Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juli 2004
 

1.2. Signs, Texts, Cultures. Conviviality from a Semiotic Point of View /
Zeichen, Texte, Kulturen. Konvivialität aus semiotischer Perspektive"

HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Jeff Bernard (Wien)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Grundlagen/Fundamentals Teil 1/Part 1:
Theorie/Theory
Teil 2/Part 2:
Sprache(n)/Language(s)
Teil 3/Part 3:
Literatur(en)/Literature(s)
Moderation / Chair: Gloria Withalm
Teil 4/Part 4:
Nonverbale Zeichen/Non-verbal Signs

Kultur als Verkehr - Theorie des umgekehrten Handelns

Stephan-Immanuel Teichgräber (Wien)

 

Zusammenfassung: Die Voraussetzung einer Kultur ist die ständige Erzeugung neuer Texte. Die Mehrsprachigkeit ist eine Grundvoraussetzung der communitas, denn die neuen Texte entstehen durch einen Übersetzungsprozeß. Ob es ohne diese Mehrsprachigkeit überhaupt zu neuen Texten kommen könnte, ist eine offene Frage. Die Geschichte ist durch Kontinuität und Eruption gekennzeichnet, wobei beide durchaus synchron verlaufen können. Bei der Erforschung des Informationsgehalts des geschichtlichen Prozesses sind die Epochengrenzen von wesentlicher Bedeutung. Die Rebellion und die Revolution bringen einen starken Anstieg. Der Konflikt zwischen kontinuierlichen und diskontinuierlichen Sprachen führt letztlich zu einer Lösung, die über den Multikulturalismus hinausweist und einer neuen Sprache die Möglichkeit gibt aufzutreten. Die Kultur nimmt dem Individuum die Unsicherheit und ist darum für den Einzelnen eine unerläßliche Ergänzung, da sein Informationsmangel unaufhörlich wachst.

 

Kann Kultur als eine Übersetzungsstruktur und zugleich als eine Übersetzungseinrichtung gesehen werden, in der sich unaufhörlich Übersetzungsvorgänge vollziehen? Würde es sich dabei um eine homogene Struktur handeln, dann würde ständig gleiches in gleiches übersetzt, doch wenn eine Kultur heterogen ist, werden durch diese Übersetzungsvorgänge ständig neue Texte mit neuen Informationen erzeugt. Wird ein Text von einer Sprache in eine wesentlich anders strukturierte Sprache übersetzt, also z.B. ein Text in einer natürlichen Sprache (Deutsch, Slowakisch, Ungarisch) in einen Text einer ikonischen Sprache, so wird bei der Rückübersetzung ein wesentlich anderer Text entstehen als der Ausgangstext.

