Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. August 2004
 

1.6. The Unifying Method of the Humanities, Social Sciences and Natural Sciences: The Method of Transdisciplinarity
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Josephine Papst (Graz)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Zeit und Musik - Musik und Zeit

Florian Geßler (Komponist und Musiktheoretiker, Universität für Musik und darstellende Kunst, Graz, Österreich)

 

Im Folgenden möchte ich kein vollständiges Gedankengebäude, kein wissenschaftliches oder philosophisches Konstrukt, sondern nur einige Gedanken und Überlegungen, die mich als Komponisten bei meiner künstlerischen Arbeit immer wieder aufs Neue beschäftigen, entfalten: Sie sollen einfach zum Erforschen der eigenen Wahrnehmung anregen. Manche davon erscheinen vielleicht banal, weil sie im Alltag auftreten, auch jedem bekannt sind, doch bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass nichts banal ist, was bei der Wahrnehmung von Musik geschieht; auch hier gilt scheinbar: Es gibt - wenn überhaupt - keine einfachen Antworten.

Während in I. ein mehr oder weniger zusammenhängender Fragenkomplex verfolgt wird, bringt II. weitere skizzenhaft formulierte Anmerkungen und Fragen zu Tempo und Wiederholung, die sehr eng mit Zeitempfinden verknüpft scheinen.

 

I.

1.

Die Uhr, d.h. vielleicht besser gesagt unsere gebräuchliche "Zeiteinteilung", ist eine Komposition. Wir "versenken" Bojen, wir markieren Zeit-Abschnitte in angeblich gleichen Abständen. Und schon die Begriffe, die wir in diesem Zusammenhang verwenden, verraten uns, dass wir, wenn wir über Zeit sprechen, sehr stark vom räumlichen Denken, von unserer räumlichen Anschauung ausgehen. Gleichzeitig findet eine Projektion in die Zukunft statt: Ein genau bemessener Zeitraum wird in Richtung Zukunft (also vorwärts![?]) in Richtung eines gedachten Fluchtpunktes in der Unendlichkeit vervielfacht und aneinander "gesetzt". Dieser Sachverhalt wird aber völlig konterkariert durch die eigene Wahrnehmung. Wie unterschiedlich lang können scheinbar gleich lange Zeiträume schon im alltäglichen Leben sein!

Der Begriff der "absoluten Zeit" wurde bereits aus einer ganz anderen Richtung angegriffen. Einsteins spezielle Relativitätstheorie von 1905 hat, salopp gesprochen, der physikalischen Zeit ihre Absolutheit unter dem Aspekt der ewigen Gültigkeit genommen. Doch wie jede physikalische Theorie ist auch die spezielle Relativitätstheorie auch nur ein mögliches Erklärungs modell. Das spielt jedoch für unsere Überlegungen keine besondere Rolle, denn der physikalische Zeitbegriff hat mit dem oben intendierten Zeitbegriff, vielleicht am besten als "subjektive Erlebniszeit" umschrieben, nur sekundär etwas zu tun. Dementsprechend sollten auch gedankliche Vermischungen der beiden Bereiche und der daraus resultierenden Vagheiten genau beobachtet werden.

Nun denn; die Uhr bzw. unsere Zeitvorstellung ist nicht falsch, aber eben immer nur ein gedankliches Modell, oder mit anderen Worten: Eine Komposition.

2.

In meiner eigenen kompositorischen Arbeit fanden diese Überlegungen relativ konkret ihren Niederschlag in Stücken, die eine ganz bestimmte formale Struktur, quasi eine Art Versuchsanordnung in dieser Hinsicht, aufweisen. Ein formal-struktureller Ansatzpunkt für die Anlage dieser Stücke war sozusagen die Gegenüberstellung von physikalischer (objektiver) und musikalischer (subjektiver) Zeit. Zum Beispiel habe ich Abschnitte von gleicher objektiver Dauer - vereinfacht gesprochen - mit unterschiedlichst strukturiertem Inhalt gefüllt, wobei diese Beschreibung, das Anfüllen von Zeiträumen mit bestimmten Inhalten, irgendwie eine beinahe unerlaubte metaphorische Vermischung darstellt, vielleicht eine in die Irre führende Umschreibung eines anderen Phänomens. Doch habe ich der Anschaulichkeit wegen in diesem Zusammenhang auf diese Formulierung zurückgegriffen. Näheres dazu folgt.

Was beim Hören dieser oder auch jeglicher Musik vor sich geht, hat jeder, der jemals Musik gehört hat, der einem Stück zugehört hat, mehr oder weniger bewusst schon erlebt. Je nachdem wie die musikalisch-klangliche Struktur beschaffen ist, vergeht die Zeit schneller oder langsamer. Genauer gesagt; der durchlebte und erlebte Zeitraum wird kürzer oder länger empfunden. Auf diesen Gesichtspunkt hin habe ich die Klangbeispiele ausgewählt bzw. bearbeitet.

Spinnen wir an diesem Faden noch ein bisschen weiter und machen ein Gedankenexperiment: Die Veränderung einer musikalischen Struktur zieht eine Veränderung der Zeitwahrnehmung nach sich. Demnach bewirkt eine beständige Strukturänderung, wie sie beispielsweise in einer Klaviersonate von Beethoven oder beliebigen anderen Werken zu finden ist, eine beständige Zeitänderung, oder besser, eine beständige Veränderung der Zeitwahrnehmung! Im Übrigen verhindern auch durchgehende Pulsationen dieses Phänomen nicht, sie vermitteln uns nur indirekt - nämlich über den Umweg unserer Abstraktionsfähigkeit, unseres Denkens über Musik - den Eindruck eines gleichmäßigen Vergehens und Fließens der Zeit.

