Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juli 2004
 

1.1. Hermeneutische und nicht-hermeneutische Zugänge zu Kulturen
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Anil Bhatti (New Delhi) / Jeroen Dewulf (Porto)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Kreolisierung als Verständigungsprinzip

Jeroen Dewulf (Porto) (1)
[BIO]

 

Die Szene ist bekannt: am Ende von Lessings Nathan der Weise fallen sich der christliche Tempelherr und die Jüdin Recha in die Arme; sie, die gerne geheiratet hätten, aber wegen des religiösen Unterschieds dazu keine Möglichkeit sahen, entdecken, dass sie Geschwister und dass sie beide Christen sind. Und nicht nur Recha und der Tempelherr stellen unerwartet fest, dass sie miteinander verwandt sind, sondern alle Figuren des Stückes kommen zum überraschenden Schluss, das sie eine grosse Familie bilden. Diese manchmal extrem verwirrenden Familiengeschichten verwandeln das Stück ungewollt fast in eine Komödie, aber nicht Humor ist das Ziel Lessings, sondern die Verkündigung aufklärerischer Ideale wie Toleranz und Bruderschaft. Die Moral des Stücks ist klar: Wir Menschen sind alle Brüder und Schwestern, warum sollten wir also zulassen, dass uns Details, wie der Unterschied in Religion, Sprache, Kultur oder Hautfarbe verfeinden.

Soweit die traditionelle Interpretation. Komplizierter wird es, wenn wir fragen, was wohl geschehen wäre, wenn der Tempelherr und Recha keine Geschwister gewesen wären und wenn sie nicht die gleiche Religion gehabt hätten. Was, wenn sie dann trotzdem geheiratet hätten und, vor allem, was wenn aus dieser Ehe auch noch Kinder hervorgegangen wären? Wären diese Kinder dann Juden oder Christen gewesen? Oder würden sie sich zu beiden Religionen bekennen? Am Samstag mit Mama in die Synagoge und am Sonntag mit Papa in die Kirche? Auf solche Fragen hatte Lessing wohl keine Antwort; auch wenn er es gewollt hätte, er konnte Recha und den Tempelherrn nicht heiraten lassen, ansonsten hätte er die Grenzen seiner eigenen Toleranz überschritten. Tatsächlich, der sonst so nützliche Begriff "Toleranz" wirkt, sobald Mischung im Spiel ist, blass und wirkungslos. Kulturmischung war denn auch im Programm der Aufklärung nicht vorgesehen. Die Antworten, die die Aufklärung bereit hatte, gingen prinzipiell von einer kulturellen Immobilität aus.

An dieser Realität hat sich bis heute wenig geändert. Wenn etwa von Friedensbemühungen im Nahen Orient die Rede ist, wird man sogar über das winzigste Fleckchen Wüste informiert, aber auf die Frage, was passiert, wenn sich morgen ein Palästinenser und eine Israelitin verlieben und Kinder wollen, schweigen alle. Derlei Fragen kultureller Mischung sind eben nicht einkalkuliert, es scheint, als gäbe es in unserem Weltfriedenprogramm keinen Platz für interkulturelle, geschweige denn interreligiöse Liebe.

Wenn von Mixophobie, d.h., von der Angst vor Kulturmischung, die Rede ist, werden in der Regel Namen wie Johann Gottfried Herder oder Johann Gottlieb Fichte zitiert, die mit ihren Ideen oder Reden die Basis für die späteren Rassentheorien gelegt haben sollen, wie sie dann im 20. Jahrhundert zu den bekannten dramatischen Folgen geführt haben. Allerdings, zwei sehr unterschiedliche Wissenschaftler haben neulich Zweifel an dieser Interpretation geäussert. Sie vertreten die herausfordernde These, dass ein krampfhaftes Festhalten an kultureller Reinheit bereits lange vor der Romantik existierte und letztlich auf die Bibel zurückzuführen ist. Es betrifft dies den britischen Historiker Adrian Hastings, mit The construction of nationhood (1997) und den spanischen Linguisten Juan Ramón Lodares, mit Lengua y Patria (2002).

