Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. August 2004
 

1.5. Vom Nutzen kultureller Differenzen (Vilém Flusser)
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gerhard Fröhlich (Linz)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Das Übersetzungsspiel: Zur kulturkritischen Dimension von Vilém Flussers mehrsprachigem Denkstil

Rainer Guldin (Università della Svizzera Italiana, Lugano, Schweiz)
[BIO]

 

Ziel dieser Untersuchung ist es zu klären, inwiefern Vilém Flussers existentielle und schriftstellerische Übersetzungspraxis als Form kulturkritischen Denkens und Handelns verstanden werden kann und welche Aktualität ihr im Hinblick auf die wachsende Bedeutung des Übersetzungsparadigmas in den Kulturwissenschaften zukommt. Im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht dabei die Frage, welche text- und identitätskonstituierende Rolle der übersetzerische Umgang mit sprachlich-kulturellen Grenzen besitzt. Damit verbindet sich eine zweite wesentliche Frage: Wie verhält sich die durch den Übersetzungsvorgang angestrebte Vervielfältigung kultureller Standpunkte zur abschließenden Leistung des Zusammenführens? Geht es Flusser dabei tendenziell um eine Einschmelzung unterschiedlicher Sinnhorizonte zu einem einheitlichen Kern - im Sinne Hans-Georg Gadamers - oder um eine Sichtbarmachung heterogener Spuren von Unübersetzbarkeit, wie sie zum Beispiel von Übersetzungstheoretikern wie Lawrence Venuti, der in der Nachfolge dekonstruktivistischen Denkens schreibt, verlangt wird?

Bei den theoretischen Entwicklungen, die in den letzten Jahren um den Begriff der Übersetzung stattgefunden haben, kann man eine gegenseitige Annäherung und ein Ineinandergreifen von translation studies und cultural studies feststellen(1), welche über den Austausch der beiden Begriffe 'Kultur' und 'Übersetzung' zustande gekommen ist: Einerseits eine anthropologische Wende innerhalb der Übersetzungswissenschaften (Bachmann-Medick 1996, Venuti 02000a), die zu einer verstärkten Betonung der pragmatischen Dimension des Übersetzens und der kulturell relevanten, ethisch bedeutsamen Rolle des Übersetzers geführt haben (Venuti 1995 und 1998); andererseits eine zunehmende, oft metaphorische Verwendung des Übersetzungsbegriffs in den Kulturwissenschaften selbst, vor allem in Hinblick auf den Prozess der Identitätsbildung in einem zunehmend multikulturellen Kontext (Bhabha 1994, Venuti 1994, Budick/Iser 1996, Renn 1998, sowie Renn/Straub/Shimada 2002).

Ich möchte mich in meinen Ausführungen vor allem auf diesen letzten Aspekt konzentrieren, auch weil Flussers eigene in den 60er Jahren entstandene Übersetzungstheorie, abgesehen von Anlehnungen an Quines Konzept der radikalen Übersetzung(2) und Wittgensteins Sprachspieltheorie, weitgehend auf linguistische und existenzialistische Erklärungsparameter zurückgeführt werden kann. Dies gilt selbst noch für seine allerletzten Texte.(3) Ganz anders liegt der Fall bei seiner Verwendung eines umfassenden, über das rein Linguistische hinausgehenden Übersetzungsmodells, das ihm nicht nur zur Erklärung identitätskonstituierender und -dekonstruierender Prozesse dient, sondern vor allem wegen seines kulturkritischen Potentials Verwendung findet.(4) Hier liegt wohl die eigentliche Aktualität von Flussers Übersetzungstheorie begründet: die radikalen erkenntnistheoretischen, kultur- und sprachkritischen Implikationen von Übersetzung gesehen und reflektiert zu haben, und dies vor dem Dekonstruktivismus und der erwähnten Proliferation des Übersetzungsbegriffes in kulturwissenschaftlich argumentierenden Diskursen.

