Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. September 2004
 

1.1. Hermeneutische und nicht-hermeneutische Zugänge zu Kulturen
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Anil Bhatti (New Delhi) / Jeroen Dewulf (Porto)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Das Modernisierungsprojekt des tunesischen Reformpolitikers Khair-eddin unter dem Aspekt des (verfehlten) Okzident-Orient-Kulturtransfers im 19. Jahrhundert(*) 

Mounir Fendri (Tunis)

 

Ihre im Gefolge der Terroranschläge vom September 2001 auf den arabisch-islamischen Nahen-Osten ausgerichtete Offensive rechtfertigten die USA mitunter mit dem wohlmeinend klingenden, einleuchtend anmutenden Vorsatz einer Demokratisierung der Region. Als das Weltherrschaftszentrum im 19. Jahrhundert noch in Westeuropa lag, lautete das Schlagwort zur Legitimierung vergleichbarer Vorstöße in gleicher Richtung "Zivilisierung". Denn spätestens im Jahrhundert zuvor - im Zeitalter der Aufklärung - stand im europäischen Konsens fest, dass die Welt des Islam zurückgeblieben und nur durch den Segen abendländischer Kultur und die Wohltaten europäischer Zivilisation zu retten sei. Vertretern hegemonialer und kolonialer Politik galt dies - ob in "ehrlicher" oder taktischer Absicht - als Alibi. Reichlich diente das Argument als propagandistische Stütze zur Rechtfertigung und Förderung kolonialpolitischer Ziele. Die Schlag- und Überzeugungskraft des Zivilisationsarguments war derart, dass auch die Anwendung von Gewalt und alle Konsequenzen militärischer Eingriffe verharmlost oder bedenkenlos in Kauf genommen werden durften.

Aber auch im islamischen Raum selbst nahmen im 19. Jahrhundert mehr und mehr Menschen unter den Gebildeten und politisch Verantwortlichen den bedrohlich eklatanten Vorsprung des nichtmuslimischen Europa wahr und sahen nicht nur die Vorteile abendländischer Zivilisation, sondern auch die Notwendigkeit ihrer Rezeption und die Zweckmäßigkeit ihrer Nachahmung ein.

Hier und da manifestierten sich unterschiedliche Initiativen, die von derselben Einsicht ausgehend, durch Wort oder Tat auf das europäische Zivilisationsmodell zurückgriffen, um regenerierende Erneuerung und fortschrittsversprechende Modernisierung zu empfehlen oder zu erzielen. Wohl am bekanntesten sind die praktischen Beispiele von Sultan Mahmud II. (1808-1839) und Muhammad Ali von Ägypten. Bevor letzterer, der aufstrebende Pascha im Nahen-Osten, von den Engländern um 1840 energisch in seine Schranken gewiesen wurde, war er Gegenstand einer lebhaften Debatte in der europäischen Öffentlichkeit. Für die einen war er der Beweis, dass die Welt des Islam zivilisationsfreudig, erneuerungswillig und reformfähig sei, für die anderen das Paradebeispiel für das Unvermögen derselben, sich aus sich selbst zu regenerieren und den Anschluss an die Moderne zu schaffen.

Weniger bekannt, dennoch ausgesprochen aufschlussreich in diesem historischen Kontext einer kulturellen Auseinandersetzung der Welt des Islam mit der westlichen Kultur, ist das Beispiel des tunesischen Reformers Khair-eddin. Hauptdokument seines Reformdenkens ist seine Schrift "Aqwam al masâlik fî ma`rifati ahwâl al mamâlik", wörtlich: "Der geradeste Weg zur Kenntnis der Zustände der Länder". Als dieses Buch oder vielmehr dessen programmatische Einleitung 1868 in französischer Sprache erschien(1), befand sich der damals bekannte Orientreisende Heinrich von Maltzan (1826-1874) gerade in Tunis. Dem belesenen Orientalisten und viel gereisten Autor scharfsinniger Berichte über die zeitgenössische Welt des Islam mutete die Schrift auf Anhieb an als "vielleicht das Bedeutendste, was in unserem Jahrhundert im Orient geschrieben wurde."(2) Um 1870 war Maltzans enthusiastische Einschätzung wohl eher voreilig. Bald darauf sollte noch jene geistige Bewegung zur Entfaltung kommen, die vor allem mit Jamal ad-Din al-Afghani (1839-1897), der, so Friedemann Büttner, "durch die Nachwirkung seiner Schriften zum einflussreichsten Muslim des 19. Jahrhunderts"(3) avancierte, als die eigentliche Wegbereiterin der "an-nahdha al-islamiya", der modernen islamischen Erneuerungsbewegung, gilt.

Doch nicht gerade in diesem großen, immer noch aktuellen Zusammenhang soll hier Khair-eddins Ansatz in Betracht gezogen werden. Hauptanliegen ist hier vor allem der west-östliche Kulturtransfer und die damit verbundenen Probleme aus geschichtlicher Perspektive. Es geht um einen konkreten, meines Erachtens historisch relevanten Fall von gewagter, weil bahnbrechender Öffnung für Werte und Muster aus einer fremden, ja verfeindeten, aber bereits als überlegen anerkannten Kultur, der westlichen, in die eigene Gemeinschaft, die muslimische, zum vorrangigen Zweck der Behebung eines konstatierten Defizits, der Überwindung eines beklagten Übelstands und der Abwendung einer Gefahr: der kolonialen Unterwerfung.

Wie den übrigen verwandten Ansätzen im Allgemeinen war diesem, Khair-eddins, letztendlich auch Misserfolg beschieden. Es lag zunächst wesentlich an inneren Faktoren, die mit den damals herrschenden, traditionellen Strukturen zusammenhingen. Doch auch und nicht unwesentlich lassen sich die Gründe für Khair-eddins Versagen mit den Kräften, Bestrebungen und Interessen erklären, die mit der europäischen Expansionsdynamik im 19. Jahrhundert - dem Industrialisierungszeitalter einher liefen. Die Frage nach den Ursachen, die also nicht nur interner Natur sind, scheint mir in der gegenwärtigen internationalen Konjunktur wieder von aktueller Relevanz. Ein Kernproblem im gespannten Verhältnis zwischen beiden Kulturkreisen, dem christlich-westlichen und dem islamischen, liegt in beträchtlichem Ausmaß darin, dass die Geschichte ihrer Beziehungen weitgehend belastet ist. Für manche Zeitgenossen eignen sich zu deren symbolischer Kennzeichnung am besten die Begriffe "Kreuzzug und Djihad".(4) Daher erscheint hier auch Vergangenheitsbewältigung als gemeinsame Aufgabe erforderlich. Nach dem Aufkeimen der (dem Islam abträglichen) These eines "Clash of civilizations"(5); nach der Erschütterung des 11. September (2001) und dem neu belebten Misstrauen gegenüber dem Islam erscheint es ratsam, die Geschichte der Beziehungen zwischen der islamischen Welt und dem Westen wieder zu bemühen und von neuem zu befragen. Jenseits von Emotionen und Leidenschaften, selbstverständlich. Nicht Schuldzuweisung, Inkriminierung des Anderen und kategorische Selbstentschuldung sollte im Vordergrund stehen, sondern die redliche Bemühung um sachliche Klärung einer geschichtlichen Entwicklung, die vor allem im 19. Jahrhundert ihren entscheidenden Anlauf genommen hat und im skizzierten Negativzustand mündete. Es gilt vorrangig, die wirklichen Implikationen analytisch auszumachen, nicht zuletzt aber auch, zukunftsorientiert die richtigen Lehren zu ziehen. In einer Welt, in der den Medien mehr denn je eine, wenn nicht die Schlüsselrolle bei der Meinungs- und Urteilsbildung im positiven und negativen Sinne zukommt; in einer Weltlage, in der Rattenfänger leichtes Spiel und Hassprediger Hochkonjunktur haben, ist es im Hinblick auf eine angemessene Berichtigung des Bilds des Islam als Kultur sinnvoll und zweckmäßig, diese Aufgabe gebührend ernst zu nehmen. In beiden Richtungen dürfte deren Zweckmäßigkeit einleuchten. Die gegenwärtig vielbeklagte Frustration in der arabischen und islamischen Welt und der latente und aktive Groll gegenüber dem Westen entspringen meines Erachtens zu einem nicht zu unterschätzenden Teil dem zwar einseitigen, dennoch verbreiteten Standpunkt, am Niedergangsprozess und jetzigen Defizitzustand dieser Welt sei vor allem der "kreuzzüglerische" Westen schuld. "Dolchstoßlegenden" grassieren eben überall.

