Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. April 2005
 

1.1. Hermeneutische und nicht-hermeneutische Zugänge zu Kulturen
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Anil Bhatti (New Delhi) / Jeroen Dewulf (Porto)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Multi, Inter, Trans: Zur Hermeneutik der Kulturwissenschaft

Bernd Fischer (Ohio State University)

 

Wolfgang Welsch hat 1999 eine kurze Theorie der Transkulturalität vorgelegt, die davon ausgeht, dass der Begriff geeignet ist, die tatsächliche Situation kultureller Lebensformen einer wachsenden Zahl von Menschen zu erfassen und Mißverständlichkeiten vorzubeugen, die die etablierten Begriffe von Multikulturalität und Interkulturalität nach sich gezogen haben.(1) Die grundsätzliche Schwierigkeit des Begriffs Interkulturalität besteht für Welsch darin, daß er ein Kulturverständnis tradiert, demzufolge Kulturen als voneinander abgegrenzte, in sich geschlossene Einheiten gedacht werden, die als solche notwendig in Konflikt miteinander geraten. Interkulturalität versucht dieses Konfliktpotential zwischen sich kulturell definierenden (bzw. von ihr selbst solchermaßen definierten) Gesellschaften zu steuern oder zu vermindern, akzeptiert die kulturellen Barrieren, die Gesellschaften voneinander abgrenzen, aber weiterhin anthropologisch als Menschen notwendige Identitätsfaktoren und zumindest in dem Sinne als naturhaft. Obgleich hier einzuräumen ist, daß interkulturelle Theorien durchaus die historische Variabilität kultureller Definitionsmerkmale anerkennen und z. B. die Frage nach Grenzziehungen zwischen Kulturen zum eigenen Untersuchungsgegenstand gemacht haben, ändert das nur wenig an Welschs Beobachtung, daß die interkulturelle Begrifflichkeit den Vorstellungsraum von sich aneinander reibenden Kulturen prinzipiell nicht verlassen kann. Der Begriff Multikulturalität ist für Welsch ähnlich strukturiert und versucht, die wiederum als anthropologisch bedingt und damit als naturhaft empfundenen kulturellen Konfliktpotentiale zu steuern, die im Aufeinandertreffen von Kulturen innerhalb einer Gesellschaft auftreten. Beide Konzepte haben kulturpolitische Initiativen begründet, die nach Strategien kultureller Versöhnung (einem friedlichen und produktiven Miteinander) bei gleichzeitiger Anerkennung der kulturellen Unterschiede suchen und fordern, daß Kulturen sich für den Blick von außen öffnen, ja diesen in den Eigenblick integrieren, um so eine neue Stufe des Miteinanderverstehens ‚zwischen’ den Kulturen zu erreichen, um auf dieser Basis eine neue Qualität des Zusammenlebens von Kulturen zu üben.(2) Aber so lobenswert die Interventionen von interkulturellen oder multikulturellen Programmen in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen auch sind, aus transkultureller Perspektive bleiben sie problematisch, weil sie von der bisher ungeklärten Prämisse abhängen,(3) daß kulturelle Merkmale prinzipiell als Faktoren gruppenspezifischer Zugehörigkeiten zu definieren und voneinander abzugrenzen sind, und damit trotz aller gegenteiligen Beteuerungen und pädagogischen Strategien leicht in Versuchung geraten, einen partikularistischen Kulturbegriff zu bekräftigen, der problematischen Phänomenen wie Gettoisierung und Kulturfundamentalismus Vorschub leisten kann.(4) Multikulturalität und Interkulturalität stehen in diesem Sinn in der Tradition einer Wissenschaft der Kulturen, deren Genese politisch eng (affirmativ oder kritisch) mit dem kolonialistischen Paradigma und schließlich mit einem kulturwissen-schaftlichen Nationsbegriff verknüpft ist.

Welsch begründet seine Favorisierung des Begriffs Transkulturalität damit, daß dieser Begriff geeignet sei, sich eindeutiger von der Geschichte des Kulturalismus abzugrenzen, weil er auf die (sich im beschleunigten Prozeß der Globalisierung immer mehr durchsetzende) Durchdringung von Kulturen und kulturellen Zugehörigkeiten abhebt und alternative Identitätsstrategien aufscheinen läßt.

Vielleicht hilft ein Beispiel, um zu veranschaulichen, was hier gemeint ist: z. B. die deutsch-türkische Amerikanerin, die sich weder als Türkin noch als Deutsche fühlt, aber auch in der deutsch-türkischen Gemeinde kein wirkliches Zuhause findet und darum in den USA lebt, wo es auch diese Gemeinde nicht gibt, und natürlich auch amerikanisch-türkische Gruppierungen auf Distanz zu sich hält. Ein prominentes Beispiel wäre die somalische Abgeordnete im britischen Unterhaus, die u. a. dafür kämpft, daß die britisch-somalische Gemeinde sich aus überkommenen orthodoxen und neuen fundamentalistischen Strukturen befreit und sich für globale, u. a. auch europäische Lebensformen öffnet. Solche Menschen, die wir alle kennen, vermitteln den Eindruck, daß transkul-turelle Lebensformen vielleicht gar keine Berührungsängste haben müssen, daß kulturelle Phänomene grundsätzlich und ohne Hemmungen oder schlechtes Gewissen adaptiert und mutiert, d. h. auf die eignen Bedürfnisse zurechtgeschnitten werden können.

