Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juni 2004
 

1.2. Signs, Texts, Cultures. Conviviality from a Semiotic Point of View /
Zeichen, Texte, Kulturen. Konvivialität aus semiotischer Perspektive"

HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Jeff Bernard (Wien)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Grundlagen/Fundamentals Teil 1/Part 1:
Theorie/Theory
Moderation / Chair: Jeff Bernard
Teil 2/Part 2:
Sprache(n)/Language(s)
Teil 3/Part 3:
Literatur(en)/Literature(s)
Teil 4/Part 4:
Nonverbale Zeichen/Non-verbal Signs

Im Zeichen des Opfers - Zum Selbstverständnis des postmodernen Subjekts

Peter Moeschl (Wien)

 

Zusammenfassung: Zu nahezu allen Zeiten bedeutete Opfer zu sein eine gesellschaftliche Stigmatisierung. Heute jedoch, in Zeiten intensiver reflexiver Selbstbestimmung und Abgrenzung der Einzelnen voneinander hat die Opferrolle Konjunktur. Das postmoderne Subjekt empfindet sich immer schon als Opfer seiner Umstände. Dies sei - so Zizek - darauf zurückzuführen, daß die "erzwungene Wahl" (Lacan) nicht mehr als eine Wahl erkannt und anerkannt werde. Indem alle Bedrohung auf Ebene der existentiellen Voraussetzungen als den individuellen Entscheidungsmöglichkeiten vorausgehend empfunden wird, scheint jedes aktive Wählen ausgeschlossen und der Einzelne von vornherein entschuldet. Dies unterläuft die Annahme jeder, wenn auch tragischen Schuld von Seiten des Opfers. Am Leitbegriff des Opfers wird das einer Dialektik der Aufklärung folgende Selbstverständnis heutiger Subjekte analysiert und in seinen paradoxalen Folgen dargelegt.

 

"Was mich nicht umbringt, macht mich stärker." Dieser Nietzsche zugeschriebene Satz mag vielleicht zur Ich-Stärkung der in einem offenen Konflikt Betroffenen beitragen, zur Entlastung von Gewaltopfern ist er aber gewiß nicht geeignet. Er verleitet das Opfer nur zur Selbstheroisierung und damit zum Aufrechterhalten unbewußter traumatischer Prozesse, welche ja erst in Gestalt der inadäquaten Anpassung an die Gewalt ihre schädigende Langzeitwirkung entfalten. Schließlich vermag auch das Umdeuten des passiven Opferstatus in den eines aktiven Märtyrers den Beschädigten zwar vorübergehend zu beruhigen, nicht jedoch nachhaltig zu helfen. - Das wissen wir alle.

Nun gibt es aber kaum eine unattraktivere Rolle als die durch und durch passive des Opfers. Das zeigt sich nicht nur darin, daß wir, die Anderen, einen im Grunde negativen Affekt im Umgang mit dem, wie wir wissen, "immer irgendwie beschädigten" Opfer zu überwinden haben, sondern daß sich sogar das Opfer selbst, will es sich emanzipieren, nicht als ein solches - und das heißt: im Zustand der Machtlosigkeit - akzeptieren kann. Nach aller rechtlicher Vergeltung ist und bleibt der Opferstatus etwas, das nicht nur überwunden, sondern darüber hinaus getilgt, ja ausgeschlöscht werden muß, und es ist äußerst fraglich, ob dies - von Seiten der Gesellschaft wie vom Einzelnen selbst - durch schlichtes Vergessen bewerkstelligt werden kann. Das Opfer muß - selbst in Anbetracht seiner zugleich auch durchgemachten Lernprozesse - aus all dem, was es an die Opferrolle bindet, heraus. Es bekommt damit die in sich widersprüchliche Aufgabe auferlegt, mit der Opferrolle zu brechen, dies aber nicht einfach durch Verleugnen oder Verdrängen, sondern durch ein Verarbeiten zu bewerkstelligen - durch ein Verfahren also, das im Überwinden die alte an die neue Rolle bindet.

In seinem zusammen mit dem Juristen Winfried Hassemer veröffentlichten Buch Verbrechensopfer, Gesetz und Gerechtigkeit (Hassemer/Reemtsma 2002) analysiert Jan Philipp Reemtsma die widersprüchliche Problematik von Gewaltopfern mit einer durch persönliche Erfahrung geschärften Sensibilität (vgl. Reemtsma 1997). Dadurch gelingt es ihm, eine Reihe psychosozialer Dimensionen aufzudecken, die in den Schematiken bisheriger Zugänge weitgehend verdeckt geblieben waren.