3.

Ein weiterer Aspekt betrifft die Tonalität. Ohne jetzt zu speziell werden zu wollen sei tonale Musik in diesem Zusammenhang grob definiert als Musik beschrieben, die auf harmonischen Verläufen und Hierarchien (Kadenzharmonik) und auf unterschiedlichen Skalen oder Tonleitern (Modale Harmonik) basiert. Dies trifft auf die europäische Kunstmusik bis Anfang des 20. Jahrhunderts zu.

Wie Matthias Spahlinger(1) richtig bemerkt, ist Tonalität zeitlich prädisponiert. Tonalität trägt schon eine Form von Zeitlichkeit in sich. Es gibt in der oben beschriebenen tonalen Musik immer einen letzten und einen vorletzten Ton, d.h. es existiert immer ein "Ton"/Klang (zumeist der VII. Ton einer Skala), welcher eine zeitliche Abfolge "in sich trägt", denn darauf folgt die Finalis bzw. der Schlußklang. In der Musiktheorie wird dieser als Tonika bezeichnet. Die Tonalität - speziell in Form der Kadenzharmonik, also in der Musik, die circa zwischen 1600 und 1900 entstanden ist - ist ein Netz oder eine Metastruktur, welche die Strukturen und strukturellen Vorgänge in ihrer Zeitlichkeit quasi verzerrt, wobei mit diesem Phänomen selbstverständlich komponiert wurde. Aus diesem Grund ist die Situation seit dem 20. Jh. mit dem Wegfall der Tonalität für die Komponisten eine grundlegend andere als jemals zuvor.

4.

Um den Verzerrungen, die die Tonalität entstehen lässt, zu entgehen und eine möglichst klare und einfache experimentelle Versuchsanordnung zu benutzen, sind die fünf Klangbeispiele allesamt nicht tonal. Und eine weitere gemeinsame Eigenschaft weisen sie auf: Sie sind jeweils gleich lang.

Wenn wir nun das Experiment an uns selbst durchführen und beobachten, wie wir das Vergehen der Zeit während der Klangbeispiele empfinden, sind natürlich unterschiedliche Wahrnehmungen schon vorstrukturiert, und zwar aufgrund unserer persönlichen Faktoren. Ein Musiker wird anders hören, wahrnehmen oder empfinden als ein Nichtmusiker ... Des weiteren beeinflussen uns selbstredend unsere ganz persönlichen Vorlieben, Prägungen, Erfahrungen etc., durch sie werden unsere Auf- und Unaufmerksamkeiten ebenso gelenkt, wie durch die Tatsache, dass wir uns selbst beobachten. Nun lade ich Sie herzlich ein, ihr Zeitempfinden anhand der nun folgenden Hörbeispiele zu erforschen!

5.

Hörbeispiele 1-5:

1. Arnold Schönberg (1874-1951): Fünf Orchesterstücke Op.16/1 (1909)
2. Beat Furrer (*1954): Aria (1998-99)
3. Morton Feldman (1926-1987): Piano and String Quartet (1985)
4. Henrik Sande (*1968): 228 Tänze für Blockflöte und Akkordeon (1998)
5. Weißes Rauschen

6.

Das erste Beispiel war der Anfang des ersten Orchesterstückes aus den Fünf Orchesterstücken Op.16 von Arnold Schönberg. Das Stück ist aus der sogenannten freien atonalen Phase (d.h. noch vor der Zwölftönigkeit) und trägt deutliche Kennzeichen, dass sich die Musik des Expressionismus aus der Spätromantik heraus entwickelt hat. Motivische und gestische Momente sind mit kräftigen instrumentatorischen Kontrasten gekoppelt bzw. kommen durch diese zustande. Die Dauer des ganzen Satzes beträgt circa 2 ½ Minuten.

Das zweite Beispiel stammt von dem seit Mitte der siebziger Jahre in Wien beheimateten Schweizer Komponisten Beat Furrer, mit dessen Oper Begehren die Kulturhauptstadt Graz 2003 eröffnet wurde. Aria dauert insgesamt 14 Minuten.

Der amerikanische Komponist Morton Feldman wurde vor allem durch die langen Stücke, die er ab den achtziger Jahren schrieb, berühmt. So dauert z.B. sein zweites Streichquartett je nach Aufführung zwischen fünf und sechs Stunden. Sein sparsamer Umgang mit dem Klangmaterial, die allmählichen Veränderungen über lange Zeit und die extrem leise Dynamik sind die Charakteristika der Werke dieser Zeit. Piano and String Quartet dauert rund 80 Minuten.

Musikalische Skulpturen aus kleinsten Bausteinen (jeder Tanz dauert ca. 4 Sekunden) lässt der norwegische Komponist Henrik Sande entstehen. Auch hier wieder, aber doch völlig anders als bei Feldman, ein minimalistischer Umgang mit dem Klangmaterial. 20 Minuten dauert eine Aufführung der 228 Tänze für Blockflöte und Akkordeon.

Im zuletzt gehörten, elektronisch erzeugten Weißen Rauschen ist jegliche Musik, die es jemals gab und in Zukunft noch geben wird, gleichzeitig enthalten und nicht enthalten. