstellung selber ins Spiel kommt, stellt die Fiktion der unmittelbaren Erfahrung her. Um über phantastische Phänomene zu berichten, die alle Verstehens- und Deutungsmöglichkeiten übersteigen, bedient sich der Erzähler der persönlichen Erinnerung. Die Erinnerung gleicht einerseits den temporalen Unterschied zwischen Geschehenem und Erzähltem aus, andererseits liefert sie durch den persönlichen Ton die Voraussetzung dafür, daß die Phantastik und provozierende Alterität des Fremden überhaupt glaubwürdig wird. Die literarische Form, die erlaubt, die Wunder des Fremden zur Kenntnis zu nehmen, ist der Reisebericht. Er entwirft ein Bild, als ob es tatsächlich wahrgenommen geworden wäre und deshalb auch als wahr anzunehmen ist. Die Faszination der Wunder, die höchst verblüffenden Beobachtungen und Behauptungen wirken durch den persönlichen Ton authentisch.

Die neue fremde Kultur wird durch die Gegenüberstellung der eigenen und der schon einverleibten alten fremden Kulturen wahrgenommen, während freilich auch der Wahrnehmende selbst wahrgenommen wird. Die häufigste Form der gegenseitigen Wahrnehmung ist die Überraschung. (Beispiele: Emailleschilder "Zum Meer" - ganz bis zum Meer; auch beim Böttchermeister (Hausherr) erwartete ihn "eine Reihe von Überraschungen"; nachdem sich ihm die Türen der besten Häuser öffneten, "verwunderte" er sich "über das eine und das andere"; in der Droschke saß er "starr vor Staunen" über die sprachliche Kompetenz des Kutschers, dann "war die Reihe am Kutscher zu staunen".) Das wechselseitige Staunen ist die Form der gegenseitigen Unverständlichkeit (Ein rätselhaftes Volk, das kann man wohl sagen. Kein anderes Volk steckt so voller Rätsel [...] Ich wiederhole: Unerforschlich ist dieses rätselhafte Volk [...] Eine phantastische Welt [...] Es kam häufig vor, daß ich nicht verstand, was sie sagten. Dann wieder verstanden sie nicht, was ich sagte. Diese beiden Mängel hoben einander nicht etwa auf, nein, sie verstärkten sich nur noch. 700-701. [120]) Den gegenseitigen Beurteilungen liegen nicht etwa Wahrheits- oder Realitätskriterien zugrunde, sondern unterschiedliche Wahrnehmungsmuster und mentalitätsgeschichtliche Dispositionen. Esti zieht den Schluss in der Frage enthält diese Konklusion: Aber wer kann schon ein anderes Volk verstehen? (700) [119]

Der Text bewegt sich innnerhalb kultureller Muster und diskursiver Formationen, "die regeln, in welcher Weise über das Fremde überhaupt gesprochen werden kann, welche Topoi seine Beschreibung dominieren, welche Stereotypen angewandt werden und welcher Platz dem beschreibenden Subjekt zugewiesen ist".(11) Kosztolanyis Text ist übersät von zugespitzten Stereotypen, mythologischen, philosophischen und literarischen Gemeinplätzen, markierten (Hölderlin, Bach, Goethe) und unmarkierten (Teutoburger Wald, Kant, Walter von der Vogelweide) intertextuellen Beziehungen. "Dieses kulturreflexive Erzählen geht mit einer Reflexion auf den erzählerischen Prozess einher".(12) Das Fremde als die neue, nicht aneigbare Erfahrung gewinnt erst durch die Kontrastierung zu einem realisierten Eigenen, kulturell Bekannten und Vertrauten, Kontur. "Das kulturreflexive Erzählen ist somit auf einen explikativen Diskurs angewiesen, bei dem die episodische Schilderung des Fremden auf vertraute, ästhetisch vermittelte Wahrnehmungsmuster rekurriert." Das Eigene wird durch das einverleibte Fremde (Lateinische) unterstützt: z.B. Notwendigkeit der Emailleschild (dt.) - Überflüssigkeit (ung., lat.), Größe als Attribut von Frauen (bei den dt. Füße u. Seele) - (bei den franz. Augen), "die schülerhaft-gesunde gute Laune der Deutschen - "dicke Schweinereien der buntschillernden Theaterwelt auf dem Montmertre". Die Dialektik von Inklusion und Exklusion verläuft im Bezugssystem zweier fremden Kulturen, wo die früher angeeignete schon als Eigene funktioniert.