Nach Ramón Lodares geht der Mythos, dass es so etwas wie reine Völker mit einer reinen Sprache gibt, auf die Geschichte des Turmbaus von Babel und der durch Gott gewollten Sprachverwirrung zurück. Die Interpretation dieses Mythos stütze sich, so Román Lodares, auf einen historischen Irrtum: "Menschen leben nicht getrennt, weil sie verschiedene Sprachen sprechen, wie die biblische Hagiografie behauptet; in Wirklichkeit passiert genau das Gegenteil: Menschen sprechen verschiedene Sprachen, weil sie getrennt worden sind".(2) Die Hermeneutik sei jedoch traditionell davon ausgegangen, dass man Menschen in verschiedene Kulturen aufteilen sollte, weil sie verschiedene Sprachen sprechen und daher unterschiedlichen Ethnien angehören. Im Christentum sei also die Existenz verschiedener Ethnien immer als ein von Gott gewolltes Phänomen interpretiert worden, woran nicht gerüttelt werden durfte. Zwar richtete sich das Wort Christi an alle Völker, wenn sich aber neue Völker zum Christentum bekehren liessen, gaben sie damit ihre eigene Ethnizität nicht auf. Darin liegt laut Ramón Lodares ein wesentlicher Unterschied zum Islam. Im Gegensatz zum Christentum stützte sich das islamische Reich ursprünglich auf die Idee einer Gemeinschaft des Glaubens, einer einzigen Gemeinschaft, frei von nationalen und ethnischen Unterschiede, da vereint in der heiligen Sprache des Korans.(3) Vieles hätte daher anders verlaufen können, meint Ramón Lodares, wenn Christus selber Autor der Bibel gewesen wäre und das Christentum so eine einzige verbindliche, heilige Sprache propagiert hätte.(4)

Hastings These geht in die gleiche Richtung, stärker als Ramón Lodares betont er aber die Bedeutung des biblischen Israels als Modell für die christliche Nationen: "The Bible presented in Israel itself a developed model of what it means to be a nation - a unity of people, language, religion, territory and government". (Hastings 1997:18) Da sich nun, so Hastings, alle christlichen Nationen in irgendeiner Form am biblischen Israel orientierten, seien fremde Einflüsse in der Sprache und Kultur traditionell als gefährlich aufgefasst worden, genauso wie Sprachmischung, Kulturmischung und Rassenmischung prinzipiell als eine Herausforderung an die Vorsehung Gottes betrachtet worden sei.(5)

Sowohl Ramón Lodares, wie auch Hastings ziehen somit eine nicht ungefährliche Parallele zum Nationalsozialismus und schrecken nicht davor zurück, den Nazismus als eine extreme Form des christlichen Reinheitsdenkens darzustellen. So schreibt Hastings:

I would argue that (...) the German National Socialist type of nationalism (...) is in principle quite close to (...) a norm with a biblical background. The root of the more extreme wing of European nationalism lies precisely here, in a widely held Christian assumption that there can only be one fully elect nation, one's own, the true successor to ancient Israel. (Hastings 1997:197f.)

Auch wenn Ramón Lodares und Hastings hier mit ihrer Verkündung der Geburt von Auschwitz aus dem Geiste der Bibel fragwürdig sind, festzuhalten bleibt, dass die Angst vor sprachlicher, kultureller und ethnischer Mischung keine Erfindung der Romantik ist, sondern auf ein christliches Kultur(miss)verständnis zurückgeht und damit das westliche Denken viel stärker beeinflusst hat, als man gemeinhin anzunehmen pflegt.(6)

Allerdings, nicht nur das hartnäckige Festhalten an kultureller Immobilität erwies sich als ein Problem für die aufklärerische Toleranzidee; sobald es um Religionen ging, stellte sich auch die Frage nach der absoluten Wahrheit. An dem Punkt kommt die Heilige Schrift ins Spiel. Denn das Christentum mag zwar keine heilige Sprache gehabt haben, es besaß aber ein heiliges Buch. Eine der wichtigsten Konsequenzen vom Geschriebenen ist, dass etwas definitiv fixiert werden kann. Michel de Certeau meint dazu, Schreiben bietet die Möglichkeit, "de retenir les choses en leur pureté", denn: "elle accumule, elle stocke les ,secrets' de par-deçà, elle ne perd rien, elle les conserve intacts. Elle est archive." (Certeau 1975:224) Mit anderen Worten, Schreiben ist ein wesentliches Element, damit man über absolute Wahrheiten verfügen kann und damit die Reinheit dieser Wahrheiten erhalten bleibt. Da das Christentum eine der Religionen ist, deren Doktrin schriftlich festgelegt wurde, ist seine Denkart logischerweise viel weniger flexibel und viel stärker von der Reinheitsidee geprägt als es bei Religionen ohne schriftliches Kredo der Fall ist. Die geringe Flexibilität, über die das Christentum verfügt, liegt in der Interpretation; Ergänzungen und Änderungen aber sind im Christentum so gut wie ausgeschlossen.