Mit der hier gebotenen Distanz, Aufmerksamkeit und Genauigkeit vermag er die in der psychischen Verarbeitung auftauchenden subjektiven Bedürfnisse des Opfers, etwa auch die nach Haß und Rache, in ihrer spezifischen Funktion anzusprechen. Ohne diese Bedürfnisse von vornherein zu verurteilen oder andererseits mit einem Rechtsanspruch, von dem das Gesetz selbst auszugehen hätte, gleichzusetzen, erkennt und anerkennt er die Unausweichlichkeit, mit der solche Gefühle vom Einzelnen durchlebt werden müssen, um sich schließlich von der Opferrolle zu lösen. Allerdings dürfen sich - so die Autoren - die daraus zu ziehenden Konsequenzen nicht allein in einer psychotherapeutischen Behandlung der Opfer erschöpfen. Diese benötigen vielmehr eine darüber hinausreichende soziale Betreuung, deren Kernaspekt eine allgemeingesellschaftliche Anerkennung beinhaltet, welche auch im straf- und sozialrechtlichen Bereich Ausdruck finden sollte. Ohne jener heute aktuellen Politik der Verbrechensfurcht und ihren Opferphantasien (gegenüber einer Politik der empirisch belegbaren, tatsächlichen Verbrechensgefährdung) das Wort zu reden, fordern Reemtsma & Hassemer ein stärker opferorientiertes Strafrecht. Dieses dürfe die Rechte des Beschuldigten nicht beschneiden. Es sollte aber den psychosozialen Bedürfnissen des Opfers derart Rechnung tragen, daß es nicht einfach die passive Zwangslage des Opfers in der Rolle des ebenfalls nur passiven Zeugens perpetuiert, sondern vielmehr eine aktive Auseinandersetzung, etwa in Gestalt einer Nebenklage von Seiten des Opfers, einer Entschädigungspriorität und dergleichen mehr ermöglicht.

Zu nahezu allen Zeiten bedeutete Opfer zu sein eine gesellschaftliche Stigmatisierung. Die Gesellschaft begegnete - so Reemtsma - den Gewaltopfern seit jeher mit Ressentiment, wobei dies oft von der Vermutung einer Schuld des Mitverursachens, häufiger aber noch von der Unterstellung einer bleibenden Beschädigung und deren Folgen genährt wurde. Erst im Rahmen der Aufarbeitung des Holocaust sei es zu einem Wendepunkt hinsichtlich der Aufmerksamkeit und des Respekts für die Opfer und für den Opferstatus im allgemeinen gekommen.

Diese grundsätzlich erfreuliche Entwicklung einer öffentlichen Solidarisierung mit den Opfern hat jedoch auch negative Auswirkungen gezeitigt. Tatsächlich kann heute nicht nur von einem steigenden Ansehen des Opferstatus gesprochen werden, es erregt bei vielen sogar das paradoxe Begehren, sich durch Selbstzuschreibung einer Opferrolle gesellschaftliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Um diesen generellen Trend, sich als Opfer - und sei es nur als das anonymer Umstände - zu erkennen, muß man nicht, wie Reemtsma, auf die Anmaßung einer fingierten Holocaustgeschichte und deren öffentlichen Erfolg verweisen, es genügt schon, die massenhaften Selbstinszenierungen unserer Mitbürger in den täglichen Talkshows des Fernsehens zu verfolgen.

Was hat sich geändert? Was hat diesen Trend zu einer allgemeinen Viktimisierung - das primäre Selbstverständnis des Einzelnen, Opfer zu sein - verursacht? Was hat bewirkt, daß sich jeder in seinem Handeln nur mehr sekundär, nur mehr reaktiv, als Täter verstehen möchte? - Hier hat sich, so scheint es, eine tiefgreifende Umcodierung der individuellen Subjektivität vollzogen, und dies ist auch in der Philosophie aufgegriffen worden. Nach Slavoj Zizek (2001) hat in den letzten Jahrzehnten ein Übergang vom modernen zum postmodernen Subjekt stattgefunden, welches sein spezifisch narzißtisches Selbstverhältnis immer mehr in Gestalt einer selbstgewählten Opferrolle zum Ausdruck bringt.

