Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juni 2004
 

1.2. Signs, Texts, Cultures. Conviviality from a Semiotic Point of View /
Zeichen, Texte, Kulturen. Konvivialität aus semiotischer Perspektive"

HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Jeff Bernard (Wien)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Grundlagen/Fundamentals Teil 1/Part 1:
Theorie/Theory
Moderation / Chair: Jeff Bernard
Teil 2/Part 2:
Sprache(n)/Language(s)
Teil 3/Part 3:
Literatur(en)/Literature(s)
Teil 4/Part 4:
Nonverbale Zeichen/Non-verbal Signs

Kultur des Wohlwollens.
Aspekte modellierender Systeme

Helga Kerschbaum (Wien)
[BIO]

 

Zusammenfassung: Der Fokus des Referats liegt auf der Präsentation einer Kultur des Wohlwollens, welche in der - der Ebene differenzierender Werte übergeordneten - spirituellen Dimension grundgelegt ist. Sie wird als eine positive und zugleich notwendige Alternative für die Gestaltung des individuellen und des gesellschaftlichen Lebens beschrieben. Die Anima Magna Kultur des Wohlwollens weist viele Ähnlichkeiten mit der von Ivan Illich formulierten Konvivialität auf. Sie geht jedoch von einem anderen Ansatz aus - dem holistischen der Spiritualität - und geht in wesentlichen Bereichen über Illichs Thesen hinaus, wie z.B. im Ansatz für eine spirituell verankerte Ethik. Die Kultur des Wohlwollens gehört zu jenen modellierenden Systemen, welche die Strukturen der verschiedenen Gesellschaften aus der Sicht ihrer unterschiedlichen Denksysteme und Weltsicht beleuchten und zugleich das Verbindende der Kulturen formulieren.

 

Einleitung

An den Beginn meines Referats möchte ich ein Bild stellen, das Ihnen sicherlich bekannt und vertraut ist: es ist jenes der funktionierenden Familie, bestehend aus Eltern und Kindern - vielleicht sind auch Großeltern, Onkeln und Tanten, Kusinen und andere Verwandte in die Familie miteinbezogen.

Eine Familie, die sich gut versteht, wird weder das Recht noch die Ethik bemühen müssen, damit es allen Familienmitgliedern gut geht. Die Älteren werden für die Jüngeren sorgen und die Geschwister werden zusammenhalten. Das Band der Familie wird sie auch nach außen einen - trotz aller Verschiedenheit in ihren Interessen, in Alter, Geschlecht und Beruf. In Notsituationen werden sie einander stützen und fördern. Und - sie werden familiäre Feste feiern und sich miteinander wohlfühlen können.

Wenn eine Familie beginnt, diesen Zusammenhalt aus familiärer Liebe zu verlieren, dann werden sich die einzelnen Mitglieder entfremden und auseinanderleben. Das gemeinschaftliche Band wird sich lockern, wenn nicht zerreißen.

Erst dann, wenn der Zusammenhalt, das Bewußtsein der Verbundenheit im familiären Sein geschädigt wurde oder völlig verloren ging, werden in absteigender Linie die Ethik und danach das Recht, die staatliche Macht und letztlich manchmal Gewalt zum Tragen kommen, um jene Fragen zu lösen, die vorher, in einer Atmosphäre des Wohlwollens, nicht einmal zum Thema wurden. Aber gerade in dieser Situation werden die Ethik und das Recht, und letztlich auch die staatliche Zwangsgewalt von großer Bedeutung sein, um die Situation doch noch in irgendeiner Weise befriedigend einzurichten, vor allem um den Schutz der schwächeren Familienmitglieder zu gewährleisten und haßerfüllte oder gewalttätige Aktionen hintanzuhalten.

Interessant ist in diesen Zusammenhang vielleicht auch, daß eine Familie, je weiter sie sich von der familiären Liebe und Verbundenheit entfernt, immer mehr an Unterstützung durch andere Mitglieder der Gesellschaft benötigt, also weniger selbstbestimmt, frei und autonom ist: in der Ethik durch vorformulierte Sollens-Richtlinien und Handlungsanweisungen, danach durch die engeren und pönalisierenden Grenzen des Rechts und durch die Gerichte und letztlich noch einen Apparat zur Durchsetzung der legalen Ansprüche, wie z.B. bei einer amtlichen Kindeswegnahme.

Diese allgemein bekannten Familiensituationen geben bereits eine anschauliche Darstellung der verschiedenen Denksysteme. Ich möchte nun einen Bogen spannen von der Familie und den verschiedenen Denksystemen, in denen sie leben kann, zur Analyse der Denksysteme im allgemeinen, die zugleich auch als gesellschaftliche Entwicklungsstadien, die sich in den verschiedenen Völkern präsentieren, gesehen werden können. Und mich dabei auf Denker verschiedener Kulturkreise berufen, die Ähnliches dachten: z.B. Laotse und besonders Ovid, der von einem Goldenen Zeitalter sprach, in dem es keinen Richter brauchte, weil jeder das Gesetz verinnerlicht hatte, bis hin zu jenem eisernen Zeitalter, in dem die Waffen klirrten, um Probleme zu lösen. Wenn die Begriffe "Zeitalter" und "Denksysteme" gleichgesetzt werden, dann eröffnen sich neue Perspektiven des Verwirklichbaren...

 

Aspekte modellierender (Denk)Systeme

Eine Analyse der gesellschaftlichen Denksysteme ist Bestandteil der Kultur des Wohlwollens. Gängigerweise werden die Denksysteme nach der in ihnen vorherrschenden Struktur einerseits in das hierarchische Denksystem und andererseits in das demokratisch-egalitäre eingeteilt. Weitere Denksysteme bleiben häufig außer Betracht, was häufig zu einer Polarisierung der genannten Systeme führt.

Es gibt aber noch andere Denksysteme: jenes dem hierarchischen Denksystem untergeordnete Denken strukturloser Anarchie, und das dem demokratisch-egalitären übergeordnete, verstärkt von verinnerlichten Werten getragene humanitäre Denksystem. Am weitesten entwickelt ist das Denksystem der Seinsgesellschaft, das sich die Verwirklichung der Lebens- und Segenswerte für alle zum Ziel gesetzt hat. Ein Anspruch, der in etwas anderer Form auch von Ivan Illich erhoben wird.