Der Erzähler akzeptiert scheinbar die Professorenrolle der Deutschen, die in allen Lebensbereichen vom Perfektionsdrang getriebenen werden, aber gefühlsmäßig verhält er sich ihnen gegenüber ambivalent - er schwankt zwischen Bewunderung und Abscheu. Diese Ambivalenz kippt dann in die negative Richtung um - in einen ironischen Wunsch: Nur unter Deutschen möchte ich krank sein und sterben. Aber leben will ich lieber woanders [...] (700) [120] Dieses Woanders erhält eine konkrete Gestalt: den eigenen Ort (Ungarn) und den schon zum eigenen assimilierten Anders-Ort (Frankreich). Deutschland, das Land der Wissenschaftler, wird zu einen Ort erklärt, wo man nicht leben kann auch durch den Namen des Hauptdarstellers: Wüstenfeld. Der erste Satz des nächsten Absatzes bestätigt noch einmal dieses Urteil: Nun, ich war nicht hingefahren, um zu leben, sondern um zu lernen. (700) [120]

Das Erlebnis des Reisenden in der Erzählung Omlette à Woburn(13) ist durch die ambivalenten Kategorien des fremd gewordenen Eigenen und des nicht verfügbaren Fremden zu beschreiben:

... als er das Abteil dritter Klasse betrat, "den ungarischen Waggon", und ihm der vertraute stickige Muff, das Elend seiner armen Heimat entgegenschlug, hatte er das Gefühl, daheim zu sein. (854) [138]

Die fremde Welt, vom Wagonfenster aus, erweckt in ihm automatisch eine Nostalgie. Der Blick der fremden Welt ist aber nur von dem Zug aus attraktiv: die über Hügel verstreute Stadt, die wie Spielzeughäuser wirkenden Villen, in deren Fenstern traute Flämmchen flackerten (854) [138-139]. Die Beschreibung der Fremden bleibt innerhalb des Diskursus des eigenen Universums (die Omelette á Woburn [glich] aufs Haar jener Eierspeise, die ihm seine Mutter vorgesetzt hat (858) [144]. Der Reisende evoziert inzwischen das Eigene als mittlerweile Fremd-Gewordene:

... [Ihn überkam] der trübselige Gedanke, daß er nun eine Nacht inmitten dieser stinkenden Herde verbringen würde und dann noch einen Tag... Sein Magen meuterte... (854) [138]

Nachdem er sich unter die Maketten und Marionettfiguren dieser vom weiten idyllischen, von der Nähe aber höflich-grausamen Welt begibt, flüchtet er auch von hier mit dem Gefühl des physiologischen Ekels:

Rot im Gesicht, mit dem juckenden, penetranten Abscheu des Schamgefühls stand er wieder auf der Straße. (859) [145]

Der Reisende, der wegen einer optischen Täuschung aus dem Zug ausstieg, befand sich in einer kulturell doppelt deplatzierten Position.

Das III. Kapitel des Erzählzyklus Kornél Esti erzählt über die Begegnung mit dem unbekannten Bekannten.(14) Der frisch maturierte 18jährige Erzähler fühlt sich nach seiner Ankunft in Fiume sofort zu Hause: An hohen Masten knatterten rotweißgrüne Fahnen im Wind, sieghaft den ungarischen Hochseehafen ankündigend (614) [41]. Auch die italienische Sprache ist ihm vertraut. Die Einheimischen empfangen ihn trotzdem als Fremden. Die Differenzbestimmung zwischen Eigenem und Fremdem hängt auch hier mit den Kategorien von Reisen, Raum und Raumänderung zusammen. Fremdheit ist in diesem Kontext ein konfliktreich definierter sozialer Status, bei dem Reisende und Sesshafte sich darüber verständigen müssen, wer in der Fremde und wer zu Hause ist. Herrschaft und Dominanz decken sich nicht. Der zerlumpte, schmutzige Straßenjunge erklärt den gutgekleideten jungen Herrn zum "straniero" nicht verbal, sondern performativ, mit der Selbsicherheit der Sesshaften. Der höfliche Kellner tut dasselbe durch verbale Ironie. Der Reisende ist einerseits glücklich, daß er für einen anderen gehalten wird als er ist, andererseits ist er empört, daß er für einen anderen Fremden gehalten wird: "Austriaco? Tedesco? Croato? Inglese?" (Hervorh - K. D., (618) [48]).

Der Konflikt zwischen dem Eigenen und Fremden löst sich in einer anthropologischen Synthese auf:

Woher ich stamme?... Daher, woher jeder Mensch stammt. Aus der purpurnen Höhle eines Mutterschoßes... Auch ich bin von dort ins Ungewisse aufgebrochen... (619) [48]

Die institutionalisierte Unterscheidung wird durch die gemeinsame Genesis (Mutterschoss) und die gemeinsame Schicksalmetapher (Reise mit ungewissen Zweck und Ziel) aufgelöst. Die Formulierung zeigt jedoch die unumgängliche sprachliche Vergangenheit in der Herkunftskultur. (Die purpurne Höhle des Mutterschosses als Herkunftsort der Menschheit ist die poetische Paraphrase eines in der ungarischen Umgangsprache geläufigen obszönen Fluches.)