Der Befürchtung, daß die Globalisierung, eine zunehmende Homogenisierung nach sich zieht, stellen transkulturelle Lebensformen das Argument entgegen, daß in ihnen Diversifikation nicht eigentlich zerstört, sondern auf spezifische Weise aufgehoben werde, indem sie den Modus von Diversifizierung verändere. Während die Divergenzen kulturnational definierter Gesellschaften tatsächlich langsam zurückgedrängt werden, entsteht eine neue Diversifikation im individuellen Selbst in der Form von transkulturell- durchwobenen Lebensformen, transkulturellen Netzwerken, die eine größere Reichhaltigkeit kultureller Variabilität zeitigen, damit aber auch ungleich schwieriger zu differenzieren sind. Geographische, ethnische und nationale Determinanten können in dieser Situation kaum noch stabile und verläßliche Muster kultureller Orientierungen bieten. In letzter Konsequenz steht damit die These zur Debatte, daß Individualität und Diversifikation in diesem Konzept zusammenfallen, daß das Ausmaß der Individualität des einzelnen in seinen spezifischen (im radikalen Sinne partikularen) Schnittpunkten kultureller Netzwerke besteht und eben nicht in einer mehr oder weniger fixierten Zugehörigkeit zu ihrerseits als individuell definierten und abgegrenzten Kulturen. Daran schließt sich die Hoffnung an, daß Transkulturalität den identitätspolitischen Widerspruch des modernen Globalisierungsprozesses - massenmediale Uniformität und Armutspartikularität (z. B. das fundamentalistische Erstarken lokaler Kulturen) - wenn auch nicht überwinden (zumindest nicht für perspektivelose und unterprivilegierte Schichten) so doch als politisch-ökonomischen (und eben nicht als primär kulturellen) entfalten kann. Zumindest kann der Begriff die grundlegende Spannung der alten Aufklärungsantinomie (ihr Universalitätsanspruch, der als eins der geforderten Menschenrechte das Recht auf Anerkennung von Partikularität universal einfordert(5)) in ihrer gegenwärtigen globalen Ausformung eher fassen, als gegenwärtige Vorstellungen von Multi- und Interkulturalität. Transkulturalität bietet einer individuellen kulturellen Spezifisierung Raum, ohne darum die Ansprüche universaler Werte aufgeben zu müssen, und zwar unabhängig von ihrer Herkunft und Ursprungstradition. Eine transkulturelle Konzeption von Gesellschaft geht entsprechend davon aus, daß Menschen ihre spezifische Individualität dadurch gewinnen, daß sie lebensgeschichtlich unterschiedliche Konglomerate herkunftsbestimmter, subkulturellern, partikularer und universaler, lokaler und kosmopolitischer, unmittelbarer und medialer Zugehörigkeiten für sich in Anspruch nehmen und lebenspraktisch realisieren.

Allerdings sind die Bedeutungspotentiale des Präfixes ‚trans’ noch nicht mit der Übersetzung als ‚hindurch’ oder ‚quer durch’ erschöpft, sondern ‚trans’ konnotiert ebenso stark ‚hinüber’, ‚jenseits’ und ‚darüber hinaus’. Und diese zusätzliche Konnotation läßt sich m. E. auch hier nicht so ohne weiteres aus der Logik der Theorie herausschneiden. Denn eine Bewegung durch die Kulturen hindurch verweist implizit auf ein Jenseits spezifischer Kulturen, auf einen die partikularen Kulturen übergreifenden - und vielleicht auch überhaupt erst ermöglichenden - Raum durchgängiger Ideen, Überzeugungen und Zugehörigkeiten. Die Aufklärung hatte diesen Raum z. B. mit Begriffen wie Weltbürgertum, Menschenrechten, Individualität, Freiheit usw. zu definieren versucht; Begriffen, die die politische Identität großer Teile der Welt noch heute beschreiben.

Freilich provoziert diese Beobachtung die Frage, ob der Begriff Transkulturalität die Gefahr mit sich bringt, erneut einem hegemonialen Universalismus das Wort zu reden, dem die (ohnehin nur noch im kulturellen Bereich denkbaren) hart erkämpften (oder noch zu erkämpfenden) Partikularitätsansprüche erneut zum Opfer fallen. Eine Strategie, dieser sehr realen Gefahr vorzubeugen, scheint mir darin zu liegen, den Begriff nicht gleich im ersten Schritt programmatisch, sondern als beschreibenden einzusetzen, der sich dadurch auszeichnet, daß er die reale Spannung zwischen legitimen und nicht zu umgehenden Ansprüchen partikularistischer und universalistischer Kräfte in Zeiten der sich beschleunigenden Globalisierung nicht nur nicht leugnet und verharmlost, sondern konzeptionell zu erfassen sucht, ohne weder selbst in einen Kulturalismus oder Universalismus verfallen zu müssen.

Welsch lastet das kulturalistische Erbe, das er in interkulturellen und multikulturellen Theorieansätzen bemängelt, wie viele vor ihm dem Kulturbegriff an, den Johann Gottfried Herder insbesondere in seinem geschichtsphilosophischen Versuch Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) entwickelt hat. Etwas problematisch ist dabei, daß Welsch in dem kurzen Aufsatz nicht zwischen Herders Philosophie und ihrer politischen Rezeption unterscheiden kann, zumal sich in der Forschung der letzten zehn Jahre verstärkt ein ansprechend komplexes und differenziertes Herderbild durchzusetzen scheint.(6) Dennoch liegt die Problematik Herders im zeitgeschichtlichen Umfeld durchaus nachvollziehbaren Versuch, nicht zuletzt mit antikolonialer und gegen Ende seines Lebens auch verstärkt antiabsolutistischer Intention eine kulturelle Definition von nationaler Identität vorzuschlagen, nach 200 Jahren Nationalismus auf der Hand, so daß eine erneute Darstellung dieser Problemfelder hier zu weit führen würde.(7) Es scheint mir in dieser Beziehung wichtig, den häufig postmodernen Jargon kulturwissenschaftlicher Theorien dahingehend zu hinterfragen, inwieweit es dabei gerade darum gehen könnte, das kulturalistische Erbe zu drapieren.