Das moderne Subjekt hingegen, ein Produkt der Aufklärung, erkennt und anerkennt sich selbst als Zentrum seiner Welt. Mehr als ein Produkt der Umstände erlebt es sich als Entscheidungsträger und damit als selbstverantwortlich. Freigesetzt aus der Umklammerung einer archaisch umsorgenden Gemeinschaft hat das aufgeklärte Subjekt den Auftrag der Individualität angenommen und sucht - so Kant - einen "Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Kant 1784: 28). Indem von ihm die Welt als eine von Menschen gemachte gesehen wird, steht das Machen selbst, die menschliche Aktivität, im Zentrum der eigenen Interessen. Reflexiv wird das Gemachte, werden die Produkte der Menschheit als gesellschaftlich bestimmend empfunden und so zu einem Motor der sozialen Aktivität des Einzelnen.

Von Anbeginn aber war die Aufklärung auch von einem Mythos des menschlich Machbaren, einer Reflexionslosigkeit gegenüber den eigenen Voraussetzungen begleitet, welche schließlich zu Allmachtsphantasieen im Namen des Menschen mit den bekannten negativen Folgen geführt haben. Dieser Mythos war in jener narzißtischen Phantasie grundgelegt, das menschliche Individuum brauche nur von einem archaischen Gemeinschaftsdenken (mit seiner Gottgegebenheit) befreit zu werden, und schon seien die gesellschaftlichen Wesenskräfte des Individuums voll entfaltet. In ihm herrschte unausgesprochen die Vorstellung, das Individuum sei als ein emanzipiertes einfach nur zu entdecken und zu befreien, nicht aber wurde die Individualität selbst als das immer erst zu entwickelnde Produkt einer langwierigen und reflexiv zu gestaltenden demokratischen Auseinandersetzung erkannt (vgl. Moeschl 1995). Gerade im 20. Jahrhundert hat dieser von Horkheimer & Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung (1944) eingehend erörterte Mythos der Aufklärung negative Auswirkungen gezeitigt. Oft hat damit auch ein großes soziales Engagement paradoxe Effekte hervorgebracht. Die in den großen Ideen und Ideologien dem Einzelnen abverlangte soziale Stellungnahme hat dabei bis zur Unmenschlichkeit gesteigerte Züge angenommen - man denke nur an Faschismus und Stalinismus. Zweifellos sind derart auch und gerade in diesen modernen Zeiten mehr Greueltaten im Namen eines aktiv gesuchten sozialen Guten als des passiv vorgefundenen egoistisch Bösen vollbracht worden.

Das Bewußtwerden solch eines selbstverschuldeten Unheils im Namen des Guten hat zum einen in den verschiedenen Überlegungen des postmodernen Denkens der letzten Jahrzehnte seinen theoretischen Ausdruck gefunden - man denke etwa an das "Ende der großen Erzählungen" (wobei natürlich die großen Ideologien als Erzählungen apostrophiert wurden; vgl. Lyotard 1994). Zum anderen hat dies in der postmodernen Praxis nach dem zweiten Weltkrieg einen zwar oberflächlich rührigen, fundamentalen Fragen gegenüber jedoch resignativ-desorientierten Lebensstil weiter Kreise der westlichen Bevölkerung bedingt. Dieser entpolitisierte, mit den Begriffen Leistungsgesellschaft, Freizeit- und Spaßgesellschaft gleichermaßen zu umreißende Lebensstil hat schließlich mit dem Zusammenbruch des Ostblocks einen Höhepunkt und seine nachträgliche Rechtfertigung gefunden.

In solch einem theoretischen wie praktischen Umfeld haben auch die - nichtsdestotrotz - regulativ notwendigen Vorstellungen zur Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens ihre spezifische Ausprägung erhalten: Wenn schon keiner großen politischen Idee mehr vertraut werden könne, so dürfe man gerade Rechtsvorstellungen und -begriffe nicht aus den Augen verlieren. Schließlich gäbe es doch westliche Werte, die trotz Ablehnung jener mittlerweile obsoleten "großen Ideen" als das einfache und allgemeingültige Gute - im Sinne des üblichen liberal-pragmatischen Demokratieverständnisses - bewahrt werden sollten.