Khair-eddin war weder gleich Muhammad Ali ein mit absoluter Macht investierter, ambitionierter Herrscher noch - wie al-Afghani und seine Jünger - ein berufener Vertreter islamischer Gelehrsamkeit. Als Mameluck tscherkessischen Ursprungs wuchs er seit seiner Ankunft in Tunis um 1839 im Alter von 16 oder 17 Jahren am tunesischen Bey-Hof zum Staatsdienst heran.(6) Bevor er ab 1857 zum Minister ernannt wurde, unternahm er in offizieller und halboffizieller Eigenschaft die ersten einer Reihe von Reisen nach und durch Europa. Ein Besuch Frankreichs im Jahr 1846 in Begleitung von Ahmed Bey auf Einladung von König Louis Philippe gab ihm zum ersten Mal die Möglichkeit, die Errungenschaften und Vorzüge europäischer Zivilisation unmittelbar zu bewundern. Zwischen 1853 und 1856 hielt er sich oft in Paris auf, hauptsächlich um den Bey von Tunis bei einem schiedsrichterlichen Prozess gegen einen korrupten Beamten, der sich mit der Staatskasse davon gemacht hatte, zu vertreten. 1861 und wieder 1863 wurde er in ausgedehnter diplomatischer Mission nach verschiedenen europäischen Höfen - unter anderem nach Berlin und Wien - entsandt. Eben aus diesen Reiseerfahrungen rührte der ausschlaggebende Anstoß her. In einem nachträglichen autobiographischen Bericht bekräftigte Khair-eddin selbst, dass sein ausgedehnter Aufenthalt in Frankreich und die verschiedenen Reisen ihm erlaubt hätten, die Grundlagen und Bedingungen der europäischen Zivilisation zu ergründen und die Institutionen der bedeutenden Staaten Europas näher kennen zu lernen und somit die Erkenntnisse und Ansichten für den nachträglichen Reformentwurf zu sammeln.(7) Mit autodidaktischem Eifer verbesserte er seine Französischkenntnisse, um mit Quellenstudium die im europäischen Ausland gesammelten Beobachtungen zu vervollkommnen. Zu seinem Quellmaterial zählen Khair-eddins Biographen vor allem die Schriften der französischen Aufklärer, allen voran Montesquieus "L'esprit des Lois". Auch verschiedene Werke des 19. Jahrhunderts wie etwa Thiers Geschichte der Regierung Napoleons(8) dienten ihm als grundlegende Quellen. In seiner spontanen Begeisterung für den tunesischen Autor und sein Reformwerk hat es Heinrich von Maltzan so zusammengefasst: "In Europa ging dem jungen Manne plötzlich ein neues Licht auf; der Geist unsrer Civilisation wirkte wie eine Offenbarung auf ihn und er bekam auf einmal ein Auge für alle die Vorzüge, welche wahre Bildung und geregelte Zustände einem Lande verleihen."(9) Der Umgang mit der Praxis des damals im zunehmenden, seit 1830 beschleunigten Verfall befindlichen Bey-Staates in der maghrebinischen Adoptivheimat, kraft seines hohen Amtes in der Verwaltung desselben, darüber hinaus aber auch seine Vertrautheit mit den Zuständen des Osmanischen Reiches, ließen ihn den Kontrast deutlich wahrnehmen. Nachdem er sich 1862 vorübergehend aus dem Staatsdienst zurückgezogen hatte, widmete er sich der Arbeit an "Aqwam al-masalik", dem "geradesten Weg zur Kenntnis der Zustände der Länder".(10)