Aber auch die historische Positionierung von Transkulturalität ist schwieriger, als es zunächst den Anschein haben könnte, und sollte selbst nicht vorschnell als postmodernes Phänomen aufgefaßt werden; eine Tendenz, die in Welschs Aufsatz etwas durchtönt. Denn die Vorstellungen, die sich mit dem Begriff heute verbinden, traten zugleich mit (und als Funktion) der Kulturwissenschaft des 18. Jahrhunderts in Erscheinung, und zeugt von dem ursprünglichen Bemühen dieser Wissenschaft, Perspektiven aufzuzeigen, die über den sich im frühen 19. Jahrhundert verfestigenden Kulturalismus hinausweisen können: auf Möglichkeiten individueller und gesellschaftlicher Identitäten jenseits der Konstruktion homogener Kulturen, so daß die Hypothese sinnvoll erscheint, daß zumindest der wissenschaftliche Kulturalismus von Anfang an den Keim seiner Überwindung in sich getragen hat. Neu scheint mir lediglich die ökonomische(8) Dringlichkeit und räumliche Erstreckung transkultureller Prozesse. Dieser historische Druck macht die transkulturelle Theoriearbeit natürlich, ob sie will oder nicht, zu einem politischen Unterfangen, wobei freilich noch nichts darüber ausgesagt ist, ob sie als legitimierender Überbaureflex oder als Kritik dieser im Prinzip ökonomischen Entwicklung (oder, wie so häufig, als Mischung beider Funktionen) auftritt. Auf jeden Fall scheint es ratsam zu erinnern, daß es sich bei den Phänomenen, die der Begriff Transkulturalität zu erfassen versucht, nicht um prinzipiell neue Erscheinungen handelt - am denke z. B. an den Kosmopolitismus zahlreicher Eliten nicht erst in post- oder transnationalen, sondern bereits in vornationalistischen Epochen -, sondern um eine sich, aufgrund von politischen, ökonomischen, kommunikations- und verkehrs­technischen Entwicklungen in immer breiteren Schichten ausbreitende Lebensform, deren Quantität schließlich einen qualitativen Umschlag im Kulturbegriff nach sich ziehen könnte. Dabei ist es zum gegenwärtigen Zeitpunkt müßig darüber zu streiten, ob dieser qualitative Umschlagspunkt bereits erreicht oder aber durch gegenwärtige neoimperialistische Strömungen in eine repressive Richtung gedrängt, bzw. angesichts der vermutlich auf lange Zeit anstehenden Konfrontationspotentiale von 1. und 3. Welt (Nord und Süd, West und Ost) bis auf weiteres (in eine Konfrontation religiöser Fundamentalismen) verschoben ist. Hier muß es genügen, die Perspektiven einer potentiell transkulturellen Entwicklung unabhängig von ihrem gegenwärtigen politischen Status in den Blick zu nehmen. Wenn es aber stimmt, daß eine globale Moderne transkulturelle Lebensformen zumindest als Möglichkeit in Aussicht stellt, ist es dringlicher denn je geworden ist, politische (und in dem Sinne nationale) Identität von kultureller Identität zu trennen.

Für die Kulturwissenschaft stellt Transkulturalität eine Herausforderung dar, insoweit transkulturelle Lebensformen sich dem Zugriff einer identitätszuschreibenden Begrifflichkeit zu entziehen drohen. Das kann nicht überraschen, insofern der Transkulturalitätsbegriff einem philosophischen Diskurs verpflichtet bleibt, dem die Kultur suspekt bleibt, zumal die Philosophie ihre kulturelle Bedingtheit ohnehin nur spät in den Blick genommen hat und bis heute eher als unschöne Schwäche wertet.(9) Das heißt freilich nicht, daß das philosophische Argument für eine transkulturelle Perspektive damit aus der Welt geschaffen wäre, indem man nach Art der interkulturellen Germanistik aus der Not eine Tugend macht und unverdrossen erklärt, daß die interkulturelle Antizipation oder Simulierung des fremden Blicks automatisch ein Andersverstehen des Eigenen wie des Fremden beinhalte und somit ein Zuwachs an Verstehen sei.(10) Denn, wenn man nur das besser versteht, was man zuvor simuliert hat, fragt sich über den Tautologitätsverdacht hinaus einerseits, woher die Kompetenz der Simulation geschöpft wird, und andererseits, ob ein so strukturiertes "interkulturelles Öffnen" den Dialog nicht eher verhindert als fördert, indem es die Außen- oder Fremdposition des anderen schon in den eigenen Blick integriert hat, also immer einen okkupierenden Schritt voraus ist.

Wenn die Bewertung richtig ist, daß die Kulturwissenschaft sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gegen die teleologische Geschichtsphilosophie und Anthropologie als Wissenschaft der Kulturen ( im deutschen Sprachraum erstmals im Plural bei Herder(11)) etabliert, so sind Aspekte von beiden politischen Polen dieser Genese in den noch heute aktuellen Vorstellungsraum von Transkulturalität eingegangen: einmal Spuren des ursprünglichen Konflikts der neuen Wissenschaft (als Chiffre für das Durchbrechen einer einsinnigen universalen (philosophischen) Vorstellung von Kultur zugunsten einer Vielfalt von Kulturen) und am anderen Ende des Spektrums Spuren der identitäts- und machtpolitischen Potenz des neuen Kulturenbegriffs (als Chiffre für das philosophische Unbehagen am Kulturalismus).

So berechtigt die Hoffnung sein mag, daß Transkulturalität als spannungsgeladener Begriff geeignet ist, die dualistische Verfestigung von kulturalistischem Nationalismus und politischem Internationalismus aufzuweichen, so wenig Handhabe bietet er andererseits für die konkrete Erforschung transkultureller Lebensformen und des daran geknüpften individualisierten Kulturbegriffs. Denn, wenn partikulare Kultur sich aus transkultureller Sicht authentisch auf lebenspraktischer Ebene und damit auch auf der ersten analytischen Ebene zuerst als Individualität, d. h. als Moment im Prozeß der Individuation des Einzelnen in nicht unbedingt klar voneinander abgegrenzten transkulturellen Netzwerken in einer Vielzahl von Mischungsverhältnissen manifestiert, dann sieht sich die Kulturwissenschaft aufgefordert, bei Untersuchungen von solch individuellen Manifestationen anzusetzen. In dem Sinne zielt Transkulturalität nicht nur auf Revisionen des traditionellen Kulturenbegriffs, sondern auch auf die Überprüfung des daran geknüpften Wissenschaftsbegriffs.