Als Grundlagen der Denksysteme und der sie bestimmenden Antriebsmomente lassen sich somit vereinfachend generalisierend und in absteigender Form festmachen:

Seinsgesellschaft          Wohlwollen Biophile Entwicklung  Weisheit der Seinskohärenz
Postmoderne Verantwortung          Nachhaltige Entw.                    Persönlichkeitsbildung
demokratisch-egalitär Recht- Pflicht          gerechte Verteilung          unbeschr. Zugang zu Bild.
Hierarchie                      Macht                   stat. Besitzordnung          beschr. Zugang zu Wissen
Anarchie               Gewalt, Haß          Gier              Unwissenheit, Verblendung

Die drei jeweils an der Spitze der Pyramide stehenden Werte Wohlwollen, Biophile Entwicklung und Verbundenheit im Sein sind jene der Anima Magna Kultur des Wohlwollens, die in der Seinsgesellschaft ihre Verwirklichung finden.

Die an der Basis stehenden Gewalt und Haß, Gier und Unwissenheit sind jene Verhaltensweisen, die sowohl nach den Lehren des Christentums als auch jenen des Buddhismus das Glück des Einzelnen ebenso wie jenes der Gesellschaft behindern.

Diese verschiedenen Denkmodelle der Wirklichkeit können sich als Denksysteme in den verschiedenen Kulturen und zu verschiedenen Zeiten manifestieren, oft auch gleichzeitig.

 

Ein Vergleich der Denksysteme

Die obige Darstellung der verschiedenen kulturbestimmten Denk- und Wertesysteme zeigte ein idealtypisches Bild der jeweiligen Struktur. Ob und welchen Einfluß ein bestimmtes Denksystem auf eine Gesellschaft hat, wird wesentlich durch die Vielzahl ihrer Mitglieder bestimmt, die in ihrer Gesamtheit in irgendeiner Weise eine bestimmte "Herrschaftsform" erst ermöglichen und mittragen (müssen).

Aus holistischer Sicht sind die Denksysteme miteinander verwoben. Die Integration der Werte eines Systems in die innere Struktur vieler Einzelner ermöglicht und bewirkt den Wechsel zur nächsten, ein Mehr an Freiheit gewährender Struktur. Ob sich dieser Wechsel vollzieht oder nicht, hängt sicherlich auch von äußeren Umständen ab. Theoretisch ist aus holistischer Sicht ein Übergang von einem hierarchischen System in das der Seinsgesellschaft ebenso möglich wie vom egalitär-demokratischen System.

Eine Bewertung der Denkstrukturen kann nach so vielfältigen und verschiedenen Kriterien erfolgen wie:

nach dem Menschenbild;
der Akzeptanz der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung von Mann und Frau;
dem Maß an persönlicher Freiheit, die es dem Einzelnen gewährt:
der Anzahl und dem Inhalt der Rechte, die es den Einzelnen zubilligt oder der Verantwortung, die der Einzelne bereit ist, zu tragen;
den Aufstiegs- und Entfaltungsmöglichkeiten, die es dem Einzelnen eröffnet;
den Machtverhältnissen und dem Informationsfluß innerhalb der Struktur;
der vorrangigen Maßgeblichkeit der äußeren oder inneren Struktur für den Einzelnen;
der Fähigkeit, gesicherte Rahmenbedingungen für eine oeko-soziale Marktwirtschaft zu gewährleisten, die an Nachhaltigkeit des Wirtschaftens orientiert ist;
ihrem Interesse an einer optimalen Versorgung aller Mitglieder und gerechter Güterverteilung;
dem Bildungssystem und dem Weltbild, das der Denkstruktur zugrunde liegt, der Freiheit in Sicherheit und Ordnung, die ein System bietet und vieles andere mehr.

Obwohl man sagen kann, daß ein "Mehr" in obigen Positionen für ein besseres Leben der Mitglieder dieser Gesellschaft spricht, kann man doch nicht leichtfertig sagen, eine staatliche oder gesellschaftliche Struktur, die dies verwirkliche, sei allein deshalb jedenfalls die bessere. Wahrscheinlich ist sie es, weil sie z.B. die Werte des hierarchischen Denksystems positiv in ein demokratisch-egalitäres oder ein humanitäres Denksystem integrieren konnte. Aber es gibt noch andere, wesentliche Faktoren, die hier mitspielen.

Ein Beispiel: ein aufgeklärter absoluter Herrscher könnte beispielsweise sehr gütig sein und "alles für sein Volk" tun, dem es auf diese Weise besser ginge als in einem suboptimal demokratisch-egalitär organisierten Staat. Ein anderes Beispiel: ein hierarchisches System verleitet zweifellos eher zu Machtmißbrauch und zu Geringschätzung der Würde des Menschen (da es nicht vom Gedanken der Gleichheit aller ausgeht), als dies ein egalitär-demokratisches tut - das selbst wieder durch seine größere Neigung zu Populismus gefährdet ist - und damit auf eine andere Weise die Würde des Menschen manchmal ebenso wenig respektiert. Es wird daher noch anderer modellierender Systeme bedürfen, um die Gesellschaft so zu gestalten, wie es dem Anliegen vieler wohlwollender Menschen entspricht.

 

Illichs Conviviality und die Kultur des Wohlwollens als modellierende Systeme

Illich hat im Jahre 1973 sein Werk Tools for Conviviality veröffentlicht. Mit diesem Begriff der "conviviality" bezeichnete er ein modellierendes System, das die Gesellschaft in neuer Form aufbauen sollte: "to reconstruct society".