In Flussers Ansatz sind das lebenspraktische und erkenntnistheoretische Moment untrennbar miteinander verknüpft: die Praxis der Übersetzung ermöglicht eine Identität zersetzende Kritik, eine Überwindung der eigenen sprachlich-kulturellen Befangenheit und sie gestattet zugleich eine wenn auch nur vorübergehende und immer wieder neu zu leistende Verbindung der verschiedenen auseinanderstrebenden Schichten einer in sich gespaltenen, kulturell mehrfach kodierten Identität. Dieses Moment der radikalen Unabgeschlossenheit aller Übersetzungsleistungen(5), ob sich diese nun auf den Prozess der Identitätsbildung oder den Vorgang mehrsprachigen Schreibens beziehen, ist für Flusser, der dabei auf die Tradition der jüdischen Textexegese zurückgreift, absolut zentral. Aber davon mehr später.

Bei Flusser ist das Moment einer synthetisierenden Zusammenführung auseinanderstrebender Teile aufgrund lebensgeschichtlicher Aspekte bedeutender. Als mehrsprachig handelndes und denkendes Subjekt versteht er sich von Anfang an als in sich entzweit. So schreibt er Mitte der 60er Jahre in Brasilien. "Ich habe eine deutsche und eine tschechische Seite. Zwischen diesen zwei Seiten zu übersetzen, ist in einem gewissen Sinn der Versuch, diese meine innere Dialektik zu überholen und mich zu finden. Ein zweisprachiges Milieu legt dem Bewusstsein eine strukturelle Selbstentfremdung auf, die an Schizophrenie erinnert. Die Übersetzung gewinnt in einem solchen Kontext eine von der Entfremdung befreiende Funktion."(6)

Diese ursprüngliche Zweisprachigkeit, die Flusser hier, in bewusster Überspitzung, als eine unlösbare, an Schizophrenie grenzende Situation charakterisiert, wird insofern als inneres Zerwürfnis dargelegt, als sich in ihr die Erfahrung der Konzentrationslager, in denen seine ganze Familie ausgelöscht wurde, eingeschrieben hat. Flusser hat das Deutsche als inneren Feind erlebt, dem man jedoch, wie bei Paul Celan, aufgrund der eigenen Kreativität ausgeliefert ist. Durch eine konsequente Übersetzung der deutschen Kultur ins Brasilianische - bei Celan hat das Schweigen eine vergleichbare Funktion - wird es möglich, das in sich widersprüchliche Erbe aufzuarbeiten und das durchs Brasilianische wieder belebte Deutsch geläutert neu anzueignen. Aus diesen Gründen wird der Vorgang der Übersetzung als therapeutisch wirkender Ausweg und existentielle Lösung beschrieben.

Der "Resonanzboden"(7) der brasilianischen Sprache stellt in seiner ganzen vielschichtigen und widersprüchlichen Komplexität einerseits ein Schlachtfeld dar, auf dem sich die aus Heimatverlust und Exil entspringenden Konflikte gegenübertreten können, und er ist andererseits ein Spielfeld, auf dem Flusser schreibend sich selbst und sein Verhältnis zur Umwelt umbuchstabieren kann. Die spezifisch brasilianische Stimmung, die dabei zum Zug kommt, läßt sich anhand einer der deutschen Sprache unbekannten sprachlichen Dualität verdeutlichen - der sprachliche Unterschied steht hier zugleich für eine unübersetzbare kulturelle Differenz. Es handelt sich um die beiden portugiesischen Verben jogar und brincar. Im Gegensatz zu jogar ist brincar ein Herumspielen, ein Spiel, bei dem es nicht um Sieg oder Niederlage geht, sondern ums Spielen selbst. Es hat mit dem französischen bricoler, bricolage zu tun, mit basteln und experimentieren, und "setzt eine Spielstrategie voraus, die darauf ausgeht, das Spiel interessant zu gestalten und zu bereichern." Die Stellung des Spielers zum Spiel ist im Falle der zweiten Variante eine grundsätzlich andere, hier nämlich "steht der Spieler nicht im Spiel, sondern dem Spiel gegenüber. Es ist diese Stellung zum Spiel, die den 'Homo ludens' kennzeichnet (...). Sie ist (...) die Grundeinstellung jedes Wissenschaftlers und Künstlers, wahrscheinlich auch jedes echten Philosophen." Dieses Spiel ist ein Spiel mit der Sprache, welches "durch Spielen dem Leben Sinn und dem Spielen Sakralität"(8) verleiht. Der Ort dieses Spiels, das sich selbst zum Zweck hat und dessen Ziel zugleich darin besteht, das Spiel mit neuem Sinn zu bereichern, ist das Feld der Übersetzbarkeit, das heißt das Feld der Freiheit.