Es braucht im Rahmen einer derartigen Vorgabe jener mehr oder weniger theorielosen Theorie nicht zu verwundern, daß hier die theoretische Vertiefung und Präzisierung durch eine formale Anordnung von Wertvorstellungen direkt an der "Benutzeroberfläche" des Rechtssystems ersetzt werden muß. Ein umfassendes Rechtssystem soll hier leisten, was man sich an inhaltlicher Auseinandersetzung ersparen will: alles und jedes muß vorweg schon reglementiert sein, damit die lückenlose Delegierung des Problematischen an die juridische Instanz gelingt. Ethikkommissionen etwa entheben die Handelnden der eigenen ethischen Reflexion, political correctness ersetzt das Politische... In dieser Vorverrechtlichung des Politischen erlebt sich der Einzelne nicht mehr als Gestalter der Gesellschaft, er erlebt sich nur mehr als deren Betroffener, als Opfer. Die Logik der Viktimisierung ist heute allgegenwärtig, die menschliche Gemeinschaft, jeder Kontakt mit anderen Menschen wird in erster Linie als potentielle Bedrohung erfahren. Ausgehend von den massiven Fällen der rassistischen und sexuellen Belästigung und deren Verfolgung sollen heute - so wird vielerorts gefordert - alle Formen des persönlichen Kontakts kodifiziert und rechtlich geregelt werden. Nur auf diese Weise, so scheint es, könne der Freiheit des Subjekts in einer demokratischen Gemeinschaft ausgleichend Rechnung getragen werden.

Auf welche Weise hat sich aber in diesem Anspruch, Opfer zu sein, das selbstverantwortliche Subjekt verändert, wohin hat es sich unbemerkt verflüchtigt? Handelt es sich in dieser universellen Vorstellung des Ichs als Opfer der Umstände noch um jenes aktive Subjekt der Aufklärung, welches seine Individualität als Produkt des eigenen gesellschaftlichen Handelns und Aushandelns verwirklicht? - Und schließlich: Wofür benötigt ein grundsätzlich nicht selbstverantwortliches Subjekt noch Autonomie, wozu noch Freiheit? Wird damit nicht gerade jener extrem narzißtischen Perspektive Vorschub geleistet, welche Zizek dem postmodernen Subjekt zuschreibt, und das die Autorität seines Sprechens auf seinen Status als Opfer der Umstände gründet?

Es ist hinlänglich bekannt, daß sich heute sogar Skinheads die Argumentation ihrer Sozialhelfer zu eigen gemacht haben: sie seien eben das Opfer schlechter sozialer Umstände, verkommener Eltern etc. Dieser zynisch anmutende Begleittext zur Erklärung ihrer gleichsam simultan vollbrachten Gewalttaten (sprich: nach der Tat und vor dem Rückfall) mag durchaus auch ernst gemeint sein. Hilfreich zur Resozialisierung ist er nicht, er fungiert weniger als Schuldbekenntnis, vielmehr als eine - quasi reflexhaft - vollzogene Schuldabwehr. Hier gilt es auch die immer wieder kritisierte Dialektik von Opfer und Täter ins Spiel zu bringen, nach der auch kein Opfer schuldlos bleiben könne, und das selbst dann, wenn der Täter alle Macht in Händen hält. Einer Kritik daran ist gewiß in der Hinsicht zuzustimmen, daß die Schuld der Opfer nicht mit der der Täter korrespondiert (indem das Opfer etwa den Täter provoziert habe, etc.) und daher auch nicht zur Entlastung der Täter in Anspruch genommen werden kann. Nicht aber ist das Opfer frei von Schuld zu sehen. Hier eröffnet sich eine tragische Dimension des Menschseins, eine Dimension, in der sich zeigt, daß der Mensch nicht nur zur Freiheit erlöst, sondern zugleich auch zu ihr verdammt ist: Wird etwa ein Mensch bei Todesdrohung gezwungen, eine bestimmte Tat zu vollbringen und besteht keine Ausweichmöglichkeit, dann sprechen wir davon, er habe keine Wahl. Genaugenommen stimmt das nicht, er könnte ja den Tod wählen. Wir haben hier also nur ein eklatantes Beispiel einer erzwungenen Wahl vorliegen, eine Wahlform, die viel umfassender, als wir meinen, unsere alltäglichen Entscheidungen strukturiert - man denke nur an die Annahme der symbolischen Ordnung oder an die sogenannten Sachzwänge. Mit den bei dieser Wahl weitgehend unbewußt ablaufenden Verleugnungsprozessen hat sich die strukturale Psychoanalyse Lacans eingehend beschäftigt (vgl. Zizek 1991). Natürlich besitzt die erzwungene Wahl eine unausweichliche, eine tragische Dimension, die dem Opfer nicht nur sein Leid, sondern auch eine aktive Entscheidung abzwingt und darin mit Schuld belädt. Zugleich ermöglicht aber gerade das daraus resultierende Schuldgefühl, also die Annahme dieser tragischen Schuld, ein menschliches Wesen (mit seiner Potentialität, seiner zumindest strukturell gegebenen Freiheit) zu bleiben und sich nicht durch Schuldabwehr selbst zu einem Automaten, zu einer Maschine der Pflichterfüllung zu reduzieren. Die tragischen Ereignisse im Umfeld des Holocaust können hier Bände füllen (z.B. Levi 1992, Kertész 1996).