Immer wieder gibt es Bestrebungen, die durch modellierende Systeme dazu beitragen möchten, die Welt zu einer besseren zu gestalten. Wahrscheinlich ist jede dieser der Bestrebungen insoferne zeitgebunden, als sie genau das betont, was zur Zeit ihrer Entstehung in der Gesellschaft besonders fehlte, was ihr im Lauf der Entwicklung abhanden gekommen war, oder das, was bisher unbeachtet geblieben war. Auch die von Ivan Illich publizierte Theorie "Conviviality" kann unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden: woran es denn der Welt besonders ermangle, um so zu sein, wie es die Vielen sich - oft unausgesprochen und nicht artikuliert - wünschen. Daher sind Freiheit und Wirtschaft die wesentlichen Bereiche, um die sein Denken kreist:

Illich hat unter dem Begriff conviviality "individuelle Freiheit, die sich in persönlicher Interdependenz realisiert und als solche einen intrinsischen ethischen Wert besitzt", verstanden. Der autonome und kreative Verkehr zwischen den Personen, und der Umgang der Personen mit der Umwelt stand für ihn im Kontrast zu der konditionierten Antwort, die Personen auf die an sie von anderen herangetragenen Forderungen gaben.

Unter "konvivialen Werzeugen" verstand er jene, die jedem Menschen die größte Möglichkeit zur Bereicherung der Umwelt mit den Früchten ihrer Vision gaben - also Freiheit und Selbstbestimmung - im Unterschied zu industriellen Werkzeugen, die ihren Benützern dies nicht ermöglichen, ihren Designern aber gestatten, die Bedeutung und Erwartungen anderer zu bestimmen. Daraus folgerte er, daß Politik sich künftig mehr um die Entwicklung der Design-Kriterien für Werkzeuge zu kümmern hätte und weniger mit der Auswahl von Produktionszielen.

Eines der wichtigsten Anliegen Illichs war, den Menschen wieder zu einem autonomen Wesen werden zu lassen. Mit seinem Buch Selbstbegrenzung / Tools for Conviviality legte er einen Grundstein zu einer allgemeinen Theorie der Industrialisierung und stellte zugleich eine radikale Kritik der Institutionen und Expertenzünfte vor.

Seither sind 30 Jahre vergangen, die Probleme der "Expertenzünfte" und die Beschränkung von Wissen und Information, das nur für Insider von Institutionen zugänglich ist, bestehen nach wie vor. Diese Informationsabhängigkeit schafft - trotz Internet und Medien - einen Informationsvorsprung im Denken und dem daraus folgenden Handeln. So geschieht nach wie vor eine "Entmachtung der Bürger", die mit zunehmend weniger an relevanter Information und zunehmend mehr "Infotainment" abgespeist werden - und sich leider damit begnügen. Damit Hand in Hand geht eine bedauerliche Entwicklung in einigen einflußreichen Medien in Form einer negativen Emotionalisierung und Abwertung nicht genehmer Positionen und deren Vertreter. Die leichte Manipulierbarkeit der Bürger ist den offen und im Geheimen Mächtigen offenbar erwünscht. Erleichtert sie doch die ungestörtere Verfolgung der Interessen jener, welche die "Wissensmacht" besitzen.

Wie wichtig diese Freiheit der Information ist, geht auch aus der Deklaration des Europarates "On Cultural Diversity" - Über kulturelle Vielfalt - vom 7. Dezember 2000 hervor:

Cultural diversity cannot be expressed without the conditions for free creative expression and freedom of information existing in all forms of cultural exchange, notably with respect to audiovisual services (Kulturelle Vielfalt kann nicht ausgedrückt werden ohne das Vorhandensein der Rahmenbedingungen für freien kreativen Ausdruck und Freiheit der Information, die in allen Formen kulturellen Austausches besteht, besonders im Hinblick auf audiovisuelle Dienste).

Illichs Vision beschäftigt sich daher auch besonders damit, was die politische Macht zu leisten habe, um die Situation in der Welt zu verbessern.

Die Kultur des Wohlwollens ist die Vision, die hier vorgestellt werden soll, und sie weist viel Gemeinsamkeit mit diesem Bestreben von Illich in der Suche nach Möglichkeiten zu einem besseren Leben für alle auf. Sie wählt jedoch einen anderen Ausgangspunkt als Illich und geht auch über seine Sicht hinaus.

 

Die Anima Magna Kultur des Wohlwollens

Ihre europäischen Wurzeln liegen im Christentum, in der Französischen Revolution wurden sie neu formuliert und ihr Siegeszug ging von da aus in die Welt: die Werte der Freiheit, Gleichheit, und Brüderlichkeit.

Doch in letzter Zeit verloren die wunderbaren Werte der Freiheit und Gleichheit ein wenig von ihrem Glanz. Hat man doch besonders in jenen Systemen, die einen dieser Werte verabsolutieren wollten, zur Kenntnis nehmen müssen, daß dies nicht immer die erhoffte bessere Zukunft, wohl aber viel Leiden oder Ungleichgewichte gebracht hat. Und der Idee der Brüderlichkeit war bisher nur ein Dasein im Schatten der beiden anderen gegönnt.

Die Anima Magna Kultur wird von den Werten Freiheit und Gleichheit getragen, soweit sie mit jenem der Brüderlichkeit "verschränkt" sind. Bestimmend sind für sie die Werte Wohlwollen, die in der Biophilen Entwicklung zum Ausdruck kommende Liebe zum Leben (Biophilie) und die Verbundenheit im Sein (Seinskohärenz).

Linie:

Das Anima Magna Prinzip ist
das Leitbild der Kultur des Wohlwollens,
der kommenden Seins-Gesellschaft

Grundlage:

Das Bewußtsein der Verbundenheit im Sein
von allen mit allem
und jedem mit jedem.

Richtschnur:

Alle sollen wohl bestehen können.
Integration all jener Interessen,
die auf Wohlwollen, Seinskohärenz und Biophiler Entwicklung basieren.

Methode und Handlungsweise:

Weil "Du" da bist,
wollen wir wohlwollend
- Anima Magna -
miteinander umgehen.

Ziele:

Es gilt eine Lösung zu suchen, die für alle gut ist.
Eine Lösung, die nicht für alle gut ist,
ist revisionsbedürftig.

Das Anima Magna Prinzip erbringt somit eine individuelle und gesellschaftliche Orientierung aus einer "wohltemperierten" religionsungebundenen Spiritualität,

die allen Menschen zugänglich ist,
die in allen Kulturen und religiösen Traditionen wesensgleich ist,
die das Besondere einschließt und zugleich übersteigt,
die somit transnational, transkontinental, transkulturell und transkonfessionell ist.

Es ist dies eine natürliche, ja selbstverständliche Spiritualität,

die verstanden wird als Dimension des Menschen, ihm wesenseigen und ursprünglich zugehörig,
Wurzel seines Seins,
Verbindung und zugleich Verbundenheit mit allem Sein.