Flussers mehrsprachiges Denk- und Schreibprojekt verfolgt deshalb zuerst einmal das Ziel, die eigene bodenlose(9), zwischen Kulturen und Kontinenten hin und her pendelnde Existenz in einer prekären, weil immer wieder verlorenen Einheit vorübergehend zusammenzufassen. Die Fruchtbarmachung des Exils im Spiel der Übersetzung wird bei Flusser erst in einem zweiten Moment bedeutungsvoll und Erkenntnis fundierend. Auch hier ist die Begegnung mit der brasilianischen Kultur, die ihm die Möglichkeit geboten hat, das schon Erlebte in seiner ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit durch Übersetzung neu zu erfahren und dadurch neu anzueignen, das prägende Erlebnis. Die erste schmerzhafte Durchtrennung lebenswichtiger Fasern aufgrund des erzwungenen Exils(10) verwandelt sich dabei in eine schöpferische, Möglichkeiten initiierende Loslösung von kulturellen Bindungen: man ist zwar exiliert, von den eigenen Wurzeln abgeschnitten, bodenlos, zugleich aber den Boden der eigenen Herkunft los. Dieser Zustand geht in einem zweiten Moment in eine neue, zweite Freiheit über, nicht mehr die Freiheit, sich auf Unbekanntes hin zu öffnen, sondern diejenige, sich daran zu binden. Durch Übersetzung.

Nach diesen einführenden Bemerkungen möchte ich nun die in diesem Zusammenhang wichtigen Aspekte von Flussers Übersetzungstheorie kurz erläutern.

1) Die existentielle Grunderfahrung des Migranten und Exilierten ist die Bodenlosigkeit, das heißt der Verlust der früheren Bindungen. Ausweg aus dieser Situation ist das Spiel mit der Übersetzung. Emigranten, ob sie es wollen oder nicht, führen ein Leben 'in der Übersetzung'. Die vielsprachige brasilianische Kultur hat dabei für Flusser Modellcharakter. Er findet die eigene Bodenlosigkeit spiegelbildlich im brasilianischen Menschen wieder, dem es nie gelungen ist, Fuß zu fassen, "weil er wie ein Staubkorn in verpesteter Luft schwebt, weil er nicht von historischer, sondern einer Art Brownscher Bewegung erfasst ist, kurz, weil er bodenlos ist."(11) Flusser versteht das Projekt einer neuen brasilianischen Gesellschaft vor allem als Fusion verschiedener sprachlicher Einflüsse, als Arbeit an und mit der Sprache. Brasilien erscheint ihm als ein kulturelles Gefüge, "in dem Übersetzungsvorgänge zwischen einer Vielzahl heterogener Sprachen mit dem Ziel stattfinden, eine zusammenhängende, die Individualität des Landes artikulierende Textur zu erstellen: die Herausforderung schlechthin. Brasilien ist ein Einwanderungsland auf der Suche nach einer Integration aller seiner Einflüsse. In diesem Sinne gibt es eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen Brasilien und der zweisprachigen Situation, die ich als die meine charakterisiert habe: für ein Land wie Brasilien und diejenigen, deren existentielle Lage durch Zweisprachigkeit geprägt ist, wird das Übersetzen nicht freiwillig gewählt. Es ist eine aufgezwungene Bedingung, der man sich stellen muss, mit der steten Gefahr der Selbst-Entfremdung und Desintegration der Persönlichkeit."(12)

Flusser geht von der eigenen existentiellen Befindlichkeit und seiner mehrsprachigen Schreibpraxis aus, die sich gegenseitig hervorbringen, und projiziert diese dann auf die brasilianische Situation der 60er Jahre, die ebenfalls Produkt eines fortlaufenden Übersetzungsprozesses ist. Das Kombinationsspiel mit den Sprachen ist ein Spiel mit sich selbst, dem eigenen mehrsprachigen Ursprung und den durchs Exil hinzugekommenen neuen Sprachwelten. Brasilien, so Flusser, ist ein "Sprachlaboratorium", ein Ort, "an dem sich verschiedene Sprachen sozusagen gegenseitig aneinander prüfen. Und zweitens ist es ein Ort, an dem jeder Schreibende bewußt an der Sprache" und, möchte man hier hinzufügen, auch an sich selbst "bastelt."(13)