Wie es der Titel suggeriert, bietet sich das Werk vordergründig als eine Länderkunde dar, in der die Länder Europas einzeln vorgestellt werden. Der Akzent wird allerdings überwiegend auf den staatlichen und konstitutiven Aspekt gesetzt. Im Vordergrund stehen neben historischem Überblick und allgemeinen statistischen Daten die Staatsverfassung und die tragenden Institutionen. Daran zeigt sich die Grundabsicht, die dem Werk als Konzept und Zweckpublikation zugrunde lag. Nicht Erbauung und Belehrung waren primär das Ziel, sondern - zusammengefasst - die Darstellung der institutionellen Vorzüge und zivilisatorischen Errungenschaften Europas, um zum Nachdenken über die gravierende Diskrepanz im Vergleich zur Lage in den Ländern des Islam zu verleiten und, im Endeffekt, zum nützlichen Entlehnen und geeigneten Nachahmen anzuregen. Hierin steckte ein Kernproblem. Nur allzu gut wusste der Autor vom Widerstreben seiner Zeit- und Glaubensgenossen, eigene, im Islam tatsächlich oder vermeintlich verwurzelte Traditionen mit Erneuerungen und Übernahmen christlichen Ursprungs zu vertauschen. Die Erörterung dieses Problems und die Lösung, wie er sie in der französisch übersetzten Einleitung auseinander setzte, haben im entscheidenden Maße Heinrich von Maltzans oben hervorgehobene Würdigung bewirkt. Nachdem dieser bemängelt hatte, dass die europäischen, vor allem französischen Zeitungen, die auf das Werk bei seinem Erscheinen 1868 aufmerksam wurden(11), einseitig Khair-eddins positive Einstellung zur westlichen Zivilisation und seinen Aufruf zu deren Nachahmung unterstrichen, notierte der deutsche Orientreisende, indem er zugleich auf einen Kapitalfehler zeitgenössischer muslimischer Reformansätze kritisch hinwies:

"Was aber diese Zeitschriften gänzlich außer Augen ließen und was meiner Ansicht die verdienstvollste Seite des Werkes bildet, ist derjenige Theil desselben, welcher vom Standpunkt moslimischer Orthodoxie aus jene Nachahmung europäischer Cultur rechtfertigt. Denn europäische Zustände den Moslims zur Nachahmung zu empfehlen, das wäre nichts Neues; dergleichen ist schon vor zwanzig, ja dreißig Jahren in Constantinopel geschehen, aber solche Empfehlungen hatten eben deßhalb keine günstigen Folgen, weil die Verfasser derselben es vernachlässigten, die Empfindlichkeit islamitischer Orthodoxie zu berücksichtigen, weil sie sich eben ganz auf den europäischen Standpunkt stellten, weil sie mit den moslimischen Zuständen gleichsam tabula rasa machen und etwas gänzlich Neues, nicht durch einen logisch motivirten Uebergang zugänglich Gemachtes an Stelle des Alten setzen wollten."(12)

Treffend erkannte Maltzan seinerzeit, dass der aufgeklärte tunesische Reformpolitiker eine andere, klügere Vorgehensweise anwendete, die der Mentalität und Sensibilität der Muslime gehörig Rechnung trug:

"Er stellt sich nicht auf den europäischen, sondern von Anfang an auf den moslimischen Standpunkt. Von diesem Standpunkt aus, dessen Aufstellung allein bei seinen orthodoxen Landsleuten Hoffnung auf Erfolg besitzen konnte, betrachtet er, zuerst seinen Blick in die Vergangenheit wendend, den hohen Culturgrad und die bevorzugte Stufe der Civilisation, auf welcher sich die Länder des Islam zu einer Zeit befanden, als Europa noch in der Nacht mittelalterlicher Verfinsterung schmachtete. Auf diese Weise nimmt er von vorn herein das geschmeichelte Nationalgefühl seiner Landsleute für sich ein und begegnet andrerseits dem Vorurtheil der Unwissenden, welche das, was wir Civilisation nennen, als etwas den Vorschriften des Qorâns Widersprechendes ansehen."(13)