Neben Fragen nach dem möglichen Untersuchungsobjekt stellt sich aus transkultureller Sicht auch die Frage nach dem Standort und dem Blickwinkel des Beobachters in verschärfter Form. Ich versuche mich dieser Problematik über einen kurzen historischen Umweg zu nähern, indem ich nochmals auf Herder zurückgehe. Herders kulturwissenschaftliches Programm setzt, wie bereits angesprochen, aus politisch durchaus nachvollziehbaren Gründen radikaler als andere Autoren auf die Partikularität von Kulturen, auf ihr Recht, in ihrer Besonderheit zu existieren und ihre Potentiale vollständig und unbedrängt von kolonialen und kulturmessianischen Bedrohungen auszuleben. Damit setzt Herder dem Universalitätsanspruch der europäischen Aufklärung ein nachhaltiges kulturkritisches Fragezeichen. Eine solchermaßen selbstkritisch gewendete Aufklärung trug einerseits dazu bei, daß die Geisteswissenschaften sich ihres Wissenschaftsanspruchs und ihrer Legitimität über komplizierte Selbstreflexionen (z. B. in idealistischen Systemphilosophien) versichern mußten und letztlich doch nicht dauerhaft konnten.(12) Andererseits gewinnt Herders Kulturwissenschaft innerhalb weniger Jahrzehnte (über den romantischen Umweg) an politischem Prestige und ersetzt in historistischen und konservativen Identitätsphilosophien das philosophische Nationsmodell einer konstitutionellen Republik durch eine kulturwissenschaftliche Fundierung von Identität, die Kulturnation.(13) Dabei ist allerdings zu beachten, daß auch Herders Kulturwissenschaftler nicht umhinkommt, seiner Methode, als wissenschaftlicher einen universalen Anspruch zuzuschreiben, der sich potentiell auf jeden Kulturwissenschaftler erstreckt, unabhängig von seiner eigenen kulturellen Herkunft. Zwar schreibt Herders Kulturwissenschaftler den Objekten seiner Wissenschaft, den in einer spezifischen Kultur agierenden Menschen, keine transkulturellen Positionen zu, ihm selbst aber wird als kompetentem Interpreten fremder Kulturen durchaus eine wissenschaftliche Form von Transkulturalität abverlangt, so daß er selbst bereits eine Grenze des ‚nationalen’ Kulturbegriffs verkörpert. Anders ausgedrückt, die Kulturwissenschaft erfordert, daß auch eine kulturwissenschaftlich orientierte "Gelehrtenrepublik" des 18. Jahrhunderts (als Vision privilegierter Öffentlichkeit) bereits eine transkulturelle Republik ist. In der zeitgeschichtlichen Fassung hermeneutischer Rezeptionen fremdkultureller Produkte ist damit nicht zuletzt die Befähigung zur transkulturellen Einfühlung gemeint, die das Fremde deshalb versteht, weil es Eigenes, d. h. intersubjektiv Menschliches in ihm findet, und zwar nicht nur als philosophisch abstrakte Einsicht, sondern im konkreten Sinne als Ein- und Mitfühlen, als ästhetisches und intellektuelles Mit- und Erleben der fremden Kultur. Dieses Programm, im Anderen das verbindende Menschliche des Selbst zu erkennen, scheint noch heute die Definition von Transkulturalität zu bestimmen, die in Auseinandersetzung mit Interkulturalitätsmodellen derzeit in der Psychologie und Pädagogik diskutiert wird.(14) Herder geht es freilich nicht in erster Linie um konfliktfreieres Zusammenleben aufgrund von gemeinsamem tieferem Verstehen - wenngleich sehr wohl um eine Toleranz, die die eigenen Vorurteile nicht leugnet, sondern reflektiert -, ihm geht es als Kulturwissenschaftler darum, die Genialität der fremden Kultur (z. B. in ihrer Kunst) und ihren partikularen Wert (z. B. in ihren einzigartigen Lebensformen) nachempfindend zu verstehen. Summierend spricht er von der Humanität einer Kultur, und in der Verankerung in diesem Humanitätsbegriff liegt für ihn die Legitimität der kulturwissenschaftlichen Interpretation. Denn jeder Kultur kann Humanität zugesprochen werden - wenn auch in unterschiedlichem Maß und natürlich in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen -, das verbürgt der Begriff ; wo Menschen sind, gibt es Humanität. Damit bezeichnet dieser Begriff die dichteste Zusammendrängung von Herders politischem und wissenschaftlichem Programm, wenn nicht sein ethisches Mandat menschlichen Wirkens schlechthin: die umfassende Erkenntnis von Humanität. Das, was den Menschen zum Menschen macht, das was tatsächlich menschlich ist, muß da nach im Zentrum allen menschlichen Handelns und Wollens liegen. Es kann also nicht überraschen, daß Herder den Begriff, wo er es überhaupt explizit versucht, wie z. B. in den Briefen zur Beförderung der Humanität (1793-1797), nur tautologisch bestimmen kann.(15) Denn es handelt sich um das zentrale ‚centre manqué’ seiner Metaphysik, das ihm eine programmatische Erkenntnisorientierung seiner kulturwissenschaftlichen Theorie und Praxis erlaubt. Humanität ist darum tautologisch bestimmt, weil sie als Platzhalter für etwas einsteht, was es noch nicht, zumindest nicht im vollendeten Maße gibt, und in dem Sinne auf Erden auch nicht geben kann, aber geben soll. In diesem Sollen liegt der Sinn der Herderschen Kulturwissenschaft, die sich auf die Suche nach dem Verständnis der vielfältigen kulturellen Formen und Ausprägungen macht, in denen sie Spuren oder auch nur den Vorschein von Humanität zu finden bzw. zu empfinden glaubt. Es scheint mir wichtig, diesen Aspekt des Herderschen Universums zu betonen, ohne damit die historische Problematik seine r Konzept ion einer Kulturnation leugnen zu wollen. Ich glaube, es ist angemessen zu sagen, daß Herder den partikularen und universalen Anspruch seines kulturhistorischen Programms an der regulativen Idee der Humanität, also gewissermaßen in einem rein wissenschaftsethischen Rahmen, vermitteln konnte, aber kaum in bezug auf sein kulturpolitisches Aufklärungsprogramms, und auch eine Ahnung von der politischen Dimension dieser bis heute aktuellen Aporie hatte. Immerhin, für den Kulturhistoriker verbürgt der Humanitätsbegriff eine transkulturelle Ausrichtung und Qualität und macht ihn zum Bürger einer säkularen transkulturellen Gelehrtenrepublik. Dieser Wissenschaftler erreicht transkulturelles Verstehen, indem er sich durch unermüdliches Lesen in eine Wissensposition versetzt, die seinem Talent (Genie) erlaubt, sich in die andere Kultur einzufühlen, sich lesend in sie einzuleben, ohne sie wirklich leben zu können oder zu müssen. Es handelt sich also um eine bildungsästhetische Hermeneutik.