Während wir also heute - zu Recht - unsere Väter kritisieren, wenn sie sich mit der Behauptung, sie hätten nur ihre Pflicht getan und seien Opfer ihrer Pflicht geworden, von jeder individuellen Schuld distanzieren möchten, so akzeptieren wir doch zugleich mehr und mehr die allgemeine Vorstellung vom "Menschen als Opfer seiner Umstände" in der heutigen Welt. Wir bemerken dabei kaum, daß wir damit dem heutigen Menschen den Status eines - gewiß auch gezwungen - Entscheidenden (seine Conditio humana, mit all ihren schuldhaften Implikationen) aberkennen. Auf dem glatten Erklärungsmuster der Viktimisierung zu beharren und zugleich menschliche Souveränität zu beanspruchen, führt hier zu einem Selbstwiderspruch, welcher auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert, zugleich aber den Status eines emanzipierten Selbstbewußtseins einfordert. Einem inhaltlich passiven Subjekt soll ein formal aktiver Status eingeräumt werden. Daß dies kaum emanzipieren kann, braucht wohl nicht näher erörtert zu werden.

Wir erleben heute den Aufstieg des Opferbegriffes zu einem gesellschaftlich dominierenden und zugleich seine inhaltlich inflationäre Universalisierung mit den genannten Konsequenzen. Dementsprechend sollte man sich davor hüten, den allgemeinen Opferstatus jedes Einzelnen als den eines Leidenden - denn das sind wir in unseren Lebensprozessen immer auch alle - im Detail bestimmen und prospektiv festlegen zu wollen. Ein derartiges Unterfangen ist nicht allein deswegen als paranoid abzulehnen, weil es keine Verhältnismäßigkeit als Rahmen des zwischenmenschlichen Verkehrs akzeptiert und sich von der Illusion einer exakten Aufrechenbarkeit und jederzeitigen Ausgleichbarkeit vom Tun und Leiden leiten läßt. Ein derartiges Unterfangen ist von vornherein von dem Erkenntnisinteresse geleitet, im Opferstatus zu verharren und diesen als eigene Handlungsgrundlage annehmen zu wollen. Demgegenüber sollten wir vielmehr ein Opfer, auch wenn es vielleicht noch nicht hinreichend bestimmt sein mag, von Beginn an unter dem Aspekt seiner gesellschaftlichen Emanzipation betrachten: Marx paraphrasierend könnte man sagen, daß die Emanzipation des Opfers immer auch eine Emanzipation vom Opferstatus selbst bedeutet (vgl. Marx 1843). Derart darf das Opfer - will es nicht in seinem Zustand gefangen bleiben - seinen Opferstatus vor der Gesellschaft nicht einklagen, es muß ihn anklagen. Es muß, indem es sich als Opfer erkennt und Anerkennung fordert, aktiv gegen den entmenschenden Opferstatus opponieren. Es muß von der Gesellschaft Anerkennung verlangen, Opfer gewesen zu sein, wobei diese Forderung selbst schon als performativer Akt zur Überwindung der Opferrolle anzusehen ist. Keineswegs darf daher die Genugtuung, die das Opfer verlangt, unter dem Aspekt des Mitleids verstanden werden, weil solch ein Verständnis das Opfer an seine Rolle als Opfer (mit all seiner Passivität und Machtlosigkeit) binden würde. Mitleid ist hier also nicht etwa deshalb fehl am Platze, weil es unaufrichtig wäre. Es ist kontraproduktiv, weil diese Form der Anerkennung das Opfer dazu verführt, in seiner passiven Rolle zu verharren, und nicht zu einer aktiven Selbsthilfe motiviert.