Indem er die hohe Stellung der Religion bekräftigte und die fortschrittlichen Potentiale des Islam tiefgründig zur Geltung brachte, und keineswegs in Frage stellte, verfolgte Khair-eddin das gesetzte aufklärerische Ziel und das engagierte Plädoyer für eine konstruktive Öffnung für die Vorzüge der westlichen Kultur. Es lag ihm nicht, wie es Friedemann Büttner in Bezug auf al-Afghani und die sogenannten "Panislamisten" formuliert, an dem "Versuch einer Re-Politisierung des Islam."(14) Sein Standpunkt war primär politischer Art und kultureller Bestimmung, und sein Hauptanliegen die heilsame Entwicklung des muslimischen Staates, wobei ihm das Osmanische Reich als Mittelpunkt vorschwebte. Eine Voraussetzung sah er konkret darin, dem Beispiel der führenden europäischen Nationen bei der Verankerung und Umsetzung der Grundsätze von Gerechtigkeit und Gleichheit und der Überwindung der Willkür durch Verfestigung der einschlägigen Institutionen zu folgen. Zur Veranschaulichung beruft er sich gelegentlich auf persönliche Erfahrungen aus seinen europäischen Reiseerlebnissen. So erwähnt er den Besuch der Mühle von "Sansouci" in Potsdam, um den hohen Gerechtigkeitssinn von Friedrich II. und die preußische Rechtsstaatlichkeit zu betonen.(15)

Mit Nachdruck hat Khair-eddin ferner die zentrale Bedeutung von Bildung und Bildungswesen, Wissenschaften und Wissensförderung bei der Entfaltung der europäischen Zivilisation hervorgehoben. Kein Wunder, dass er in seiner späteren Berufung als Ministerpräsident des morschen Bey-Staates zwischen 1873 und 1877 vorrangig dafür sorgte, die Reform des Schulwesens einzuleiten und die erste moderne öffentliche Lehranstalt Tunesiens, das 1875 eröffnete "Collège Sadiki", gründen ließ. Hierbei zeigt sich wiederum sein kluger Vorsatz, keine radikalen Änderungen herbeizuführen, sondern in angemessener Dosierung Modernes und Altes in Verbindung zu bringen. Neben Realien und Fremdsprachen umfasste das Lehrprogramm auch die üblichen islamischen Fächer.

Dieser relativ kurzen, abrupt beendeten Periode von Khair-eddins Regierung ging eine weit längere voraus, in der sein Vorgänger, der berüchtigte Mustapha Khaznadar, das Land in den finanziellen Ruin und den allgemeinen Verfall gestürzt hatte. So setzte Khair-eddin seine ganze Energie daran, grundlegende Reformen, vorrangig in der Verwaltung und den Finanzen, einzuführen, um die erforderliche Gesundung zu erzielen und die akute Gefahr noch abzuwenden. Diese bestand unmittelbar im offensichtlichen Bestreben der europäischen Mächte, die Regentschaft von Tunis ihrem Einfluss, wenn nicht ihrer Herrschaft zu unterwerfen. In dieser hegemonialen Begehrlichkeit und dem zunehmenden, von den Konsuln eifrig ausgetragenen Rivalitätskampf wurde der Schätzwert der einheimischen Politiker ausschließlich nach der gehegten und bekundeten Einstellung zur jeweiligen europäischen Macht bemessen. Der korrupte Mustapha Khaznadar konnte lange englischen Zuspruch und italienisches Wohlwollen genießen; und die Franzosen glaubten eine Weile mit Khair-eddin voll rechnen zu können. Bis sie zu der Einsicht kamen, dass er zwar ein Freund französischer Zivilisation, doch keineswegs ein Befürworter französischer Kolonisation war; dass er vielmehr - nicht zuletzt aus diesem Grund - ein Wiedererstarken der alten Abhängigkeit zwischen dem gefährdeten nordafrikanischen Land und der osmanischen Türkei anstrebte. So galt es nun, diesen Mann aus dem Weg zu räumen. Sein vielversprechendes, auf europäische Zivilisation orientiertes Reformstreben und seine erfolgreich angebahnten Modernisierungsleistungen in den verschiedenen Bereichen zählten nicht mehr. Neben den vielfältigen internen Ursachen, die unmittelbar zunächst im maroden Bey-Staat lagen, haben insofern auch die angedeuteten hegemonialen, einseitig-egoistischen Interessen der europäischen Mächte zum Scheitern des tunesischen Reformansatzes direkt beigetragen.