Dass dies durchaus anders sein kann, möchte ich anhand einer Erfahrung illustrieren, die der Schweizer Anthropologe Franz Caspar in den 50er Jahren in Brasilien machte. Aus seinem Tagebuch Allein unter Indios (1952) geht hervor, dass die Tuparí-Indios, bei denen er ein halbes Jahr wohnte, ihn mit allen Mitteln in ihrer Gemeinschaft zu behalten versuchten. Sie betrachteten ihn als den idealen Vermittler zwischen ihrer Gemeinschaft und der Außenwelt. Eines Tages wurde Caspar gefragt, ob sein Vater Häuptling des Stammes der "Suissos" sei. Da Caspar dies in einer leichtfertigen Reaktion bejahte, boten ihm die Tuparí zu seiner großen Überraschung die Führung ihres Stammes an. Um dies möglich zu machen, änderten die Tuparí ihre Schöpfungsgeschichte, damit jetzt auch Platz für die Schweizer da war:

Die Menschen, die Arotä aus der Erde herausgelassen hatte, fanden aber nicht alle Platz am selben Ort. Wir Tupari blieben hier, die anderen wanderten weit weg nach allen Seiten. Das sind unsere Nachbarn: die Arikapú, Jabutí, Makuráp, Aruá und alle anderen Stämme. Auch die Brasilianer, die Bolivianer, die Amerikaner, die Deutschen und der Stamm deines Vaters, die Suissos, alle kommen von hier und wanderten vor langer Zeit weg, weil zu viele Menschen beieinander waren. (Caspar 1952:205)

Diese religiöse Flexibilität war nur deswegen möglich, weil die Tuparí ihre Schöpfungsgeschichte nie aufgeschrieben hatten. Im Christentum wären solche konsequenzreichen Weiterführungen unvorstellbar. Wenn z.B. morgen auf Mars Leben entdeckt würde, käme es keinem Christen in den Sinn, einen siebten oder achten Schöpfungstag an die Genesis anzuhängen. Da das Christentum die Schrift als das Wort Gottes dogmatisch festlegte, verstärkte es die Reinheitsidee und damit die Orthodoxie der absoluten Wahrheit.(7)

Mit der Idee einer absoluten Wahrheit wurde die Aufklärung nie fertig. Denn tatsächlich, ist es überhaupt möglich, an einer absoluten Wahrheit festzuhalten und gleichzeitig tolerant zu sein? Interessant in dieser Hinsicht ist die These des französischen Philosophen Louis de Bonald (1754-1840), eines der größten Gegner der Französischen Revolution. Bonald vertrat eine "éloge de l'intolérance", denn, so meint er, "la tolérance absolue (...) ne conviendrait qu'à ce qui ne serait ni vrai ni faux, à ce qui serait indifférent en soi". (Bonald, apud Todorov 1991: 236) Nach Bonald funktioniert Toleranz also erst dann, wenn Gleichgültigkeit herrscht, denn "Si l'on accueille en même temps la Bible et le Coran, n'est-ce pas parce qu'on est indifférent, au fond, au message de vérité que tous deux prétendent contenir?" (Bonald, apud Todorov 1991:236) Mit anderen Worten, Toleranz und absolute Wahrheit schließen sich per Definition aus, denn: "Quoi de plus intolérant que les sciences, dont l'idéal est la vérité?" Im Namen der Wahrheit plädiert Bonald daher für eine allgemeine Intoleranz.