Gerade der Aspekt des Mitleids, der die Misere perpetuiert, hat aber heute, im Zeitalter der Postmoderne, Konjunktur. Er führt im Sinne einer allgemeinen Opferkonjunktur, in der sich jeder mehr oder weniger als Opfer betrachten darf und soll, geradewegs zu jener sich selbst widersprechenden postmodernen Individualität, die hier im Anschluß an Zizek als selbstbewußte Unmündigkeit erörtert wurde.

Gegenüber einer allgemein steigenden Opferhysterie, welche in den USA zu skurril anmutenden Gerichtsprozessen führt, wird heute die auch und gerade in einer Demokratie nie zu vermeidende anonyme Schuld der Gesellschaft, dem Individuum keine völlige Sicherheit garantieren zu können (und damit die Möglichkeit, Opfer zu werden, auszuräumen), nicht eingestanden, geschweige denn zum Thema konkreter Maßnahmen erhoben. Als Wahrer des Rechts sieht sich der Staat im Opfer in erster Linie selbst verletzt und verfolgt aus dieser Perspektive (des verletzten Rechtsguts) den Täter. Die Ansprüche des Opfers an den Staat als Repräsentant einer offenen und daher immer auch unsicheren demokratischen Gesellschaft werden demgegenüber nicht angemessen in Erwägung gezogen. Wir sind bis heute nicht wirklich bereit, uns einzugestehen, daß eine demokratische Ordnung mit ihren Dimensionen von persönlicher Freiheit nicht mit dem Zustand absoluter Sicherheit vereinbar ist. Ein gewisses Maß an Unsicherheit ist der Preis, den wir als offene Gesellschaft zu entrichten haben. Indem wir das aber verdrängen, sind wir auch nicht in ausreichender Weise bereit, die Verantwortung der Gesellschaft für diese selbstgewählte Unsicherheit dem Einzelnen gegenüber wahrzunehmen. Gerade hier aber - im Bereiche des Sozialrechts und nicht nur des Strafrechts - wären neue Wege der Genugtuung, Entschädigung und Rehabilitation von Opfern möglich. Diese Wege müßten, entgegen unserem Zeitalter der sozialen Oberflächlichkeit, welche sich in sozialer Kälte wie in pedantischer Sozialverrechnung gleichermaßen äußert, neue Dimensionen der gesellschaftlichen Verantwortung erschließen. - Die abstrakte Alternative, die uns die Gesellschaft stattdessen heute bietet - jene "Generalamnestie", jeder dürfe Opfer sein und bleiben (und werde gegebenenfalls zum Märtyrer aufgewertet) - ist demgegenüber aber gewiß nur ein Weg in eine neue selbstgewählte Unmündigkeit.

© Peter Moeschl (Wien)


LITERATUR

Hassemer, Winfried & Jan Philipp Reemtsa (2002). Verbrechensopfer. Gesetz und Gerechtigkeit. München: C.H. Beck

Horkheimer, Max & Theodor W. Adorno (1969[1944]). Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/M.: Fischer

Kant, Immanuel (1784). Was ist Aufklärung? Wien: o.J.

Kertész, Imre (1996). Roman eines Schicksallosen. Berlin: Rowohlt

Levi, Primo (1992). Ist das ein Mensch? München: dtv

Lyotard, Jean François (1994). Das postmoderne Wissen. Wien: Passagen

Marx, Karl (1843). "Zur Judenfrage". Nun in: MEW 1. Berlin: Dietz 1978: 347-377

Moeschl, Peter (1995). "Zur dialektischen Ironie der frühen Aufklärung". In: Weimarer Beiträge 41(4): 591-599

Reemtsma, Jan Philipp (1997). Im Keller. Hamburg: Verlag Hamburger Ed.

Zizek, Slavoj (1991). Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Frankfurt/M.: Institut für Neue Medien an der Städelschule

- (2001). Die gnadenlose Liebe. Frankfurt/M.: Suhrkamp


Grundlagen/Fundamentals Teil 1/Part 1:
Theorie/Theory
Moderation / Chair: Jeff Bernard
Teil 2/Part 2:
Sprache(n)/Language(s)
Teil 3/Part 3:
Literatur(en)/Literature(s)
Teil 4/Part 4:
Nonverbale Zeichen/Non-verbal Signs

1.2. Signs, Texts, Cultures. Conviviality from a Semiotic Point of View /
Zeichen, Texte, Kulturen. Konvivialität aus semiotischer Perspektive"

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For quotation purposes:
Peter Moeschl (Wien): Im Zeichen des Opfers - Zum Selbstverständnis des postmodernen Subjekts. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/01_2/moeschl15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 29.6.2004    INST