In rein historischer Betrachtung und aus der Perspektive der geschichtlichen Eigendynamik mag dieser Vorfall, den wir hier in paradigmatischer Absicht angeführt haben, eher als Selbstverständlichkeit, als zwangsläufige, folgerichtige Entwicklung gelten. In einer neu zu schreibenden Geschichte der Beziehungen zwischen dem Westen und der Welt des Islam jedoch, und im Sinne der oben angesprochenen Bildkorrektur in beiden, im Grunde nicht getrennt gegenüber stehenden, sondern miteinander verflochtenen Kulturräumen, sollte meines Erachtens auf die Untersuchung solcher Ansätze wie Khair-eddins, die früher schon den Weg zu einer friedlichen Annäherung zwischen beiden Kulturen hätten ebnen können, größeren Wert gelegt, und die Gründe ihres Scheiterns genau ans Licht gebracht werden. Dann wird hier und dort ersichtlich, dass die geschichtliche Verantwortung für das heute beklagte Defizit eine geteilte war - und die Pflicht zu dessen Überwindung nunmehr als gemeinsames Anliegen beiden Teilen obliegt.

© Mounir Fendri (Tunis)


ANMERKUNGEN

(*) Dieser Aufsatz, als Beitrag zur INST-Tagung "Das Verbindende der Kulturen" (Wien 7.-9. 11. 2003) entstanden, sei meinem kürzlich verstorbenen Wiener Freund Professor Egon Matzner gewidmet. Er hat seine Entstehung angeregt und förderlich begleitet. Kurz vor dem Abschluss ist Egon Matzner plötzlich einem Herzversagen erlegen. So blieb ich bestrebt, dem für Toleranz, Menschlichkeit und globale Gerechtigkeit wirkenden Geist von Professor Matzner, wie er mir aus seinen Schriften und den am tunesischen Mittelmeer mit ihm genossenen Unterhaltungen einleuchtete, verpflichtet zu sein.

(1) Die französische Ausgabe erschien 1968 in Paris unter dem Titel:"Réformes nécessaires aux états musulmans; essai, formant la première partie de l'ouvrage politique et statistique: La plus sûre direction pour connaître l'état des nations&nbsp». Eine englische Ausgabe erschien 1874 in Athen unter dem Titel: «&nbspNecessery Reforms of the musulman states. Essay which forms the first part of the political and statistical work untiteld: The surest way to know the state of nations". Siehe hierzu: Gerardus S. van Krieken, Khayral-dîn et la Tunisie (1850-1881). Leiden (Brill) 1976, S. 132ff.

(2) Heinrich von Maltzan, Reise in den Regentschaften Tunis und Tripolis. Leipzig 1870, Bd. I, S. 191-199.

(3) Friedemann Büttner, Islamische Reform. In: F.B. (Hrsg.), Reform und Revolution in der islamischen Welt. München 1971, S. 60.

(4) Vgl. Bassam Tibi, Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt. München 2001.

(5) Vgl. Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations. New York 1996. Deutsch: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München 1998.

(6) Zu Khair-eddins Biographie siehe u.a. G. S. van Krieken (wie Anmerkung 1); Jean Ganiage, Les origines du protectorat français en Tunisie (1861-1881). Paris 1959; M.-S. Mzali et J. Pignon, Kheredine - Homme d'Etat. Documents historiques annotés. Tunis 1971; Mongi Smida, Khereddine Ministre réformateur. Tunis 1970.

(7) Khérédine Pacha: A mes enfants. Ma vie privée et politique. In M.-S. Mzali et J. Pignon (wie Anmerkung 6), S. 23f.

(8) Adolphe Thiers, Histoire du Consulat et de l'Empire. Paris 1845ff.

(9) H. v. Maltzan, a.a.O., S. 191.

(10) Es wurde bei der Anführung von Khair-eddins Werk "Aqwam al-masâlik" die von Moncef Chanoufi besorgte arabische, 2-bändige Ausgabe (Carthage/Tunis 1991) benutzt.

(11) Siehe G.S. van Krieken, a.a.O., S. 134.

(12) H. v. Maltzan, a.a.O., S. 195f.

(13) Ibid.

(14) F. Büttner, a.a.O., S. 58.

(15) Vgl. Moncef Chanoufi (wie Anmerkung 10), Bd. 2, S. 553.


1.1. Hermeneutische und nicht-hermeneutische Zugänge zu Kulturen

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For quotation purposes:
Mounir Fendri (Tunis): Das Modernisierungsprojekt des tunesischen Reformpolitikers Khair-eddin unter dem Aspekt des (verfehlten) Okzident-Orient-Kulturtransfers im 19. Jahrhundert. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/01_1/fendri15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 10.9.2004    INST