Natürlich wird der neue Text für jeden, der den Ausgangstext kannte, ein falscher, ein entstellter Text sein. Dies wird gerade bei der Rückübersetzung des ikonischen Textes in den Worttext, sei er akustisch oder schriftlich, deutlich. Aber gerade diese Unrichtigkeit ist die Voraussetzung nicht nur für neue Information, sondern auch für eine neue Sprache. Diese ständig in einer Kultur ablaufenden Übersetzungsprozesse beruhen also auf der Heterogenität, auf ihren verschiedenen Sprachen und ihrer Transformation in Texte. Dabei unterteilen sich die Rezipienten in die, die die Ausgangstexte und nur diese kennen, und die, die ausschließlich die neuen Texte kennen, und die dritte Gruppe, die die Ausgangstexte und die transformierten Texte kennen. Diese Teilung ist nicht nur biologisch bedingt, daß jede Generation ihre eigenen Texte besitzt, die der vorhergehenden Generation verwirft oder sie neu, gegen den Strich liest, rezepiert, sondern auch ideologisch, da dadurch die erinnerten Texte begrenzt werden und die Wahrnehmung neuer Texte beeinträchtigt wird. So war die Rezeption biblischer Texte in der Sowjetunion der fünfziger Jahre ein Minderheitenprogramm, während heute die Rezeption tschechischer, slowakischer und polnischer Literatur außerhalb der entsprechenden Muttersprache in Europa kaum verbreitet ist. Die Heterogenität der Kultur erhöht sich noch dadurch, daß die verschiedenen Perioden angehörenden Texte wieder zur Deckung gebracht werden sollten und dabei wieder neue Texte entstehen, die unter Umständen eine neue Sprache hervorbringen. Eine Möglichkeit unter vielen ist das neue Lesen alter Texte oder auch das alte Lesen neuer Texte, das schon erwähnte Gegen-den-Strich-Lesen, das wiederum ein weiteres Gegen-den-Strich-Lesen hervorruft, provoziert. Für denjenigen, der die Ausgangstexte kennt, erscheint der neue Text oder erscheinen die Texte als falsche, entstellte, verkehrte Texte, wobei er sich kritisch fragen muß, ob er nicht selbst von einem verkehrten, also schon transformierten Text ausgegangen ist. So läßt sich der permanente Übersetzungsprozeß(1) auch als ein ständiges Verkehren von Texten verstehen, was wiederum von dem einen oder anderen als Wiederkehr aufgefaßt werden kann, was zu dem Wunsch führt, den ursprünglichen, den aller ersten Text zu rekonstruieren. Dieses kann dann zum Rekurrieren auf Mythen führen, denn weiter läßt sich ein Text nicht zurückverfolgen und retransformieren.

Gegen die ständig neu entstehenden Texte und Informationen kann in einer Kultur jedoch ein Widerstand entstehen, der diese als unerwünscht und/oder überflüssig ansieht, was zu einer Immobilität in der Gesellschaft führen würde. Dieser Widerstand verlangt ein Petrifizieren der Kultur in einem bestimmten Stadium (im parteipolitischen Diskurs drängt sich die "deutsche Leitkultur" auf), was an sich jedoch zu einer Eliminierung der Kultur führt.

Eine Kultur verfügt nicht nur über mindestens zwei Sprachen, ohne die eine Übersetzung, das Verkehren der Texte, gar nicht möglich wäre, sondern über eine Bipolarität, wenn nicht sogar Polypolarität, die durch Invarianten dargestellt werden können, die durch ständige Verkehrung (bei Jung ist das die Amplifikation) immer neue Gestalt erlangen können (z.B. Geburt ~ Frühling <> Alter ~ Herbst).

Die Mehrsprachigkeit ist zwar die Voraussetzung, doch dann kommt es in allen Kulturen zum Bestreben, eine einzige, universale Sprache zu finden. Dieses Streben bringt eine sekundäre Realität, die die Kultur schafft. Das Verhältnis zwischen Vielfältigkeit und Einzigartigkeit gehört zu den grundlegenden Merkmalen der Kultur.

Der Kommunikation, die von communitas abgeleitet ist, die obscenije, führt zur obscnost', einer gemeinsame Sache, einer Gemeinsamkeit. Vielleicht heißt auch darum im Russischen die Gemeinde obscina, wodurch nicht nur die Gemeinschaft, sondern auch der Verkehr der Menschen untereinander und miteinander bezeichnet ist. Dadurch entsteht direkt eine Verbindung zur Gemeinde, zur "obec" Dominik Tatarkas.

In einer Kultur vollziehen sich aufeinander folgend oder auch synchron explosive und kontinuierliche Prozesse. Lotman ordnet etwas willkürlich die explosiven Prozesse der Kultur zu, während die kontinuierlichen der Zivilisation eigen wären. Aber es geht Lotman im Grunde darum, Zivilisation und Kultur miteinander zu verschränken, die eine könne nicht ohne die andere existieren; so habe jede Kultur eine gewisse Kontinuität, während keine Zivilisation ohne gelegentliche Revolutionen auskommen könne.