Genau darin ist ein entscheidender Unterschied zum Humanismus zu sehen, der in gewisser Weise ebenfalls als wohlwollend, biophil und transkonfessionell bezeichnet werden kann, der aber den Menschen in den Mittelpunkt rückt - und seine unbedingte Bezogenheit, Einordnung, Verankerung und Geborgenheit in der Transzendenz vernachlässigt.

Das Anima Magna Prinzip bietet eine spirituell verankerte Richtlinie,

die den stets notwendigen Interessensausgleich zwischen den einzelnen Personen,
zwischen Einzelnem und Gruppe,
zwischen verschiedenen Gruppen untereinander und letztlich zwischen Gruppen und Gesellschaft, sowie
zwischen Einzelnen und Gesellschaft
im "Geist des Wohlwollens" (spirit of benevolence) gewährleisten kann.

Es bietet damit einen neuen Werterahmen,

eine Grundlage für die in jedem Fall notwendige Neuorientierung
wirtschaftlichen, gesamtgesellschaftlichen und globalen Handelns.
Eine "spirituell geankerte Handlungsmaxime" für alle Maßnahmen,
bis zur höchsten Ebene von Entscheidungsträgern und Gesetzgebern, und somit
die Grundlage für langfristig effizientes gesellschaftliches und individuelles Verhalten.

Das Anima Magna Prinzip ist Grundlage einer Kommunikation,

die im Geist des Wohlwollens geführt wird, der sich auch im wohlwollenden Dissens zeigt,
deren Ziel ist, daß alle wohl bestehen können, und
deren Ergebnis die Besserstellung aller bewirkt.

Das Anima Magna Prinzip dient als Plattform für das Verbindende der Kulturen, um die verschiedenen Interessen in Einklang zu bringen:

jene der Völker, der Gesellschaft, der Verbände und der Individuen.

Es wird so zum verläßlichen und unabdingbaren Standard gesellschaftlichen Handelns, das sozial und ökologisch, ökonomisch und spirituell dimensioniert ist.

Das Anima Magna Prinzip ist vielfach wirksam

und daher geeignet, die Regelung gesellschaftlicher Belange neu zu inspirieren.

Will es doch die bisher vor allem auf das Individuum fokussierte spirituelle Entfaltung des Menschen auch in der ganzen Gesellschaft reflektiert sehen.

Seine Wirksamkeit nach innen zeigt sich durch:

Bereicherung der Lebensqualität für das Individuum,
Pflege der inneren Achtsamkeit des Einzelnen,
bewußtes Streben zur Verwirklichung der biophilen Nachhaltigkeit und des Wohlwollens,
Bewußtmachung der allgegenwärtigen Verbundenheit im Sein.

Die Wirksamkeit nach außen manifestiert sich als:

grundlegende wohlwollende Haltung in der Gesellschaft, die friedensstiftend ist,
allgemeines Bewußtsein im gesellschaftlichen Handeln, das zu neuen, ja optimalen Lösungen führt,
Verhalten aus dem Geist des Wohlwollens, das mehr Lebensqualität in allen Bereichen und Regionen bringt.

Nach innen und außen führt es dadurch insgesamt zu einem Paradigmenwechsel,

in den angestrebten Zielen und
in den angewandten Methoden,
die beide in der Spiritualität verankert sind.

Wenn sich die verschiedenen Kulturen auf das ihnen allen Gemeinsame besinnen - und z.B. auch die Friedensbewegungen in ihr Bemühen, die gemeinsame Wurzel aller Menschen, etwa in Form der Prinzipien der Anima Magna Kultur des Wohlwollens miteinbeziehen, dann bestehen gute Chancen, tiefgreifenden Frieden zu schließen und auf längere Dauer sichern zu können. Vielleicht gelingt so auch der Zusammenschluß zu einer u.a. auf diesen Gedanken basierenden Seinsgesellschaft.

 

Anima Magna ist Grundlage der Seinsgesellschaft

Die "Seinsgesellschaft" verdankt ihren Namen einerseits einem Begriff aus der Spiritualität: "Être plus", ein größeres, ein Mehr an Sein. Andererseits auch der Tatsache, daß sie sich den Werten des Seins verpflichtet fühlt. Sie ist eine kommende Gesellschaftsform. Hoffentlich.

Derzeit leben Europäer und Amerikaner in einer Leistungsgesellschaft, die eng mit "avoir plus", den Werten des Habens verbunden ist. In der Leistungsgesellschaft sind (salopp in modernem Englisch gesagt) "achievers" gefragt: der Tüchtige, der Effiziente, der Schnelle und Effektive. Sie sind die Vorbilder der Gesellschaft. Ihre Leistungen werden hoch honoriert, ihre Namen zum Inbegriff maximalen Erfolgs - wenn auch schon viele im Nachsatz ihr Unbehagen daran ausdrücken wollen.

Denn um welchen Erfolg handelt es sich? Woran wird er gemessen? Ist es ein persönlicher Erfolg, der vor allem dem Erfolgreichen selbst Vorteile bringt - oder ist es ein Erfolg für die Gesamtheit? Ist es ein vorübergehender, welcher der jetzt lebenden Gesellschaft zum Vorteil gereicht oder auch der künftigen? Gipfelt er in einem Quantitativum, in einem bloßen "Mehr" von etwas, oder bewirkt er auch qualitative Verbesserung - nicht nur des Produktmaterials, sondern auch des Etre, des Seins, der Lebensmöglichkeit für alle?

Zur Zeit ist sie eine Noch-Vision, die aber bereits von vielen Menschen geteilt und auch bereits gelebt wird: die Seinsgesellschaft. Das Besondere an ihr ist, daß sie in der Spiritualität verankert ist. Sie gewährt allen ein Mehr an Qualität des Seins, an Leben und Lebendigkeit. Und das war auch eines der Ziele Ivan Illichs, wenn auch vor allem auf materieller Ebene - wie sein Beispiel Telefon-Kommunikation zeigt.