Obwohl eine solche weltweit praktizierte Intoleranz selbstverständlich der reinste Horror wäre, behauptet Bonald keineswegs zu Unrecht, dass sich Toleranz und absolute Wahrheit gegenseitig ausschließen. Tatsächlich kommt wirkliche Toleranz ohne Relativierung nicht aus. Bleibt die Frage, auf welchem Weg eine solche Relativierung zu erreichen wäre. Bei keinem internationalem Konflikt hat man sich ernsthaft darum bemüht, die streitenden Parteien dazu zu bewegen, die Absolutheit ihrer Wahrheiten zu relativieren. Im Gegenteil, Friedensverhandlungen pflegen in der Regel die kulturelle Immobilität und die jeweilige absolute Wahrheit nur zu bestätigen, manchmal sogar noch zu verstärken und sie geographisch abzugrenzen. Letztlich aber steht die internationale Diplomatie mit solchen geographischen Fixierungen der Intoleranz der Position Bonalds viel näher, als sie wahrhaben will.

Ein neuer Vorschlag in diesem Zusammenhang ist im Rahmen dieses Kongresses von Anil Bhatti hervorgebracht worden. Bhatti verwirft die traditionelle Ansicht, wonach Verstehen automatisch auch zu einer Zunahme der Toleranz führt, und verneint, dass Sich-Bemühen um Verständnis des Anderen automatisch auch die Toleranzfähigkeit wachsen lässt. Er plädiert daher für nicht-hermeneutische Zugänge zum Anderen, wobei es wichtiger ist, miteinander auszukommen als einander zu verstehen.

Dabei stellt sich allerdings die Frage, inwieweit ein solches "miteinander Auskommen", ohne dass dabei die jeweiligen absoluten Wahrheiten relativiert werden, imstande wäre, Krisen zu überstehen. Untersucht wird daher, inwieweit sich eine Radikalisierung von Bhattis Vorschlag als wirksamer und dauerhafter erweisen könnte.

Eine entsprechende Radikalisierung findet sich z.B. in Diderots Beitrag zu Abbé Raynals Histoire philosophique et politique des deux Indes (1770). Diderot setzt sich dort nämlich nicht sosehr dafür ein, dass wir lediglich miteinander auskommen, sondern vielmehr dafür, dass wir miteinander Sex haben. Konkret träumt er davon, Tausende von jungen Männern und Frauen aus Europa in die Neue Welt zu schicken, damit sie sich dort mit den Eingeborenen mischen. Auf diese Weise würde in Amerika eine einzige große Familie heranwachsen, ohne Waffen und Soldaten, in der es keine Unterschiede qua Rasse, Sprache, Religion oder Kultur und dadurch auch keinen Grund für Intoleranz mehr geben würde. Neu war diese Idee allerdings nicht; wir finden sie bereits bei Alexander dem Grossen, der in seinem Streben nach einer "oiku mènè" Sex als das beste Mittel zur Völkerverständigung betrachtete und für sein Reich eine Politik der gemischten Ehen und so das Entstehen des "kosmou polites" förderte. Es ist eine Politik, die sich später im europäischen Adel fortsetzte, mit dem Haus Habsburg als Paradebeispiel: "Bella gerant alii: tu, felix Austria, nube".

Es geht hier nicht darum, ein Revival der Hippie-Bewegung zu propagieren, eine Lösung aller Konflikte nach der Devise "make love, not war", dennoch soll darauf hingewiesen werden, dass es durchaus ernst zu nehmende Theorien gibt, die kulturelle Mischung durch Sex als den vielleicht wirkungsvollsten Weg zu Toleranz und Verständigung betrachten. Ein berühmtes Werk in diesem Zusammenhang ist Herrenhaus und Sklavenhütte (1933) von Gilberto Freyre. Darin stellte der brasilianische Soziologe die damals in konservativen Kreisen als schockierend empfundene These auf, dass die Promiskuität der portugiesischen Kolonialherren ein Geniestreich gewesen sei und dass gerade der Sex zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen eine neue Kultur in den Tropen ermöglicht habe.(8) Freyre legte damit die Basis für die sogenannte "mulatologia", diese durch Romane von Jorge Amado oder Bossa-Nova-Klassiker wie "The girl from Ipanema" weltberühmte Metapher Brasiliens als das Land, das dank interkulturellem Sex bereits ein Problem gelöst habe, das sich in der übrigen Welt erst noch stellen wird.