Das 20. Jahrhundert war nach Lotmans Ansicht die Realisierung einer Metapher: die gesellschaftliche, soziokulturelle Entwicklung als Explosion/en, dabei werden diese jedoch nicht philosophisch verstanden, sondern vulgär als Platzen einer Bombe, Explosionen von Schießpulver und Dynamit, die Gewalt der Atombombe. Ebenso basiere der Unterschied zwischen Literatur und Belletristik auf Diskontinuität und Kontinuität. Die explosiven Prozesse garantieren in einer Kultur die Innovation, die kontinuierlichen Prozesse dagegen das Gedächtnis, die Tradition. Gegen die Gesetzmäßigkeit der historischen Entwicklung - und damit rückt Lotman in die Nähe der postmodernen Philosophie - richtet sich Lotman aus rein semiotischen Gründen. Wenn der historische Prozeß vorhersagbar ist, dann wird er an sich überflüssig, die Bewegung verliert jeden Informationsgehalt.

Die explosiven Phasen der Geschichte entsprechen den Brüchen, auf die Foucault in seiner Archäologie des Wissens seine Aufmerksamkeit richtet. Auch er spricht von den Kontinuitäten, mit denen sich Historiker befassen, die die Entwicklung in Epochen gliedern, und stellt ihnen Schwellen, Brüche, Einschnitte, Wechsel, Transformationen entgegen, in denen (genau wie bei Lotman) sich die Informationen vervielfachen. "Die historischen Beschreibungen vervielfachen sich nach der Aktualität des Wissens durch die Transformationen" (Foucault 1973: 11).

Kehren wir wieder zur Kultur als Übersetzungsraum, in dem ständig Texte transformiert werden, die gesellschaftliche Explosion, Bruch durch eine Erhebung, Vervielfachung an Informationen, Beschleunigung ihrer Vermittlung und Transformation bedeutet, zurück. Jedoch auch in den kontinuierlichen Perioden kann eine Kultur nicht ohne diese Transformationen auskommen, will sie nicht aufhören zu sein. Hier setzt Dominik Tatarka ein, d.h. damit, daß eine Kultur ohne Bewegung - ohne innere Bewegung, können wir ergänzen - nicht mehr als solche wahrgenommen würde. Darum müsse die Kultur eine ständige Erneuerung, ein Aufbäumen, eine ständige Revolte des Bewußtseins sein, ein ständiges Revoltieren, denn die Kultur sei ein Bewußtwerden der Gesellschaft und ein Bewußt machen ihres eigenen Zustandes, ihrer Befindlichkeit. Eine grundsätzliche These Tatarkas ist, daß die Kultur das Wissen und das Gewissen der Menschen und der Gesellschaft ist. Wenn die Kultur nur als Kunst und Gesamtheit ihrer verschwundenen und erhaltenen Artefakte verstanden wird, dann fällt eine grundsätzliche Sache heraus: die Revolution. Auch wenn wir Tatarkas Begeisterung für Rebellion und Revolution als kulturelle Meisterwerke nicht teilen, sie als Äußerung der Kultur, der Klassen und Völker außer acht lassen, so sind dies doch die Augenblicke maximaler Information, ein Baden in neuen Erkenntnissen.

Tatarka drückt dieses ständige Übersetzen, das eine Kultur ausmacht, noch anders aus: Kultur ist ein Gespräch, ein Verständigen, denn wenn die transformierten Texte unverständlich sind, ist die Übersetzung fehlgeschlagen. Kultur ist ein Verkehren nicht nur von Texten, sondern auch ein Verkehr der Menschen untereinander. Die Vereinzelung, Isolation, der Abbruch der Kommunikation ist dagegen das Ende der Kultur, der Stillstand der Transformationen. Die Kultur ist die Gesamtheit der Taten, die nationale Aktivität, die Gesamtheit aller nationalen Äußerungen, jede Artikulation der Bevölkerung. Der ursprüngliche Ausdruck der Kultur ist nach Tatarkas Auffassung die Versammlung am Feuer in der Hütte, in Tempeln, Kirchen oder im Raum der Telekommunikation, in den Medien, sei es zu Tatarkas Zeit das Fernsehen oder heute viel konkreter und aktiver das Internet. In der Kultur drückt sich das Volk aus, bei Tatarka ist das noch auf den nationalen Rahmen beschränkt, doch sprengte auch früher die Kultur den nationalen Rahmen. Hier stellt sich aber die Frage, ob der Begriff der Nation vielleicht doch noch einen Sinn hat.