Die Seinsgesellschaft sucht nach Lösungen, die Erfolge ebenso für den Einzelnen wie auch für die Gesamtheit darstellen. Gesamtheit gesehen als Kosmos, einschließend, ordnend, selbst-organisierend, ganzheitlich. Erfolg verstanden vor allem als Optimierung der Qualität des Lebens, und dies sowohl in der Gegenwart als auch auf Dauer gesehen. Nicht nur für Einzelne, sondern auch für alle anderen. Die Seinsgesellschaft verwirklicht damit das "Sowohl - als auch" des integralen Denkens.

Grundeinstellung der Seinsgesellschaft ist das Wohlwollen, benevolence, gegenüber allem Sein. Ganz allgemein steht dieses "Anima Magna Prinzips des Wohlwollens" in Übereinstimmung mit den Grundsätzen des Lebens. Die Seinsgesellschaft setzt sich dessen immer deutlichere Verwirklichung als Grundlage allen gesellschaftlichen Handelns zum Ziel.

Die Seinsgesellschaft ist eine synergetische - denn ihre Energien, ihre Impulse werden nicht nur von oben vorgegeben, sondern gehen auch "vom Volk aus", von der Gesamtheit der Bürger und von jedem einzelnen Menschen. Gleichzeitig ist sie eine vernetzte Gesellschaft, welche die Wichtigkeit jedes Einzelnen und eine Gleichwertigkeit von groß und klein kennt.

Wenn Martin Buber von "gemeinschaftlicher Gemeinschaft" spricht, so impliziert dieser Begriff die Referenz zu jenem Ganzen und Gemeinsamen, das der Gemeinschaft zugrunde liegt. Besinnung auf dieses Gemeinsame und Rückbindung an den Urgrund sind der Seinsgesellschaft wesensgemäß.

 

Entwurf einer Seinsgesellschaft: "Être plus"

Und dieses "plus" bedeutet: Es geht um mehr, um ein Mehr an Sein.

Es geht um die Integration der bisher tragenden Werte in jene des neuen Paradigmas:

Es geht um Fairness, aber mehr als das:

- es geht um Wohlwollen (Herzgeist-Prinzip).

Es geht um Rechtstaatlichkeit, um Sicherheit und Ordnung, aber mehr als das: - es geht um Orientierung von Gesetzgebung und Rechtsprechung am "Aufblühen aller" (Floreat-Prinzip).

Es geht um wirtschaftlichen Erfolg, aber mehr als das:

- es geht um das Wohlbestehen aller (Anima Magna Prinzip).

Es geht um Demokratie, aber mehr als das:

- es geht um Integration der Interessen aller (nicht nur der Mehrheit).

Es geht um nachhaltige (dauerlebensfähige) Entwicklung, aber mehr als das:

- es geht um Lebensqualität in allen Lebensbereichen und Regionen,

Es geht um Biophile Nachhaltigkeit, getragen von der Liebe zum Leben in seiner Gesamtheit.

Es geht um Ethik, aber mehr als das:

- es geht um spirituell grundgelegte Ethik.

Es geht um rechtliche Freiheit, aber mehr als das:

- es geht um äußere und innere Freiheit.

Es geht um Gleichheit vor dem Gesetz, aber mehr als das:

- es geht um Entfaltung von Vielfalt in der Einheit.

Es geht um Gerechtigkeit, aber mehr als das:

- es geht um Wohlwollen aus dem Bewußtsein der Verbundenheit im Sein.

Es geht um soziales Denken, um Solidarität, aber mehr als das:

- es geht um das geschwisterliche Miteinander und Füreinander.

Es geht um "Coinonia", Gemeinschaft in Geschwisterlichkeit.

Es geht um Political Correctness, aber mehr als das:

- es geht um wohlwollenden Dissens.

Es geht um Toleranz und Frieden, aber mehr als das:

- es geht um Wohlwollen für- und miteinander, Anima Magna.

 

Die Grundzüge der Anima Magna Kultur des Wohlwollens

Sie läßt sich in drei Schlagworten zusammenfassen:

Wohlwollen

Biophile Nachhaltigkeit

Verbundenheit im Sein - Seinskohärenz

1.        

Die Anima Magna Kultur basiert auf dem Grundsatz des Wohlwollens - und hier liegen viele Gemeinsamkeiten mit Illichs conviviality vor.

Illich hatte wohl jene Atmosphäre der Freude vor Augen, wie sie beim gemeinsamen Feiern von Festen entsteht, als er den Begriff "Conviviality" für seine Arbeit wählte. Darin liegt auch der ursprüngliche Wortsinn. Und in der Tat, beim Feiern, Singen und Tanzen kommen sich die Menschen näher und man genießt gemeinsam die angenehmen Seiten des Lebens. In solchen Situationen entsteht oft ganz automatisch eine Atmosphäre des allgemeinen Wohlwollens.

Beim gemeinsamen Tanzen und Singen ebenso wie beim gemeinsamen Gebet verliert sich die Grenze zwischen fremd und vertraut und Menschen gelangen dahin, wo sie alle Brüder und Schwestern sind, wo Coinonia - Geschwisterlichkeit - herrscht.

Wohlwollen im Sinn der Anima Magna Kultur ist ebenfalls von dieser existenziellen Freude am Sein gefärbt. Es geht aber um noch mehr, um mehr Tiefe und damit um mehr Beständigkeit dieses Zustandes:

In der Anima Magna Kultur wird Wohlwollen als "kleine Schwester der großen Liebe" verstanden, als eine emotionale und voluntative Qualität. Eine kleine Schwester, die natürlich zu dieser großen Liebe heranreifen kann.

Das Wohlwollen soll immer intensiver werden und immer aufnahmebereiter - bis der Fokus zuletzt so weit gestellt ist, daß er alle und alles in Liebe mit einschließt: alle sollen wohl bestehen können. So lautet ihr wichtiger Grundsatz, der im "Anima Magna Prinzip" festgehalten. ist. Wie der Regenbogen alle Farben einschließt, so will auch die Anima Magna Kultur alle Menschen mit einschließen - und mehr.

Aber es geht auch darum, daß das bereits vorhandene Wohlwollen der Menschen und ihre lebensfreundliche Liebe füreinander und für die Mitwelt immer mehr sichtbar wird, z.B. auch in wissenschaftlichen Abhandlungen und wirtschaftlichen Berichten. Wohlwollen zur allgemeinen Basis im menschlichen Zusammenleben zu machen, erkennbar im sprachlichen Ausdruck, sichtbar in der Zielsetzung und in der Verwirklichung.