In die gleiche Richtung gehen auch die Gedanken des französischen Soziologen Pierre-André Taguieff, der in Die Macht des Vorurteils (1988) die Frage aufwarf, in welcher Weise die Intoleranz aus der Welt verschwinden könnte. Als Lösung schwebt ihm eine universelle und vollständige Mischung vor, eine Art universelles Imperium, in dem die interrassische Kreuzung zur Pflicht würde, bis die Faktoren der Diskriminierung verschwunden wären.

Bedenkenswerter war der Vorschlag des damaligen irischen Auslandsministers Garret Fitzgerald, der 1974 die Spannungen zwischen Katholiken und Protestanten durch gemischte Ehen bekämpfen wollte, weil, so meinte er: "intermarriage breaks down social and political barriers while religious segregation (...) reinforces nationalism". (Fitzgerald, apud Hastings 1997:206) In einem Kommentar dazu schreibt Adrian Hastings anerkennend: "I find it hard to believe that the conflicting nationalisms of modern Ireland would have remained so intense if there had been a wider practice of Catholic-Protestant marriage." (Hastings 1997:206)

Dies nur einige Beispiele, die zeigen, dass die Idee nicht so unsinnig ist, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag. Allerdings, es ist kaum vorstellbar, dass morgen die Vereinten Nationen im Nahen Osten vorschlagen würden, im Namen des Frieden gemischte Ehen zwischen Israelis und Palästinensern finanziell zu unterstützen. Mehr noch, ein solcher Vorschlag würde wahrscheinlich als Provokation aufgefasst werden, nicht unmöglich ist sogar, dass der Vorwurf aufkommen würde, der Vorschlag sei intolerant. Die Zeichen stehen denn auch nicht gut für kreolische Lösungen, denn gerade in dem Land, das heute die Weltpolitik bestimmt, lässt sich eine völlig entgegen gesetzte Tendenz feststellen: die einer allgemeinen Reethnisierung. So schreibt Agnes Heller: "For some years, the United States took great pride in having been the great melting-pot (...) Unity through diversity was the (North) American slogan. It is no longer. In the United States, multiculturalism (...) now seeks diversity, not unity." Eine der Folgen davon ist die Reethnisierung des Schulsystems, wobei, so Heller, "children and young people learn what they already know (...) or what they want to hear (the superiority of their religion, everyday culture or race)." (Heller 1996:33f.) Berndt Ostendorf hat gezeigt, dass sich diese Reethnisierung keineswegs auf die farbigen Minderheiten beschränkt, sondern dass auch ein Revival weisser Ethnizitäten (Italienisch-Amerikaner, Polnisch-Amerikaner usw.) festzustellen ist, wobei diese Reethnisierung "signals a deep phobia against mixing which used to be a WASP or nativist obsession, but which has now gone ethnic". (Ostendorf 1994:216) Mixophobie ist heute also längst nicht mehr ein Phänomen, das sich auf rassistische Gruppierungen beschränkt, vielmehr ist es, wie Ostendorf zu Recht vermutet, eines der Hauptmerkmale des Multikulturalismus. Als eine gefährliche Folge davon betrachtet Agnes Heller die zunehmende Tendenz, im Namen der "political correctness" die Demokratie durch eine Ethnokratie zu ersetzen,(9) womit die kulturelle Immobilität fast zum Gesetz erhoben würde.

Dadurch versteht sich die Abkehr von jeder Form der Mischung, denn nichts stellt kulturelle Immobilität mehr in Frage als interkultureller Sex. Wenn auch die sexuelle Beziehungen an sich nicht unbedingt zu einer Relativierung kultureller und religiöser Werte führen, dann passiert dies sicherlich, sobald aus dieser Beziehung Kinder hervorgehen. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist die Erkenntnis Pierre-André Taguieffs, dass die Quelle des Rassismus nicht beim Hass auf Fremdheit, sondern bei der Angst vor dem Mischlingskind liegt. (Taguieff 1988=2000:301) In diesem Zusammenhang wundert es nicht, dass während des Balkankrieges der radikale Serbenführer Radovan Karadzic Maßnahmen traf, um interreligiöse Ehen in Bosnien per Gesetz zu verbieten, (vgl. Hastings 1997:206) oder dass ein neues israelisches Gesetz israelisch-palästinensische Paare künftig zwingt, entweder getrennt zu leben oder Israel zu verlassen. (vgl. Bubis 2003:5)