2) Die Übersetzung ist nicht nur ein kritischer mehrsprachiger Dialog mit den andern und mit sich selbst zum Zwecke der Integration disparater auseinanderstrebender Momente, sie ist für Flusser vor allem philosophische Sprachkritik im Sinne Wittgensteins, ein kulturkritisches nomadisierendes Sprachspiel, dessen Grundregel verlangt, dass das sprachliche und kulturell Einförmige auseinandergefaltet wird und auf seine Mehrdeutigkeit hin zu untersuchen ist. In einem 1964 gehaltenen Vorlesungszyklus, welcher sich mit der Unübersetzbarkeit von philosophischen Schlüsselbegriffen unterschiedlicher Sprachen beschäftigt, gelangt Flusser(14) zu einer kulturkritischen Feststellung, die dieser Regel Rechnung trägt. Flussers Übersetzungsspiel versucht, stets das Monokulturelle in einen pluralistischen Horizont zu überführen: Die westliche Zivilisation besitzt unterschiedliche Wahrheitsbegriffe. "Diese Begriffe sind nicht aufeinander reduzierbar. (...) Die Unfähigkeit unserer Zivilisation, eine einheitliche Wahrheitskonzeption zu formulieren, beweist deren Flexibilität und ist daher eine Hoffnung für ihre andauernde Offenheit." Die Erfahrung der Unübersetzbarkeit, von der hier die Rede ist, verweist auf die Unmöglichkeit einer befriedigenden Integration aller Sprachen und die unhintergehbare Irreduzibilität unterschiedlicher Sprach-Kulturen.

Eine weitere Dimension der kulturkritischen Seite von Übertragungen fängt Flusser anhand seiner Gleichsetzung des phänomenologischen Begriffs der epoché mit dem Vorgang der Übersetzung ein. Beide setzten Bekanntes in Klammern und versuchen eine Fremdstellung des kulturell gebundenen Standpunktes. Das Ziel ist ein erkenntniskritisches: Durch sukzessives Übersetzen soll der Gegenstand in all seinen möglichen Abschattungen erfahren werden. Jede Sprache repräsentiert dabei eine einmalige unersetzbare Perspektive. Ziel des Übersetzungsspiels ist daher Kritik durch Vervielfältigung.

3) Flusser, der über Jahrzehnte hinweg fast jeden seiner Texte, mindestens in eine andere Sprache umgeschrieben, viele sogar in zwei oder drei weitere übersetzt hat, versteht sein mehrsprachiges Denk- und Schreibprojekt als das sukzessive Durchlaufen verschiedener sprachlich kodierter Standpunkte. In einer 1977 gehaltenen, auf Deutsch und Französisch verfassten Vorlesung zur Kommunikologie an der Universität Marseille-Luminy entwickelt er aus diesem komplexen mehrsprachigen Übersetzungsspiel ein kulturkritisches Erkenntnismodell, das bewusst auf jeden privilegierten Standpunkt verzichtet. Wenn man eine Sprache in eine andere überträgt, kann man die erste als Objekt- und die zweite als Metasprache betrachten. Flusser bezeichnet die Metasprache, das heißt, den (kulturellen) Standpunkt, von dem aus die Übersetzungsentscheidungen getroffen werden, einen "imperialistische(n) Metacode."(15)

Dieses Sprachspiel ist jedoch jederzeit umkehrbar und kann endlos weitergeführt werden, was zur Folge hat, dass sich keine eindeutigen Hierarchien herausbilden und es keine Sprache gibt, auf die alle anderen zurückgeführt werden könnten. "Wenn ich aus dem Englischen ins Französische übersetze, so handelt es sich um eine völlig andere Entscheidung, als wenn ich aus dem Französischen ins Englische übersetze. Im ersten Fall ist das Französische der Metacode des Englischen, und das Englische ist einer der Objektcodes des französischen Codes. Im zweiten Fall ist das Verhältnis der beiden Codes umgekehrt. Im ersten Fall entscheide ich mich in Funktion des französischen, im zweiten Fall in Funktion des englischen Codes. (...) Bei der Rückübersetzung dreht sich das ursprüngliche Verhältnis der beiden Codes um; der Objektcode wird nun zum Metacode. Mit anderen Worten: Nachdem der französische Code einen Teil der Kompetenz des englischen verschluckt hat, wird er seinerseits vom englischen verschluckt, und zwar sozusagen mit dem englischen im Bauch. (...) Und dabei bereichern die beiden Codes einander immer mehr, ohne dabei einander näher zu rücken."(16) Durch die systematische, beliebig fortsetzbare und jederzeit umkehrbare Vermehrung der Standpunkte wird die Idee eines übergeordneten Standpunktes hinfällig und definitiv verabschiedet. Die radikalen Folgen, die eine solche Konzeption für das Verhältnis zwischen den Kulturen hat, liegen auf der Hand.