Wenn es so ist, daß der Ort für umfassende und tiefgreifende transkulturelle Erfahrungen für einen wachsenden Teil der Menschen der lebenspraktische Alltag und nicht allein die Studierstube (oder die Studienreise) ist, daß die durch unermüdliches Lesen gebildeten Bewohner der imaginierten transkulturellen Gelehrtenrepublik für transkulturell lebende und über diese Lebensform reflektierende Bürger einer punktuell antizipierten, bzw. in Teilbereichen realisierten‚ Weltbürgergemeinschaft’ (um Kants Begriff zu benutzen) Platz machen, dann stehen wir wissenschaftstheoretisch und politisch in bezug auf die Identitätsproblematik vor einer fundamentalen quantitativen und auch qualitativen Verschiebung.

Von grundsätzlicher Bedeutung ist dabei die Frage, welche Veränderungen solchermaßen real werdende und sich ausbreitende transkulturelle Lebensformen für das Verstehen von Selbst und Welt, von eigen und fremd, von Identität und Zugehörigkeit aufwerfen . Ein oft beschriebener Mangel der kulturwissenschaftlichen Hermeneutik (auch noch in Gadamers Fassung) besteht für ihre Kritiker ja darin, daß ihr dialogisch strukturiertes Spiel mit dem Anderen mit einer Tradition vermittelt ist, die relativ unproblematisiert homogen konzipiert ist, weil sie z. B. als nationalkulturelle, westlich zivilisatorische oder universalphilosophische gedacht ist. Wenn nun in der oben beschriebenen Konzeption von Transkulturalität nicht nur das Objekt der kulturwissenschaftlichen Untersuchung, sondern auch der Interpret selbst seine eigene spezifische Tradition (und damit sein eigener individueller Standort und seine eigene spezifische Horizonterwartung) als individueller Schnittpunkt, bzw. als additionsfähige Summe vieler Schnittpunkte von kulturellen Vernetzungen, und das auch nur temporär begrenzt für den konkreten Augenblick, ist, dann wird von, oder in dieser transkulturellen Position offenbar etwas ganz anderes vermittelt als eine nationalkulturelle, westlich zivilisatorische oder universalphilosophische Tradition. Hermeneutik hieße hier nicht mehr und nicht weniger als möglichst authentische Beschreibung einer radikalisiert individuellen Sinnkonstruktion unter Bedingungen kultureller Mehrfachzugehörigkeit und Multiperspektivität. Solche Beschreibungen lassen sich diskutieren, aber nur sehr schwer auf die Konstruktion eines konsensuellen, homogenen kulturhistorischen Horizonts verkürzen, so daß vom Standpunkt der Kulturwissenschaft gilt, daß transkulturelle Lebensformen sich ihr sowohl auf der Objekt-, wie auf der Subjektebene widersetzen. Man wird dennoch fragen müssen, ob die Anerkennung der transkulturellen Situation hermeneutische Vorteile biete n könnte, die sich z. B. aus der Multiplizität von Standorten erg e b en mögen, deren Spuren das Selbst des Interpreten ausmachen. Man könnte vom transkulturellen Bewußtsein z. B. eine größere Beweglichkeit und eine emotional anders gelagerte Toleranz erwarten (insoweit dieses Bewußtsein ja in sich selbst ein höheres Maß an Perspektiven tolerierend lebt). Allerdings wird dabei unmittelbar klar, daß transkulturelle Lebensformen sich in einem Kreuzfeuer politischer Strukturen und Interessen - von kulturpolitischen Zuschreibungen über nationalpolitischen Vereinnahmungen bis zu globalökonomischen Exploitationsstrategien - ereignen, so daß auch die emanzipative Potenz transkulturellen Verstehens nicht im politikfreien Raum gedacht werden kann oder darf. In dem Sinne setzt die interkulturelle Perspektive der idealen Verstehenssituation der Interkulturellen Germanistik ein deutliches Fragezeichen.

Eingebunden in die Ausbildung ausländischer Studenten versucht diese Disziplin, das Fremdverstehen als Andersverstehen anzuerkennen, um durch die Erarbeitung und Berücksichtigung der fremden Perspektive einen Zuwachs an Verstehen, die gemeinsame Möglichkeit zu einem Mehrverstehen i n einem interkulturellen Zwischenbereich zu erreichen. Das schwierige Problem der machtpolitischen Asymmetrie von Kulturbeziehungen, z. B. der Interpretationsautorität, wird dabei schlechterdings ausgespart. Die bislang bevorzugte Methode besteht dabei, soweit ich sehe, in der antizipierenden Simulation von Fremdverstehen des Eigenen. Gerade indem die Interkulturelle Germanistik sich die Aufgabe stellt, die kulturelle Position des Fremden (z. B. des ausländischen Germanistikstudenten) simulierend in den eigenen Verstehenshorizont zu integrieren, also die Sicht des Fremden bereits vorwegzunehmen, läuft sie, wie bereits angesprochen, Gefahr, einen wirklichen, sich an den individuellen Interessen und Bedürfnissen des einzelnen orientierenden Dialog zu verhindern, da sie dem fremden Blick institutionell und theoretisch immer einen Schritt voraus ist und seine Position bereits selbst besetzt hat. Es handelt sich also um die Okkupierung des Fremden im bildungsmäßig erweiterten Eigenen (insoweit ist trotz der pädagogischen Ausrichtung eine deutliche Parallele zu Herders Kulturwissenschaftler zu erkennen), das dann solchermaßen aufbereitet an den Fremden weitergereicht wird, wobei das Eigene ohnehin nicht aus authentischen Bereichen individueller Erfahrung oder Interpretation stammt, sondern in den theoretischen und applikationsbezogenen Spezifizierungen der Interkulturellen Germanistik beheimatet ist, die sich von den verschiedensten Indienstnahmen ableiten (also auftragsgebunden sind). Diese Wegorientierung vom Individuum zugunsten von Leitdiskursen, der die interkulturelle Germanistik sich als Hilfswissenschaft anpreist, reicht von einer nationalpolitischen Ausrichtung (z. B. auf die Kulturpolitik des Auswärtigen Amtes) bis zur globalen Marktforschung und Personalpolitik globaler Unternehmen. All das mag als Strategie zur Aufwertung des Fachs Deutsch als Fremdsprache an deutschen Universitäten durchaus sinnvoll sein, für die Hermeneutik scheint die Ausbeute bislang dürftiger zu sein, als die Rhetorik der Hauptvertreter der Interkulturellen Germanistik nahelegt.(16)