Ungeachtet einer spürbaren Antagonizität und eines ständigen Kampfes zwischen zwei modellierenden Sprachen, der des mythologischen Bewußtseins und der wörtlichen, linearen Sprache, der diskreten und der kontinuierlichen Sprachen, bildet sich das reale Erlebnis des Menschen der Struktur der Welt als ein stabiles System innerer Übersetzungen und Umgruppierungen von Texten in einem strukturellen Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen aus. Dem entspricht die Antithese von mythologischer Zeit (zyklischer) Zeit und historischer (gerichteter) Zeit. In nicht-diskreten Sprachen verbindet sich ein Zeichen mit einem anderen, dabei können sie ganz verschiedenen Paradigmen angehören, was gerade für den einen Rezipienten zur Diskontinuität führt, während sich derselbe Text für den anderen als kontinuierlicher Text erweist, in dem sich ein Zeichen aus dem anderen ergibt, ein Zeichen in ein anderes transformiert wird, in eine andere Erscheinung seiner selbst, und wird so einem Sinnfleck, einem Paradigma auf einer anderen Ebene gleich. In diskreten Sprachen findet dagegen die Assimilation der Paradigmen nicht statt, wodurch die Brüche zwischen den Zeichen sichtbar werden und sichtbar bleiben. In dem Moment, wo der Verkehr zwischen den gegebenen Sprachen nicht mehr möglich ist, beginnt der Zerfall der kulturellen Persönlichkeit auf der gegebenen Ebene und sie hört langsam auf sie existieren. Es gibt zwei Möglichkeiten der Integration: Die eine ist die Metabeschreibung, die zwei verschiedene Sprachen beschreibt und so im Laufe einer längeren Entwicklung zu ihrer Fusion führt. Es kommt zu einer Kreolisierung dieser Sprachen, wobei die Prinzipien der einen Sprache auf die andere einwirken, ungeachtet der ganz anderen Natur dieser. So wird die gesprochene Sprache mit der geschriebenen Sprache als eine Einheit angesehen, obwohl sich diese von jener in vielen natürlichen Sprachen wesentlich unterscheidet. So kann es zum Zerfall einer Sprache wie des Serbokroatischen kommen, weil plötzlich den Sprechern bewußt wird, daß sich die gesprochene Sprache stark von der geschriebenen unterscheidet, doch sind die neuen Sprachen Serbisch und Kroatisch wieder eine Verbindung der gesprochenen und der schriftlichen Sprache, doch nur die letztere wurde und wird neu geschaffen.

Das Kino und das Fernsehen geben der gesprochenen Sprache und damit auch dem Dialekt die Möglichkeit, unmittelbar aufzutreten. Jedoch setzt das deutschsprachige Kino die Tradition der Literatur, in der dies noch in gewisser Weise gerechtfertigt sein kann (denn da setzt man einen nicht kodifizierten Dialekt graphisch um), fort, indem es nur ein stilisiertes, geradezu künstliches Deutsch zuläßt und die gesprochene, authentische Sprache in den Dokumentarfilm verbannt. Dies wirkt sich natürlich auf die gesamte deutschsprachige Kultur aus, die dadurch eine mehr und mehr unifizierte und zugleich künstliche Sprache erhält.(2) Im deutschsprachigen Kino und Fernsehen kommt es nicht zu einer Rehabilitierung des Dialekts. Jedes integrierte Sprachenpaar (Schriftsprache/gesprochene Sprache) wird zu einer kulturellen Individualität, die als Übersetzungseinrichtung, als Übersetzungsstruktur funktioniert. Die Kultur als Intellekt, der über den Individuen steht, füllt zugleich die Unzulänglichkeiten des Einzelnen aus, nimmt ihm seine Unsicherheit und sein Unwissenheit im Verhalten und ist damit für ihn unerläßlich. Das Informationsdefizit jedes Einzelnen, das unaufhaltbar anwächst, kann durch die anderen kompensiert werden. Was ist aber, wenn der Einzelne nur auf die falschen anderen trifft, die dieses Defizit nicht verringern können. Glücklich ist dabei derjenige, der seinen Informationsnotstand nicht als solchen begreift und darum auch niemanden braucht, der diesem abhilft. Der kann der Verkehrslawine und der Informationsflut den Rücken kehren und sich in sein stilles Kämmerlein oder seine Berghütte zurückziehen.