2.

Der nächste wichtige Grundsatz ist lebensfreundliche, biophile Nachhaltigkeit. Der aus dem Griechischen kommende Begriff "-philie" drückt es aus: auch hier geht es um Liebe, diesmal in Form der Lebensfreundlichkeit.

Nach der bereits zitierten Deklaration des Europarates bedeutet nachhaltige Entwicklung: im Zusammenhang mit Vielfalt der Kulturen

sustainable development as defined in relation to cultural diversity assumes that technological and other developments which occur to meet the needs of the present, will not compromise the ability of future generations to meet their needs with respect to production, provision and exchange of culturally diverse services, products and practices.

Ein lebensfreundliches Verständnis für die Erde und die Menschen und die Tiere und die Pflanzen und die Biosphäre und die Rohstoffe, die Schönheit der Berge und Täler, der Kunst und Musik - ein Verständnis, das all diese wohlwollend einschließt und an ihrem Bestand interessiert ist und unterstützend dazu beiträgt.

Im Tutzinger Manifest aus April 2001 wurde die Gleichberechtigung von Kultur, Ökologie, Ökonomie und Nachhaltigkeit formuliert.

Ähnlich der Ansatz der biophilen Entwicklung der Anima Magna Kultur, welche die Welt nicht vorrangig von der Wirtschaft aus betrachtet, sondern eine holistische Sichtweise pflegt - was eher im Gegensatz zu Illich steht, der vor allem von der Produktionsgesellschaft seiner Zeit ausging.

Menschen ist die Freiheit zugewonnen, das Leben auf der Erde mit zu gestalten. Sie tun dies zwar schon seit Jahrtausenden, aber nicht in dieser Bewußtheit. Die Erde ist den Menschen in vielen Bereichen bereits "untertan" - und gerade deshalb tragen alle, jeder und jede Einzelne, Mitverantwortung für ihr Wohlbestehen, für ihre biophile nachhaltige Entwicklung. Damit das Wohlbestehen künftiger Generation ebenso gesichert ist wie der Bestand dieses wunderbaren lebendigen und vitalen Systems des blauen Planeten in seiner Gesamtheit. Ähnlich im Ansatz ist das "Prinzip Verantwortung" von Jonas, der aber über bloße Nachhaltigkeit nicht hinauszugehen scheint.

Auch wenn unter dem Begriff der Nachhaltigkeit zunehmend nicht mehr bloß die wirtschaftliche, sondern auch zeitliche, räumliche, ja auch qualitative Nachhaltigkeit verstanden wird, fehlt doch Wichtiges. Kalinowski verbindet daher Nachhaltigkeit mit Generationen-Gerechtigkeit, wobei er erstere eher statisch sieht, letztere eher auf Fortschritt im Sinne der Verbesserung der Optionen nachrückender Generationen ausgerichtet.

Der Kultur des Wohlwollens geht es auch hier um mehr. Um eine neue Qualität im menschlichen Leben, um einen Paradigmenwechsel im Denken und Handeln. Biophile Entwicklung übersteigt nachhaltiges Wirtschaften und Nachhaltigkeit um jenes, was so zutiefst menschlich ist, und was noch viel zu selten im Alltag sichtbar wird: lebensfreundliche Liebe. Lebensfreundliche, biophile Entwicklung und eine spirituell verankerte Ethik gehören zusammen.

3.

Die Verankerung der Anima Magna Kultur in der Spiritualität bewirkt einen neuen Denkansatz, einen von oben nach unten, sozusagen. Dieses neue Denken drückt sich in einer spirituell grundgelegten Ethik aus, in einer, die aus dem Bewußtsein der Verbundenheit im Sein und in Verwirklichung des Floreat- Prinzips, ein gutes Leben für alle Menschen verwirklicht sehen will: "Durch Dein, mein und unser Handeln soll die Welt erblühen!"

Aristoteles formulierte jene Einstellungen, von denen er glaubte, daß sie ein gutes Leben für alle ermöglichten und er zählte dazu in erster Linie Freundschaft und Liebe.

Bei einer Konferenz in Barcelona im Jahr 2003 wurde von Frauen verschiedener Kulturen ein gemeinsamer Ansatz für Ethik gesucht und im Vergleich mit einem Haushalt als einer kleinen und funktionierenden Zelle - die Keimzelle menschlichen Zusammenlebens gefunden. Obwohl dieser ethische Ansatz dem Gedanken der Kultur des Wohlwollens doch sehr nahe kommt, gibt es wesentliche Unterschiede.

Anima Magna ist weit umfassender, wenn sie die Erde als gemeinsamen und unteilbaren Erbhof sieht - als ein organisches, lebendiges System, in dem eben alle Mitglieder zum Bestehen, zur Erhaltung und Förderung dieses Erbhof-Systems beitragen, daran teilhaben können und müssen - weil sie aufeinander angewiesen sind. Wir leben nicht nur in einer Vielzahl von Haushalten, auch nicht nur in einem "globalen Dorf", sondern in einem (!) Erbhof eben - der von Generation zu Generation weitergegeben wird und alle wohl bestehen lassen soll. Denn wir können nicht mehr dem Slogan des 19. Jhdts. "Go west, young man" folgen, wir können nicht mehr umziehen - zumindest nicht auf der Erde - so eng sind die Vernetzungen aller Art.

Anima Magna ist ein allgemeines systemisches Entwicklungs- und Förderungs-Denken. Im Vordergrund steht daher nicht mehr die Frage, wie sehr wir gerade noch die Natur ausbeuten können, damit die jetzige und künftige Generationen überleben können. Anima Magna bezieht in ihre Überlegungen die Frage mit ein, wie wir die Erhaltung des Systems im Sinne eines Wohlbestehens aller gleichzeitig schützen und fördern können und gibt im "wohl bestehen" dem Raum, was über die nackte Existenzsicherung hinausgeht - wie eben die Verwirklichung von Schönheit (im klassischen Sinn), Wohlwollen und Liebe im Leben.

4.

Der folgende Grundsatz ist jener der Verbundenheit im Sein.