Der Vorwurf trifft insbesondere Alois Wierlacher, an dessen idealer und harmonisierter Konstruktion interkulturellen Verstehens sich innerdisziplinär Autoren wie Doris Bachmann-Medick und Horst Steinmetz reiben, so daß die Interkulturelle Germanistik seit einigen Jahren einen kontroversen Dialog in Gang gesetzt hat, der verspricht, der tatsächlichen Problemlage gerechter zu werden. Bachmann-Medick mißt den theoretischen Stand der Interkulturellen Germanistik an kulturanthropologischen, ethnologischen und postkolonialen Fragestellungen, die vor allem im angelsächsischen Bereich aufgeworfen wurden. Zu den Horizonterweiterungen, die sie sich von einer kulturanthropologischen Betrachtungsweise erhofft, zählt sie u. a. die "Aufdeckung der Grenzen interkultureller Hermeneutik und Betonung kultureller Differenzen angesichts der Ungleichheiten in den interkulturellen Dialogbedingungen" sowie eine "Reflexion literarischer Texte im Zusammenhang weltweiter Migrationsprozesse."(17) Ganz grundsätzlich geht es ihr um "die Abkehr vom Begriff der Kultur als Ort fester Zugehörigkeiten, aber auch die Abkehr von einem zu harmonistischen Bild von Literaturaustausch und internationaler Verständigung" (445). Allerdings gesteht Bachmann-Medick gegen Ende ihres Beitrags ein, daß sich auch die anthropologische Kulturwissenschaft selbst "neu orientieren [muß] angesichts einer transnationalen Weltgesellschaft, deren ökonomisch-kulturelle Verflechtungen einerseits die traditionelle Fremdheitskategorie außer Kraft setzen - indem sie in globaler Vereinheitlichung statt globaler Vielfalt münden -, die aber andererseits mit Internationalisierung schon längst nicht mehr hinreichend zu beschreiben sind" (446). Obgleich letztlich nicht deutlich wird, in welche Richtung diese Neuorientierung der anthropologischen Kulturwissenschaft führen soll, kann ich mir hier gegenwärtig nur eine transkulturelle Perspektive vorstellen, wobei sich dann die Frage stellen könnte, ob die ethnologische Anthropologie in bezug auf transkulturelle Verstehenshorizonte kulturwissenschaftlicher Interpretationen sich weiterhin so radikal von der Tradition der philosophischen Anthropologie (Herderscher Prägung) der Aufklärung absetzen kann, wie Bachmann-Medick das in ihrem Beitrag noch unproblematisiert voraussetzt (vgl. 440).

Steinmetz warnt in dem m. E. vielleicht interessantesten Beitrag des Handbuchs interkultureller Germanistik zunächst vor der Deästhetisierung, die, so kann man, glaube ich, sagen, zu einem grundsätzlichen Problem der interkulturellen Germanistik in ihrer derzeit vorliegenden Form geworden ist. "Interpretation, die nicht nur rationalisierte Rezeption sein will, die also die Tendenz zur Deliterarisierung der Rezeption nicht übernehmen will, darf darum das Fremde, die Unbestimmtheit, das Ungeläufige nicht normalisieren, sie darf die Viel- und Mehrdeutigkeit nicht beseitigen" (464). Diese Forderung ist in der interkulturellen Interpretation natürlich noch schwieriger aufrechtzuerhalten, so daß Steinmetz von einer Addition zusätzlicher hermeneutischer Probleme ausgeht. Z. B. stellt sich die Frage nach dem adäquaten kulturellen Kontext neu. Welcher Kontext soll berücksichtigt werden: "der eigenkulturelle Kontext des Werkes [...] oder der des Interpreten? Sollte es eine Kombination aus beiden sein?" (465) Während das Ziel oder Ideal einer interkulturellen Interpretation für Steinmetz klar ist - "Die Auflösung der starren Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden, die Modifikation isolierter und tradierter Standpunkte, die Überwindung usurpatorischer Deutungen, die aus der Einseitigkeit nur einer Kultur hervorgehen, die wechselseitige Bereicherung des Eigenen und des Fremden, die schließlich zum besseren, nicht zuletzt auch kritischeren Selbstverständnis auf beiden Seiten führt" (466) -, bleibt die Frage, wie das zu erreichen ist, für Steinmetz noch weitgehend ungelöst. Er geht sogar soweit zu sagen, daß die relevanten Frage "bis heute nicht nur nicht gelöst, sondern nicht einmal ernsthaft gestellt worden sind" (466), so daß sein Befund darauf hinausläuft, daß das "Ideal der interkulturellen Interpretation [...] zur Zeit nicht mehr als ein Ideal" ist (466). Die interkulturelle Interpretation benötigt "einen höheren Standpunkt, in dem die Einseitigkeiten des simulierten und des eigenkulturellen Ansatzes aufgehoben, relativiert und in einen fruchtbaren neuen Blick integriert sind. Dies ganz im Sinne des Humboldt’schen ‚ungeschwächten gleichzeitigen Bewusstseins’. Ein derartiges Bewusstsein kann möglicherweise dem individuellen Interpreten intuitiv und zeitweilig erreichbar sein. Aber um es für eine methodisch-systematisch fundierte Interpretation operabel zu machen, bedarf es einer interpretativen interkulturellen Texthermeneutik, die erst noch zu entwickeln ist" (467).