Wie das obige Beispiel zeigt, vermag Literatur mittels sprachlicher Symbolisierung am Kanon der Ausdruckformen einer Kultur mitzuschreiben, indem sie diesen in seinen Konstruktionsbedingungen reflektiert und für Erneuerungen offen hält. Die poetische Sprache aktiviert nicht nur die bewussten Lesestrategien, sondern auch die des vergessenen oder verdrängten Wissens, die ein Transfer zwischen Text und Leser herstellen. Durch das Interferieren zwischen Vertrautem und Fremdem brechen nicht nur die Grenzen von zeitlich-räumlicher, sprachlicher und kultureller Alterität auf, sondern auch die Barrieren der verdrängten Fremdheit in uns selbst durch. "Ein Gewahrwerden dieser innersubjektiven Fremdheit, das Spiel mit der eigenen Differenz" und mit der Zeit gehören zu den anthropologischen Voraussetzungen eines interkulturellen Verständnisses.(15)

© Gabriella Hima (Budapest)

TRANSINST       Inhalt / Table of Contents / Contenu: No.14


ANMERKUNGEN

(1) Vgl. Hahn, Alois: "Die soziale Konstruktion des Fremden", in: Die Objektiviät der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion, Walter M. Sprondel (Hg.), Frankfurt a. M., 1994. pp. 140-166, Hellmann, Kai Uwe: "Fremdheit als soziale Konstruktion. Eine Studie zur Systemtheorie des Fremden", in: Die Herausforderung durch das Fremde, Herfried Münkler (Hg.), Berlin, 1998, pp. 401-459., Lévinas, Emmanuel: "Ist die Ontologie fundamental?", in: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München, 1983, pp. 103-119.

(2) Vgl.: Michael Harbsmeier "Reisebeschreibungen als mentalitätsgeschichtliche Quellen. Überlegungen zu einer historisch-anthropologischen Untersuchung frühneuzeitlicher deutscher Reisebeschreibungen", in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte, Maczak, Antoni / Teuteber, Jürgen (Hg.), Wolfenbüttel 1982, pp. 1-31; Peter J. Brenner: "Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts". In: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur (Hg. v. dems.), Frankfurt a. M. 1989, pp. 14-49.

(3) Vgl. Bachmann-Medick, Doris: "Writing Culture - Probleme der Repräsentation von Kulturen und Literarisierung der Ethnographie", in: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwisenschaft (Hg. v. dems.), Frankfurt a. M. 1996, pp. 30-37.

(4) Vgl. das Leitwort "fremd" im Grimm'schen Wörterbuch bzw. in Duden: Sinn- und sachverwandte Wörter (Bd. 8), Duden: Herkunftswörterbuch (Bd. 7).

(5) Schäffter, Ortfried: "Modie des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit." In: Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. (Hg. v. dems.), Opladen 1991, pp. 11-44.

(6) Cf. Dorothea Schlegels Brief an ihren Sohn Jonas (1809), Franz von Löhars Aussagen bzw. Herders berühmte Prophezeiung über die "Zukunftlosigkeit" der ungarischen Kultur... Für Quellen und Nachweise cf. Tarnoi, L. Parallelen, Kontakte und Kontraste, Budapest ELTE, Germ. Int. 1998, pp. 297-307.

(7) Das nach den Zitaten in Klammern angeführte "E" mit der entsprechenden Seitenzahl bezieht sich auf die Ausgabe Kosztolányi Dezsõ elbeszélései [K. D.-s Erzählungen]. Bp.: Szépirodalmi, 1963. Übersetzung ins Dt. Hans Skirecki, in K.D. Schachmatt, Hg. Balazs Szappanos, Bp.: Corvina 1986, pp. 82-91. Seitenzahlen des dt. Textes in [ ].

(8) Dt. von Jörg Buschmann, in: D.K.: Der Kuss, Berlin-Weimar: Aufbau V. 1981, pp. 323-334.

(9) Dt. von Jörg Buschmann, in: D.K.: Der Kuss, Berlin-Weimar: Aufbau V. 1981, pp. 113-149. Seitenzahlen des dt. Textes in [ ].

(10) Vgl. Saúd, Edward: Orientalism. London: Penguin, 1978, pp. 21.

(11) Vgl. Münkler, Marina: "Ältere deutsche Literatur", in: Benthein, Claudia / Velten, Hans Rudolf (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, p. 326.

(12) Gutjahr, Ortrud in: Benthein / Velten (Hg.) 2002, p. 363.

(13) Dt. v. J. Buschmann unter dem Titel Das aussergewöhnliche Omelette, in: Der kleptomanische Übersetzer, Berlin-Weimar: Aufbau 1981, pp. 138-147. Seitenzahlen des dt. Textes in [ ].

(14) Dt. von J. Buschmann im Kleptomanischen Übersetzer, pp. 11-49. Seitenzahlen des dt. Textes in [ ].

(15) Ebenda, p. 365.


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Gabriella Hima (Budapest): Interkulturalität und Alterität in fiktionalen Reiseberichten. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/hima_reiseberichte14.htm.

TRANS     Webmeister: Peter R. Horn     last change: 20.2.2003     INST