4) Die Vervielfältigung der Standpunkte soll nicht ins Uferlose führen. Ganz im Gegenteil: Sie soll der Vieldeutigkeit eines Gegenstandes durch Multiperspektivismus gerecht werden und zu einer abschließenden Synthese überleiten. Was aber versteht Flusser mit dem Begriff der Synthese? Obwohl dieses Wort in sehr unterschiedlichen Kontexten ohne weitere Erklärung Verwendung findet, wäre es falsch, darunter ein Differenzen ausgleichendes Einschmelzen unterschiedlicher Standpunkte zu vermuten. Zusammenfügung bedeutet ihm nicht Vereinheitlichung. Flusser spricht von verschiedenen Positionen, die zu einem Netz verknotet werden, von einem komplexen vielgliedrigen Brückensystem oder von einem Palimpsest, wenn es um den mehrsprachigen Schreibprozess geht. Auch wenn am Ende aus pragmatischen Gründen ein einsprachiger Text entsteht, so sollen doch die früheren Varianten durchschimmern, müssen die verschiedenen sprachlichen Schichten und der langwierige Prozess des Übersetzens- und Rückübersetzens vom Leser stets mitgedacht werden. Das Echo aller anderen zurückgelassenen Worte klingt im Schlusswort mit. Flusser geht es somit immer um eine Pluralität in der Einheit. Das Übersetzungsspiel ist prinzipiell unabschließbar und erneuert sich stets aus sich selbst. Die erzielte Synthese muss gezwungenermaßen scheitern, weil Spuren der Unübersetzbarkeit in jedem fertigen Text verbleiben und vor allem damit das Spiel selbst weitergehen kann. Das phänomenologische, mehrsprachige Umtanzen, Umkreisen des Gegenstandes ist in Flussers Vision nicht nur mit dem mehrsprachigen Schreiben, sondern auch mit der jüdischen Denkform des Pilpul verwandt.

Ausgangspunkt von Flussers Überlegungen ist dabei der nicht-lineare Seitenaufbau des babylonischen Talmuds. "In der Seitenmitte steht ein Wort, oder einige wenige Worte, und um diesen Seitenkern drehen sich konzentrisch einige Textkreise. (...) Die Kreise kommentieren nicht nur den Kern, sondern auch einander. Das nennt man Pilpul."(17) Die Ringe, die sich wie bei einem Baum im Laufe der Zeit um den zentralen Kern bilden, sind von verschiedenen Autoren geschrieben und mehrsprachig verfasst worden. Ein Textgestrüpp, "ein nicht abgeschlossenes und nie abschließbares Kreisen". Die Kommentare "umzingeln" den Seitenkern und sind zugleich "gegeneinander gerichtet." Es handelt sich dabei um ein "Feld" von kreisenden Standpunkten, die sich zugleich anziehen und abstoßen. Im Pilpul geht es darum, die Sachen "von so vielen Standpunkten wie möglich anzugehen und letztere dabei in gegenseitigen Konflikt zu bringen."(18) Der Gegenstand ist von einem "unerschöpflichen Schwarm von Standpunkten" umgeben, der "nur dann völlig erkannt würde, wenn alle Standpunkte erschöpft wären."(19) Die Wahrheit ist ein Grenzwert, den man zwar nie erreicht, der aber konkreter wird, je mehr Standpunkte man durchlaufen hat. Das endlose Ballett des Talmudisten um den signifikanten Kern herum hat Ähnlichkeiten mit Husserls phänomenologischer Methode, mit der pirschenden Geste des Fotografen, aber auch mit Flussers eigenem lebenslangen Projekt eines mehrsprachigen Denkens und Schreibens zwischen unterschiedlichen Kulturen und Kontinenten.