Steinmetz’ Skepsis bekräftigt den Eindruck, daß die hohen Erwartungen der Interkulturellen Germanistik, Verstehensmauern einreißen und Fremdheit auf einer transpolitischen Ebene (aber im Dienst verschiedener Leitdiskurse) vermitteln zu können, bislang wenig mehr als theoretisch unfundierte Appelle an die Seminarpraxis sind. Denn wenn die Möglichkeit einer interkulturellen Hermeneutik weiterhin in Begriffen wie Intuition und dem Erreichen einer übergeordneten Verstehensebene verankert bleibt, tritt auch dieser Ansatz noch immer auf der Stelle, auf der die kulturwissenschaftliche Hermeneutik sich seit langem im Kreise dreht. In dieser Situation können transkulturelle Theorieansätze zumindest als Erinnerung daran dienen, daß Verstehen immer an die tatsächliche Lebenserfahrung und Lebenspraxis von Individuen rückgebunden bleibt und daß diese Voraussetzung in jede Verstehenstheorie einfließen muß. Andererseits können die multiplen Horizonte transkultureller Lebensformen auch erhellen, daß real gelebte Verstehensstrategien einiges von dem hinter sich gelassen haben, was in der Seminararbeit der Interkulturellen Germanistik als theoretische Unmöglichkeit aufscheint. Denn transkulturelle Lebensformen implizieren aufgrund ihrer Mehrfachzugehörigkeit und Multiperspektivität eine Distanz sich als homogen positionierenden Kulturen gegenüber. Es ist diese Distanz, die Steinmetz in einem weiteren Beitrag, in dem er Wierlachers Vorstellung von interkultureller Aneignung in wenigen Schritten als Annexion und Usurpation überführt und durch eine Konzeption der wissenschaftlichen Lektüre ersetzt, eben dieser interkulturellen Literaturwissenschaft abverlangt, wenn sich zumindest in der wissenschaftlichen Interpretation eine "gleichgewichtige wechselseitige Durchdringung und Bereicherung des Fremden und Eigenen" einstellen soll ( 560). Schwieriger noch scheint mir die ebenfalls aufgeworfene Frage warum Leser überhaupt der machtpolitischen Versuchung zur unbedarft annektierenden oder usurpierenden Lektüre entziehen und ein "bewusstes Bemühen um das Fremde [...] zum offenen Verstehenwollen des Fremden und Unbekannten" aufbringen (560). Die Antwort kann m. E. nur darin gesucht werden, daß Leser in der Lage sind, sich auch von fremdkulturellen Texten (und bisweilen gerade von ihnen) neue Perspektiven auf Erfahrungen, Gefühle, Probleme, Fragen usw. zu erhoffen, die sie zumindest während des Lektürevorgangs (im Glücksfall vielleicht aber auch darüber hinaus) bereichert. Diese Hoffnung kann aber nur unter der Voraussetzung bestehen, daß die Texte als von Menschen geschriebene Menschliches verhandeln, das prinzipiell auch den Leser berühren kann.

Zum Schluß soll dieser Gedanke zum Anlaß genommen werden, um noch einmal daran zu erinnern, daß Transkulturalität als über den partikularen Kulturalismus hinaus auf die Individualität des Einzelnen (in allen Gesellschaften) verweisende Lebensform (aber auch schon als transkulturelle Gelehrtenrepublik) nicht umhin kommt, eine Kulturen überspannende Verstehensebene ins Blickfeld ziehen. Es fragt sich, ob Herders Strategie, diese Universalie metaphysisch mit seinem Begriff von Humanität zu besetzen, im heutigen wissenschaftlichen Umfeld, z. B. in den Grenzbereichen geisteswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Methodik, vielleicht konkretere und überprüfbarere Ausformungen und Formulierungen gefunden hat. Ich denke z. B. an die neuen Bemühungen in der Makroökonomie, Lebensqualität empirisch und interpretativ auszumachen und ins Zentrum ökonomischer Theorien zu stellen. Aus der Psychologie stammt andererseits der Versuch, das Phänomen der individuellen Lebensqualität am Begriff des Glücks zu spezifizieren und als Glücksgefühl und -erlebnis zu untersuchen. Inzwischen gibt es eine interdisziplinäre Glücksforschung, die, soweit ich sehe, insbesondere experimentalpsychologisch und empirisch soziologisch ausgerichtet ist, aber ein entwickeltes Bewußtsein davon hat, daß sie nicht ohne Interpretation auskommt. Soweit diese Entwicklungen als konkrete Füllung einer humanistischen Kulturwissenschaft aufgefaßt werden können, mag es nicht unerheblich sein, sich mit ihren Methoden und Fragestellungen auseinanderzusetzen.

Natürlich provoziert diese Art von Interdisziplinarität sofort die Frage, ob eine transkulturelle Hermeneutik überhaupt eine programmatische Engführung auf einen wertgeladenen Begriff(18) wie Lebensqualität, Glück oder auch Menschenrecht benötigt und vertragen kann, der sie zugleich erneut unter Metaphysikverdacht stellt. Meine heuristische Antwort lautet, daß sie es dann benötigt, wenn sie weiterhin als Studium der Kulturen und nicht allein kultureller Einzelphänomene Geltung bean-sprucht und sich dabei nationalistischem und kulturfundamentalistischem Mißbrauch entziehen will.(19) Ob dieser Anspruch freilich ohnehin gerechtfertigt ist und aufrechterhalten werden kann, ist eine andere Frage. Wenn die kulturwissenschaftliche Ausrichtung der Geisteswissenschaften - also ihr Befreiungsakt aus politischen Leitdiskursen - der letzten Jahrzehnte nicht mehr bedeutet, als daß es sinnvoll ist, kulturelle Phänomene im Zusammenhang mit anderen Gattungen und Arten kultureller Phänomene zu interpretieren, dann bezeichnet dieser Ansatz nicht mehr als eine fächerübergreifende Programmatik zur empirisch reichen, multiperspektivischen und möglichst ideologie- bzw. metaphysikfreien Kontextualisierung der Interpretation einzelner spezifischer Phänomene. Das ist natürlich schon sehr viel (wenn auch keine Wissenschaft der Kulturen) und bleibt auch eine notwendige Bedingung für das Gelingen einer transkulturellen Hermeneutik.