Das Bewußtsein ist ein Austausch von Mitteilungen (soobscenija), als etwas, das man miteinander teilt, sowohl im Menschen selbst zwischen der linken und der rechten Hirnhälfte, als auch zwischen den Kulturen; wie die Kultur ist auch das Bewußtsein ohne Kommunikation nicht möglich und so muß der Dialog der Sprachen der Kultur vorausgehen und sie erst erzeugen. Es geht aber die Semiosphäre der Sprache voraus - Lotman spricht hier vorsichtig von semiotischen Gebilden -, ohne Semiosphäre könne eine Sprache nicht nur nicht funktionieren, sondern auch nicht existieren. Hier kommen wir also zum Unterschied zwischen Semiosphäre und Kultur. Die Semiosphäre erweitert sich ständig - vom Kabelfernsehen bis zum Internet - und hat heute einen globalen Charakter. Die Semiosphäre verfügt auch über eine diachronische Tiefe, ein Gedächtnis, das über einzelne Individuen hinausreicht. Doch wird das kollektive Gedächtnis meist dann thematisiert, wenn es scheinbar nicht vorhanden ist, wenn es wachgerufen werden muß. Insofern muß es auch ein kollektives Vergessen geben.

Lotman kommt dann zu einem interessanten Schluß: Ist das Universum vielleicht eine Mitteilung, die in eine noch allgemeinere Semiosphäre eingeht?

Kommunikation kann einmal als monosprachliches System aufgefaßt werden, in dem zwar Informationen ausgetauscht werden, aber keine Transformation stattfindet. Kommunikation kann aber auch als zweisprachiges System aufgefaßt werden, wobei die beiden Sprachen nicht soweit voneinander entfernt sein dürfen, daß das Übersetzen unmöglich wird, aber gerade diese Kommunikation generiert neue Inhalte. Ein Beispiel: Nehmen wir an, auf einem Kongreß findet die Kommunikation auf Deutsch und Englisch statt, die Beteiligten beherrschen die Sprachen so, daß von einem monosprachlichen System gesprochen werden kann (genauer gesagt, das Konferenzenglisch als spezialisierte und zugleich reduzierte Sprache wird von allen annähernd gleich gut beherrscht), nun tritt ein Referent aus einem anderen Sprachraum (z.B. Türkei oder Rußland) auf, hat seinen Text in die Konferenzsprache übersetzt und bewegt sich so in dem monosprachlichen System. Jedoch bleibt den Zuhörern die Transformation, die zu dem Text geführt hat und den sie jetzt hören, verborgen. Der geschilderte Vorgang ist also an sich ein zweisprachiges System, was dazu führt, daß der Vortrag einen hohen Grad an neuer Information vermittelt oder er bleibt in weiten Teilen unverständlich, obwohl er sprachlich korrekt strukturiert ist.