Zum Schluss möchte ich zwei spezifische Momente von Flussers Übersetzungsmodell aufgreifen, um zu zeigen, wie dieses im Lichte der gegenwärtigen Diskussion an neuer Bedeutung gewinnen und Anlass zu weiterführenden Überlegungen sein könnte. Einerseits geht es um die Arbeit des Übersetzenden selbst, d.h. um die Frage, ob und wie Sprach- und Kulturvergleich im Erkenntnisprozess fruchtbar gemacht werden können. Andererseits wäre zu fragen, inwiefern Flussers in den 70er Jahren ausgearbeitete Vision einer multikulturellen brasilianischen Gesellschaft für unsere postmoderne und globale Situation relevant sein könnte.

Flusser betont die Wichtigkeit kultureller Vergleiche zur Erfassung der Eigenart einer spezifischen Kultur und den daraus zu entwickelnden Dialog einer unhierarchischen Pluralität nicht aufeinander reduzierbarer Standpunkte. In einem 1996 erschienenen Band zum Thema der Übersetzbarkeit der Kulturen kommt Wolfgang Iser, der wie Flusser den Begriff der Übersetzung weitgehend im Sinne eines heuristischen Modells verwendet, zu ähnlichen Folgerungen, wenn auch hier die Interpretation, im Gegensatz zu Flusser, vom Sprachlichen aufs Kulturelle erweitert worden ist. "(...) cultures have to be juxtaposed in order to ascertain what makes them specific? Should that be the case, then otherness is a means of profiling a culture, which implies that the latter does not exist as a self-sufficient entity."(20) Iser spricht von "modes of transcultural relations" und benützt dazu den Begriff der "mutuality", den er folgendermaßen umschreibt: "Mutuality (...) indicates that there is neither a transcendental stance nor a third dimension that would allow us to conceptualize cross-cultural interrelationships. (...) Stances have to be adopted and suspended (...), as there is no grandstand view from which to define interchange between cultures. (...) There remains a final remark: although we embarked upon the road toward a cross-cultural discourse, we never finally reached our destination."(21) Wie schon bei Flusser sind auch hier die Absage an einen privilegierten Standpunkt und die Vorstellung der Unabschließbarkeit des Übersetzungsvorganges die zwei Seiten desselben Prozesses.

Der zweite Punkt betrifft Flussers Modell einer zukünftigen vielsprachigen brasilianischen Kultur, welche er anhand multipler Übersetzungsleistungen zu erläutern versucht hatte. Dem gleichen, kulturell erweiterten Ansatz begegnet man in einem 1998 erschienen Essay von Joachim Renn, der von der Vorstellung einer globalen Übersetzungskultur ausgeht und das Übersetzungsparadigma als Grundeigenschaft moderner kultureller Identität überhaupt bezeichnet. Diese betrifft nicht nur marginale Kulturformen, "endogene Multikulturalisierung", postkoloniale Subjekte, Flüchtlinge, Ausgewanderte oder Migranten. Sie ist zur postmodernen Lebensform schlechthin avanciert. "Moderne kulturelle Identität" ist "auf unterschiedlichen Ebenen zur permanenten Übersetzungspraxis verurteilt. (...) Die Koexistenz verschiedener Integrationsformen erzwingt (...) permanente Übersetzungsleistungen (...). Übersetzungskompetenz wird zu einem Charakteristikum modernen individueller Identität." (22)

Flussers Beschränkung seines Interpretationsansatzes auf das Sprachliche und das Fehlen einer Weiterentwicklung seines theoretischen Verständnisses zum Phänomen der Übersetzung sind zu beklagen. Flusser hat sich in den 70er und vor allem 80er Jahren der Ausarbeitung einer Kommunikationswissenschaft und Medientheorie gewidmet, in denen die frühe Übersetzungstheorie als wesentliches Interpretationsmodell auf struktureller Ebene in vielfacher Verkleidung weiterwirkt. Seine theoretische Beschäftigung mit der Übersetzung hat er jedoch weitgehend unterbrochen, was unter anderem dazu geführt hat, dass er das Potential des eigenen theoretischen Ansatzes nicht konsequent ausgeschöpft hat. Aufgabe einer mit Flusser über Flusser hinaus denkenden kulturwissenschaftlichen Übersetzungstheorie wäre demnach, die unausgeschöpfte Radikalität von Flussers Ansatz für die gegenwärtige Diskussion fruchtbar zu machen.