Indem sie kulturelle Immobilität durchbrechen und damit absolute Wahrheiten in Frage stellen, charakterisiert Kinder aus interkulturellen Beziehungen ein deutlich kreolisches Element. Durch ihre bloße Existenz zwingen sie zu einer Relativierung, die dem kreolischen Denken eigen ist. Tatsächlich kennzeichnen sich kreolische Denkströmungen, vor allem in Lateinamerika, durch eine Relativierung aller Ideologien, Religionen, Kulturen und Sprachen.

So wird z.B. beim karibischen Schriftsteller Édouard Glissant das Französische als eine kreolische Sprache, nämlich als kreolisiertes Latein, definiert.(10) Ähnliche Theorien gibt es aber auch über das Japanische als eine kreolische Sprache. (vgl. Glissant 1996:28f.) Für den deutschen Sprachraum wäre etwa der Schweizer Schriftsteller Hugo Loetscher zu erwähnen, der in seiner Glossengeschichte "helvetische Flurbereinigung" aufgelistet hat, was in der Schweiz noch übrig bleiben würde, falls das Land von allen fremden Einflüssen gereinigt würde. Er kam zu dem Schluss, dass alles, was die schweizerische Identität ausmacht, einen kreolischen Charakter hat, sogar das Alphorn, denn, so schreibt er: "Was ein richtiges Alphorn ist, wird mit Bambus eingewickelt - in welchem Alpental aber wächst Bambus?". (Loetscher 1983=1988:75) Loetschers Fazit war daher:

(...) die Vorfahren unserer Vorfahren sind einst eingewandert (...). Wenn dem aber so ist, drängt sich die Überlegung auf, ob wir, aus Respekt vor dem Land, wie es einmal war, nicht besser selber auswandern würden. Ohne Zweifel wäre das Schweizerland dann öd und menschenleer, aber dafür ursprünglich wie noch nie. (Loetscher 1983=1988:22)

Wie schwierig es für viele ist, diese Realität zu akzeptieren, zeigt der Versuch der französischen Regierung, mit der Maßnahme vom 6. Mai 1994 anderssprachige Wörter im öffentlichen Sprachgebrauch zu verbieten. Eine solche, zum Glück gescheiterte, Forderung zeigt, wie stark das Festhalten an kultureller Immobilität sein kann. Was hier passierte, war der Versuch, als Ideal für "ewige Zeiten" festzulegen, was im Grunde nur als Phase eines ständigen kreolischen Prozesses zu verstehen ist.

Das kreolische Denken lässt es aber nicht bei einer historischen Perspektive bleiben. Letztlich würde es ja kein ernst zu nehmender Sprach- oder Religionswissenschaftler je wagen, zu behaupten, dass es so etwas wie eine "reine Sprache" oder "reine Religion" gibt. Das wirklich Revolutionäre am kreolischen Denken ist vielmehr, dass jede Sprache, Religion oder Ideologie als ein ständiger kreolischer Prozess aufgefasst wird. Dieses nicht Akzeptieren eines Schlusspunktes in der Entwicklung einer Sprache, Religion, Ideologie oder Kultur ist denn auch die Basis einer kreolischen Form der Toleranz. Es ist eine Toleranz der Beweglichkeit, der Weiterentwicklung, der gegenseitigen Beeinflussung, eine Toleranz, die konsequenterweise die Präsenz des Anderen nicht als Bedrohung erfährt, sondern als eine Chance, damit Neues entstehen kann. Es ist eine Form der Toleranz, wie wir sie bei Peter Bichsel antreffen, wenn er in seinem Aufsatz "Chaotisch wie die Sprache selbst" (2000) schreibt: "Ich würde mich sehr freuen darüber, wenn dieser Text - den ich hier schreibe - in hundert Jahren nicht mehr lesbar wäre, weil die Sprache inzwischen gewachsen wäre". Dieser Satz liesse sich ins Unendliche wiederholen, so etwa: "Ich würde mich freuen, wenn die Kultur, zu der ich jetzt gehöre, oder Religion, zu der ich mich bekenne, in hundert Jahren für mich nicht mehr verständlich wäre, weil sie inzwischen gewachsen wäre."