Der so entstandene Text besitzt ein Gedächtnis, das die Züge des Ausgangstextes bewahrt und in sich einen Polyglottismus verborgen hält. Der Text ist außerdem eine denkende Struktur, durch die ein anderer Text geschickt werden muß. Es muß nicht nur ein Text vorliegen, sondern auch ein System, das fähig ist zu erkennen, was das für ein Text ist; es muß sich zwischen dem System und dem von außen kommenden Erregern eine semiotische Situation ergeben. Je stärker das kollektive Vergessen ist, desto seltener stellt sich eine solche semiotische Situation ein (s. Österreichs Unverständnis gegenüber dem "Osten"). Es läßt sich also folgende Äquivalenz aufstellen:

Natürliches Bewußtsein (Individuum) >> Text >> Kultur als kollektives Gedächtnis

Die Multikulturalität ist auch keine neue Erscheinung und Lotman spricht von einem prinzipiellen Polyglottismus der Kultur; die heutige "multikulturelle" Gesellschaft zeigt eigentlich nur das, was eigentlich das Wesen der Kultur an sich ist, bricht die Oberfläche der Kultur auf und bringt ihr Wesen ans Licht.

Da auf jeder Ebene der Sinnbildung, der Bedeutungsbildung mindestens zwei verschiedene Kodierungssysteme bestehen, wobei das eine nicht in das andere zu übersetzen ist, erhält die Transformation eines Textes, der aus dem einen System verfrachtet wurde, einen nicht vollständig vorhersagbaren Charakter. Der Grad der Deautomatiserung des Bewußtwerdens der Unvorhersagbarkeit des finalen Textes hängt von der Entfernung der Kodes der beiden Substrukturen und folglich auch von der Deautomatisierung des Übersetzungsaktes selbst ab, von der Möglichkeit und der größtmöglichen Anzahl gleichwertiger und "richtiger" Transformationen.

Die Beschreibung solcher Systeme erfolgt durch eine diskrete Metasprache, sodaß die Texte, die in nicht-diskreten Sprachen erfaßt sind, selbst deformiert werden. Die Metasprache gehört der Wissenschaft an und sollte an sich außerhalb der Kultur der Texte bleiben, was jedoch schwer möglich ist. Eine Bedingung der Kommunikation, des Verkehrs ist, daß die Individualität über einen Satz kodierter Strukturen und des Gedächtnisses verfügt, die sie mit anderen analogen Strukturen gemeinsam hat und zugleich individuell sein muß, was den Verkehr zwar erschwert, ihn aber erst fruchtbar werden läßt. Erst eine solche Individualität kann nach Lotman als Persönlichkeit bezeichnet werden.

© Stephan-Immanuel Teichgräber (Wien)


ANMERKUNGEN

(1) Der Prozeß des ständigen Übersetzens wird auch von Boris Buden aufgegriffen, wobei nach Budens Ansicht die Idee des kulturellen Übersetzens als Kritik an der Multikulturalität zu verstehen sei. So überholt Lotman posthum den Multikulturalismus, ein Phänomen, das zu seiner Zeit in seinem Land als Konzept und Lebensform nicht existiert hat.

(2) In Norwegen ist dieser Prozeß übrigens noch eklatanter zu beobachten, wobei auch der Unterschied zwischen Kunstsprache und gesprochener Sprache viel deutlicher ist und so auch den Sprechern selbst bewußt bleibt.


LITERATUR

Foucault, Michel (1973). Archäologie des Wissens. Frankfurt/M.: Suhrkamp

Lotman, Ju.M. (1994). Izbrannye stat'i. T. I. Tallinn: Aleksandra (insbes. Kap.: "Fenomen kul'tury")

Lotman, Ju.M. (2001). Semiosfera. Sankt Petersburg: Iskusstvo

Tatarka, Dominik (1996). Kultúra ako obcovanie. Bratislava: Labyrint


Grundlagen/Fundamentals Teil 1/Part 1:
Theorie/Theory
Teil 2/Part 2:
Sprache(n)/Language(s)
Teil 3/Part 3:
Literatur(en)/Literature(s)
Moderation / Chair: Gloria Withalm
Teil 4/Part 4:
Nonverbale Zeichen/Non-verbal Signs


1.2. Signs, Texts, Cultures. Conviviality from a Semiotic Point of View /
Zeichen, Texte, Kulturen. Konvivialität aus semiotischer Perspektive"

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For quotation purposes:
Stephan-Immanuel Teichgräber (Wien): Kultur als Verkehr - Theorie des umgekehrten Handelns. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/01_2/teichgraeber15.htm

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