© Bernd Fischer (Ohio State University)


ANMERKUNGEN

(1) Wolfgang Welsch, "Transculturality - the Puzzling Form of Cultures Today." Spaces of Culture: City, Nation, World, hg . von Mike Featherstone u nd Scott Lash (London: Sage 1999), 194-213.

(2) Besonders detailliert, vielschichtig und umfassend wird diese Strategie von der sogenannten Interkul - turellen Germanistik verfolgt. Vgl. dazu das Handbuch interkulturelle Germanistik, hg. von Alois Wierlacher und Andrea Bogner (Stuttgart: Metzler, 2003).

(3) Diese Voraussetzung scheint gegenwärtig übrigens immer bedeutender und in Teilen der interkulturellen Kulturwissenschaft immer dogmatischer gehandhabt zu werde n , wofür offenbar nicht zuletzt institutionelle Durchsetzungszwänge verantwortlich gemacht werden. Im deutschen Sprachraum bietet Alois Wierlacher einen Eindruck von der Interdependenz der Theoriebildung und Hochschulpolitik am Beispiel der Interkulturellen Germanistik; vgl. z. B. seine einführende Zusammenfassung der Geschichte und Theorie der Interkulturellen Germanistik im Handbuch interkulturelle Germanistik, 1-34.

(4) Die diesbezüglichen Erfolge und Mißerfolge der Multikulturalitätsdebatte lassen sich insbesondere in den klassischen Einwandererländer wie den USA oder Australien an den so notwendigen wie schwierigen Reformprozessen einer ideologisch von vielen Seiten vereinnahmten Identitätspolitik beobachten; wobei wir gegenwärtig offenbar eine besonders problematische Phase konservativer oder reaktionärer Revolutionen durchleben.

(5) Vgl. dazu B. F., Das Eigene und das Eigentliche (Berlin: Schmidt, 1995), 218-229.

(6) Vgl. F. M. Barnard, Herder on Nationality, Humanity, and History (Montreal: McGill-Queen’s UP, 2003) (SEITENANGABE FEHLT) .

(7) Eine detaillierte Darstellung versuche ich im Herderkapitel von Das Eigene und das Eigentliche, 183-229.

(8) Minoritäten konnten sich schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts, insbesondere unter Berufung auf Immanuel Kants Theorie einer Weltbürgergesellschaft, mit transkultureller Perspektive gegen den frühen nationalistischen Kulturalismus wenden. Ein wenig beachtetes Beispiel dieser Art ist z. B. Saul Aschers Kampf gegen den romantischen Nationalismus.

(9) Vgl. Franz M. Wimmer, "Interkulturelle Philosophie," in Handbuch interkulturelle Germanistik, 182-187.

(10) Vgl. Wierlacher , Handbuch interkulturelle Germanistik, 5.

(11) Vgl. Ingeborg H. Solbrig, "American Slavery in Eighteenth-Century German Literature: the Case of Herder’s ‚Neger-Idyllen." Monatshefte 82 (1990), 38-49; hier 40.

(12) Einen auf die Kulturwissenschaft zugespitzten und am derzeitigen Wissenschaftsbegriff modellierten Großentwurf dieser Art hat Michael Fleischer vorgelegt: Kulturtheorie. Systemtheoretische und evolutionäre Grundlagen (Oberhausen: Athena, 2001). Während in der transkulturell orientierten Forschung das Individuum als Träger seiner eigensten Kultur ins Zentrum rückt, wird dieses explizit aus dem Forschungsprogramm der systemtheoretischen Kulturwissenschaft ausgegrenzt, deren Objekt die Kultur als System bleibt.

(13) Allerdings gilt es hier auch zu bedenken, daß bereits Rousseau in bezug auf vorbürgerliche Staaten (z. B. Korsika und Polen) nichts anderes eingefallen war, als die gemeinsame religiöse Kultur zur Stiftung einer polnischen nationalen Identität einzusetzen .

(14) Vgl. z. B. Donald Cuccioletta, "Multiculturalism or Transculturalism: Towards a Cosmopolitan Citizenship." London Journal of Canadian Studies 17 (2001-02), 1-11. Parallele Überlegungen scheinen sich auch in der von Paul Ricoeur angeregten "Phänomenologischen Hermeneutik" abzuzeichnen.

(15) Vgl. Das Eigene und das Eigentliche, 225.

(16) Eine transkulturelle Hermeneutik müßte dagegen versuchen, die Individualität des einzelnen stärker ins Zentrum zu stellen, indem sie davon ausgeht, daß Individuen für intime Erfahrungen und Adaptionen fremder kultureller Lebensmöglichkeiten prinzipiell offen sind oder doch sein können. Für die pädagogische Arbeit zieht diese Schleifung der theoretischen Festung der Eigenkultur die Anerkennung eines hohen Maß es an Wehrlosigkeit, Verletzbarkeit und Orientierungslosigkeit (bzw. problembehaftete Neuorientierung) und davon ableitbare Krisenphänomene nach sich, die Teil transkultureller Lebensweisen sein können und entsprechend berücksichtigt werden müssen.

(17) Handbuch interkulturelle Germanistik , 441.

(18) G leichsam als wissenschaftliches Pendant zu den Präambeln moderner Konstitutionen, die vom Recht auf individuelle Verfolgung des eigenen Glücks ausgehen .

(19) Wenn ich trotzdem mit dem Gedanken spiele, mich mit den Methoden und Fragestellungen der Glücks- oder Lebensqualitätsforschung auseinanderzusetzen und die Möglichkeit der Kulturwissenschaft als Wissenschaft von Kulturen nicht von vornherein zu verabschieden, so geschieht das aus Eigennutz. Denn wenn es gelingt, der Hermeneutik narrativer Formen, die von Möglichkeiten und Bedingungen des Glücks handeln, einen zentralen Stellenwert zuzuschreiben, könnte sogar meine Disziplin, die Literaturinterpretation, wieder zu ihrem Recht kommen.


1.1. Hermeneutische und nicht-hermeneutische Zugänge zu Kulturen

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For quotation purposes:
Bernd Fischer (Ohio State University): Multi, Inter, Trans: Zur Hermeneutik der Kulturwissenschaft. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/01_1/fischer15.htm

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