© Rainer Guldin (Università della Svizzera Italiana, Lugano, Schweiz)


ANMERKUNGEN

(1) Vgl. R. Guldin, The (Un)translatability of Cultures, in: Studies in Communication Sciences 2, 2003, Lugano, S. 109-134.

(2) Der damit verbundene Begriff der Unübersetzbarkeit ist in einem radikaleren Sinne im Rahmen dekonstruktivistisch argumentierender Übersetzungstheorien wieder aufgenommen worden.

(3) Vgl. dazu zum Beispiel V. Flusser, Das Heilige im Abgrund zwischen den Wörtern, in: Basler Zeitung 3.10.91.

(4) Das Modell der Übersetzung spielt im Werk Flussers eine zentrale Rolle und dies bis in seine späte Medientheorie hinein. Dort erklärt es nicht nur den Übergang von einem Medium zu anderen, sondern auch die mediengeschichtliche Gesamtentwicklung.

(5) Lawrence Venuti nennt diesen unübersetzbaren Sinnüberschuss den 'remainder', das, was sich nicht übersetzen lässt, sondern zurückbleibt und als Katalysator interkultureller Erkenntnis wirkt (vgl. L. Venuti, The Translation Studies Reader, London und New York, 2000, S. 485).

(6) V. Flusser, Probleme mit der Übersetzung, in: Das Spiel mit der Übersetzung. Figuren der Mehrsprachigkeit im Werk Vilém Flussers, hg. von R. Guldin, Tübingen und Basel 2004 (in Vorbereitung).

(7) V. Flusser, Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen. Für eine Phänomenologie der Unterentwicklung, Mannheim 1994, S. 224.

(8) Ebd. S. 164.

(9) Der Begriff der Bodenlosigkeit ist absolut zentral für Flussers Denken. Ganz sicher spielt dabei die Philosophie Heideggers, aber auch das Blut und Boden Denken des Nazismus, gerade in ihrer Funktion zu überwindender Modelle eine entscheidende Rolle.

(10) Wie James Clifford festhält, ist es an der Zeit, die Einseitigkeit des postkolonialen Diskurses, mit seiner Hervorhebung eines inzwischen präskriptiv gewordenen nicht-essentialistischen Standpunktes zu hinterfragen. Läuft dieser doch das Risiko, die Komplexität selbst wieder auf eine einfache Dichotomie zu reduzieren, diejenige von Hybridität und Tradition. "(...) isn't it time to sidestep the reverse binary position of a prescriptive anti-essentialism? Struggles for integrity and power within and against globalizing systems need to deploy both tradition and modernity, authenticity and hybridity - in complex counterpoints" (J. Clifford, Routes. Travel and Translation in the Late Twentieth Century, London 1997, S. 178).

(11) Flusser, Brasilien S. 89.

(12) Siehe Flusser, Probleme mit der Übersetzung.

(13) Flusser, Brasilien S. 237.

(14) Es handelt sich dabei um den noch unveröffentlichten Text Conceitos fundamentais do pensamento occidental.

(15) V. Flusser, Kommunikologie , hg. von St. Bollmann und E. Flusser, Mannheim 1996, S. 342.

(16) Ebd. S. 341f.

(17) V. Flusser, Jude sein. Essays, Briefe, Fiktionen, Mannheim 1995, S. 144.

(18) Ebd. S. 149-150.

(19) Ebd. S. 150.

(20) S. Budick und W. Iser (Hrsg.), The Translatability of Cultures. Figurations of the Space Between, Stanford 1996, S. 299.

(21) Ebd. 301-302.

(22) Vgl. J. Renn, Übersetzungskultur. Zur Grenzüberschreitung durch Übersetzung, als ein Charakteristikum der Moderne, in: Sociologia Internationalis 36, 1998, S. 141-171, hier S. 165-6. In neueren Publikationen wird Übersetzung auch als Handlungskategorie und Leitvorstellung für die soziologische Forschung eingesetzt (vgl. J. Renn, J. Straub und S. Shimada (Hrsg.), Übersetzung als Medium des Kulturverstehens und sozialer Integration, Frankfurt am Main 2002.)


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1.5. Vom Nutzen kultureller Differenzen (Vilém Flusser)

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Rainer Guldin (Università della Svizzera Italiana, Lugano, Schweiz): Das Übersetzungsspiel: Zur kulturkritischen Dimension von Vilém Flussers mehrsprachigem Denkstil. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/01_5/guldin15.htm

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