Er drückt die Verankerung der Anima Magna Kultur in der Spiritualität aus, die nach dem üblichen Verständnis Privatangelegenheit ist - weil sie den einzelnen Menschen im Innersten berührt, die aber wegen ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen zugleich eine solche der Allgemeinheit sein muß.

Auch dieser Grundsatz hat Vorläufer in der Geschichte. Am bekanntesten ist wohl die Aussage des "Alle sind Brüder". Fraternite, jene Forderung, welche die Französische Revolution gemeinsam mit Freiheit und Gleichheit auf ihr Banner geschrieben hatte. Dieser Grundsatz der Fraternite wurde von den geistigen Vätern der Französischen Revolution in weiser Voraussicht mit den anderen beiden Forderungen nach Gleichheit und Freiheit verschränkt. Offenbar erkannten sie in jener dramatischen Zeit des Aufbruchs, daß es ohne Brüderlichkeit auf lange Sicht weder Freiheit noch Gleichheit geben werde.

Der Begriff "Brüderlichkeit" birgt in sich ebenfalls den Gedanken der Liebe und entspricht damit in religionsungebundener Form dem christlichen Gebot "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst" oder kommt ihm zumindest ganz nahe. Sich auf die Notwendigkeit dieser Qualität der Coinonia, Geschwisterlichkeit, zu besinnen, sie bewußt zu machen und bewußt aus ihr leben zu wollen, gehört zum Anspruch der Kultur des Wohlwollens.

5.

Damit sind wir beim nächsten wichtigen Punkt: Anima Magna ist eine Kultur des Wollens, des Wohl-Wollens, des bewußten Gestalten-Wollens.

Gesellschaftliche Veränderungen werden seit Jahrhunderten beobachtet. Viele von ihnen wurden durch Gewaltakte hervorgerufen oder waren in ihrer Umsetzung von Gewalt begleitet. Diese Einstellung, Veränderung vor allem durch Gewalt herbeiführen zu können, war so tief verwurzelt, daß Ivan Illich zumindest noch sprachlich auf eine "revolution in awareness" hoffte, eine Revolution in Bewußtheit, welche die Gesellschaft zum Besseren gestalten sollte.

Erst in letzter Zeit werden auch "shifts in consciousness", Bewußtseinswandel registriert, die ohne Ausübung von Gewalt erfolgen.

Die Kultur des Wohlwollens ist ein solcher gewaltfreier Bewußtseinswandel, und sie will ihn bewußt initiieren und fördern. Er soll freiwillig, ohne Anordnung einer Obrigkeit und ohne einen wie immer gearteten Zwang erfolgen. Er soll sich aus dem freien Willen der Individuen entfalten, aus der Erkenntnis, daß es gut für sie selbst und für alle Beteiligten ist.

 

Anima Magna und demystifizierende, laizistische Spiritualität

Religionen hatten schon seit Jahrtausenden eine solche innere Wandlung und Läuterung gepredigt, die allerdings bisher noch von zu wenigen Menschen umgesetzt worden war. Um einen Bewußtseinswandel auf breiter Basis zu bewirken, wollte Ivan Illich diesen aus der engen Verbindung mit Religion lösen. Er trat daher für eine demystifizierende und aufklärerische Konvivialität ein.

Die Kultur des Wohlwollens sucht einen Paradigmenwechsel im Bewußtsein, der zu einem guten Leben für alle beitragen kann. Da die Kultur des Wohlwollens in der Transzendenz wurzelt, in ihr grundgelegt und verankert ist, kann sie von Menschen, die einer Religion angehören, gelebt werden. Ebenso von Menschen, die Religionen ablehnen, da sie auf einer religionsungebundenen Spiritualität beruht. Im Unterschied zu Religionen verkündet sie keine theologischen Lehren, sondern baut vielmehr auf dem allen Religionen Gemeinsamen und dem Verbindenden der Kulturen auf. Daher sind ihr Gläubige und nichtgläubige Menschen der verschiedenen Religionen ebenso willkommen wie Atheisten, welche die hier dargelegten Grundideen dieser Kultur mittragen wollen. Denn eigentlich trifft die Kultur des Wohlwollens diese Unterscheidung ebenso wenig wie jene in Zugehörige und Fremde. Bezieht sie doch die Position: Alle sind Geschwister.

Es geht hier somit um mehr als Demystifizierung oder Aufklärung. Es geht um das Bewußtsein, daß Spiritualität zum Menschsein gehört, und sich ebenso entfalten und ebenso reifen darf und soll wie Intellekt oder Emotion.

Eine Verbesserung der Situation durch eine Veränderung der "Innenverhältnisse" zu erreichen war bisher vor allem ein Anliegen der Religionen. Sie lehrten die Menschen seit Jahrtausenden, wie durch Improvement, Verbesserung jedes Einzelnen ein gutes Zusammenleben aller möglich wird. Ihre Lehren sind in weiten Bereichen auch heute noch von großer Aktualität. Wenn sie dennoch nicht freudig genug aufgegriffen werden, so mag eine der Ursachen sein, daß diese Lehren der Religionen über Persönlichkeitsarbeit häufig im Kontext mit Glaubenslehren stehen und daher einer postmodernen aufgeklärten Gesellschaft zu wenig attraktiv erscheinen.

Wo aber Methoden die von den Religionen entwickelt wurden, aus dem Glaubenszusammenhang gelöst und in den "profanen" Lebenszusammenhang gestellt wurden, wie das z.B. mit Meditation der Fall war, dann besteht ein großes Interesse daran und ihre positive und bereichernde Wirksamkeit kann wissenschaftlich überprüft - und im Falle der Meditation auch bestätigt werden.

Die Kultur des Wohlwollens hat eine religionsungebundene Spiritualität als Fundament, eine, die Religiösen und Nichtreligiösen gemeinsam ist.

Bewußte Entfaltung von Spiritualität ist eine ganz persönliche und daher freiwillige Angelegenheit. Eine Bewegung, die auf ihr beruht, muß es daher ebenfalls sein. Eine Kultur entspricht dem am besten. Anima Magna ist eine Kultur, ein freiwilliger Zusammenschluß von Interessierten, ab wann und für solange sie wollen.