© Jeroen Dewulf (Porto)


ANMERKUNGEN

(1) Der gegenwärtige Beitrag ist Teil des Forschungsprojekts "Die deutschsprachige Literatur im europäischen Kontext" des Centro Interuniversitário de Estudos Germanísticos (CIEG), einer von der Fundação para a Ciência e a Tecnologia im Rahmen des "Programa Operacional Ciência, Tecnologia e Inovação (POCTI) do Quadro Comunitário de Apoio III" finanzierten R&D-Einheit.

(2) "La gente no se separa porque hable lenguas distintas, como dice el hagiógrafo bíblico, sino todo lo contrario: habla lenguas distintas porque se han separado." (Ramón Lodares 2002:52f.)

(3) "El Imperio mundial basado en la fe islámica nace con vocación de crear una comunidad de fe, pero también una comunidad lingüística, sin naciones, con la posesión de un idioma sagrado." (Ramón Lodares 2002:70) Es sollte jedoch darauf hingewiesen werden, dass der Islam diese "Idealsituation" nie erreichen konnte und dass wesentliche Texte des Islams auf Urdu, Persisch und Türkisch geschrieben worden sind.

(4) "Cabría suponer - digo suponer - que si Cristo hubiera escrito los Evangelios en arameno de su puño e letra, el veinte por ciento de la población mundial que hoy profesa alguna forma de cristianismo tendría nociones de esa lengua." (Román Lodares 2000:68) Vgl. dazu auch Hastings: "The Arabic Qu'ran and authoritative Christian translations of the Bible into a limited number of languages contributed profoundly to the universalisation of a single-religious-linguistic community in the Muslim case and to the distinction between major written languages and dialectic vernaculars in the Christian case. While the Islamic socio-political impact was thus in principle almost entirely anti-ethic and anti-national, the Christian impact was more complex. Its willingness to translate brought with it, undoubtedly, a reduction in the number of ethnicities and vernaculars, but then a confirmation of the individual identity of those that remained: Christianity in fact helped turn ethnicities into nations." (Hastings 1997:179)

(5) Vgl. dazu auch Ramón Lodares: "El hagiógrafo bíblico siempre ha interpretado el mito babélico de una manera muy sencilla: las gentes se separan porque hablan 'lenguas' distintas, es decir, porque tienen 'razas' distintas, es decir, porque son de 'nación' distinta. Al ser la lengua el índice de pureza racial, se justifica la separación de razas, lo inconveniente de las mezclas y la supeditación de todas a la de Abram." (Ramón Lodares 2002:52)

(6) Vgl. dazu auch 5. Mose 23, 3: "Es soll auch kein Mischling in die Gemeinde des Herrn kommen;"

(7) Nicht zufälligerweise meint Édouard Glissant, in seinem Versuch, zu erklären weshalb die orale Literaturen von europäischen Forschern so lange missbilligt worden sind, dass "en occident, et en particulier en Europe, la fonction littéraire, incosciemment, est perçue comme une fonction qui dérive de la dictée d´un dieu". (Glissant 1996:47)

(8) "Die Beweglichkeit war eines der Geheimnisse des portugiesischen Sieges" und "Was die Vermischbarkeit anbelangt, so hat in neuerer Zeit keine Kolonialmacht die Portugiesen übertroffen oder auch nur erreicht". (Freyre 1933=1982:26 u. 27)

(9) "This kind of multiculturalism makes 'ethnocracies' all-powerfull; they are not elected, but they speak the language of 'we'. Thus, they substitute themselves for their non-existing constituency." (Heller 1996:34)

(10) "Quand on étudie raisonnablement les origines de toutes langues données, y compris de la langue française, on s´aperçoit (ou on devine) que presque toute langue à ses origines est une langue créole." (Glissant 1996:21)


BIBLIOGRAPHIE

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1.1. Hermeneutische und nicht-hermeneutische Zugänge zu Kulturen

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For quotation purposes:
Jeroen Dewulf (Porto): Kreolisierung als Verständigungsprinzip. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/01_1/dewulf15.htm

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