 

Anima Magna - eine Kultur

Ivan Illich sprach noch von einer demystifizierenden und aufklärerischen Revolution der Bewußtheit, von "revolution in awareness" - so neu, so umstürzlerisch wirkten seine Gedanken vor drei Jahrzehnten, in denen sich gerade auf diesem Gebiet Vieles verändert hat.

Anima Magna kann daher bereits von "Kultur" sprechen, die vornehmlich eine Frage der bewußten Kultivierung ist und die den Geschichte gewordenen Bestrebungen nach Revolution und Evolution folgen kann. Ein Bewußtsein für eine allen Menschen gemeinsame Kultur - wie dies Anima Magna ist - kann zu den wirksamsten Friedensgarantien gehören.

Auch für die Unesco ist Kultur ein Schlüsselelement für Frieden - wie in den Bemerkungen zum INST-Projekt zu lesen steht. Kultur wird von der Unesco daher auch als zentraler Faktor in Demokratisierungsprozessen angesehen, und zugleich als ein Faktor der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung. Menschenrechte, Kreativität Solidarität und Entwicklung sind in diesem Zusammenhang Schlüsselwörter.

 

Paradigmenwechsel zur Kultur des Wohlwollens:

Schutz der Existentiellen Rechte und Prinzip des größten gemeinsamen Nenners

War vor einem Jahrhundert die Freiheit des Menschen vor der Übermacht des Nationalstaates von überragender Bedeutung, so scheint es heute die Sicherung des materiellen Lebens und Überlebens der Menschen durch gesundes Wasser, unverschmutzte Luft und Böden und nährende Lebensmittel zu sein. Daher ist neben der Garantie der Menschenrechte auch eine rechtliche Absicherung für den Weiterbestand der Existenzmöglichkeiten der Menschen zu gewähren. Sie soll durch Festschreiben "existentieller Rechte", in den Nationalen Verfassungen ebenso wie in den Internationalen Übereinkünften erfolgen. Es ist dies eine Forderung, die sich in ähnlicher Weise auch in Kalinowskis "Krisenliste" findet, die als Verbindung von Nachhaltigkeit mit Generationengerechtigkeit - und der biophilen Entwicklung in der Anima Magna Kultur gesehen werden kann.

Ebenso wichtig werden eine Ethik und eine Perspektive im Denken sein, eine, die nicht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner sucht, wie dies heute bei internationalen und nationalen Entscheidungen so häufig der Fall ist. Sollen alle wohl bestehen können - und dies sollte Anliegen jeder ernstzunehmenden Politik sein - muß es ganz bewußt um ein Ringen um den größten gemeinsamen Nenner gehen. Alles andere schafft auf längere Sicht Frustration und ist eine Verschwendung einer der wertvollsten Ressourcen, die wir Menschen haben: menschliche Kreativität.

 

Praktische Ethik der Anima Magna Kultur

Aus den drei Grundprinzipien der Anima Magna Kultur

Wohlwollen - Biophile Nachhaltigkeit - Verbundenheit im Sein

müssen sich Konsequenzen für das tägliche Handeln ableiten lassen, sonst bleibt sie graue Theorie ohne Auswirkungen auf den Alltag. Diese Konsequenzen sind weder in Form von Geboten noch Verboten gefaßt, denn Anima Magna ist eine "Kultur des Wohlwollens", zu der jeder eingeladen, aber niemand verpflichtet werden soll. Da es sich um eine Kultur des Wollens, des Wohlwollens handelt, sind ihre Richtlinien als Intentionen formuliert.

Sie können auch Aufschluß geben, ob im persönlichen Leben, im Denken und Handeln, der Anima Magna Geist verwirklicht wird:

Floreat-Prinzip (Biophile Nachhaltigkeit)

Durch Dein, mein, unser Handeln
soll die Welt erblühen!

Herzgeist-Prinzip (Wohlwollen)

Weil Du da bist
wollen wir gut miteinander umgehen!

Anima Magna Prinzip (Verbundenheit im Sein)

Alle sollen wohl bestehen können!
Anima Magna als Lebenskultur

Konrad Paul Liessmann spricht von einer Weltkultur, die heute noch in sich geschlossen ist und kaum Alternativen zu jener bestimmenden Kultur der Ersten Welt zuläßt. Um eine Vielfalt der Kulturen (diversity of cultures) zu erhalten, sei der Forderung Illichs Nachdruck zu verleihen, wenn er nach Gegenmaßnahmen zur progressiven Materialisation von Werten aufruft.

Die Kultur des Wohlwollens stützt sich auf das Verbindende der Kulturen, das in der Spiritualität gefunden werden kann. Es ist daher ein fundamentales Anliegen der Seinsgesellschaft, das Alltagsleben zu spiritualisieren und Spiritualiät zu materialisieren. Und damit Seinskohärenz auf Erden zu verwirklichen - zum Wohle aller.

© Helga Kerschbaum (Wien)


ANMERKUNGEN

Zur Zeit sind zwei Projekte in Vorbereitung:

- die Anima Magna Initiative, eine Plattform für jene, welche die drei Grundwerte der Kultur des Wohlwollens bejahen und gestaltend für sie eintreten wollen: Wohlwollen, biophile Nachhaltigkeit und Verbundenheit im Sein;

-  das Anima Magna Projekt für Kinder und Jugendliche, um auch ihnen diese Gedanken nahezubringen und zu vermitteln.

In meinem Buch Die Kultur des Wohlwollens, das im April 2004 im Via Nova Verlag erschienen ist, werden die hier angesprochenen Themenkreise ausführlicher behandelt.


Grundlagen/Fundamentals Teil 1/Part 1:
Theorie/Theory
Moderation / Chair: Jeff Bernard
Teil 2/Part 2:
Sprache(n)/Language(s)
Teil 3/Part 3:
Literatur(en)/Literature(s)
Teil 4/Part 4:
Nonverbale Zeichen/Non-verbal Signs

1.2. Signs, Texts, Cultures. Conviviality from a Semiotic Point of View /
Zeichen, Texte, Kulturen. Konvivialität aus semiotischer Perspektive"

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For quotation purposes:
Helga Kerschbaum (Wien): Kultur des Wohlwollens. Aspekte modellierender Systeme. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/01_2/kerschbaum15.htm

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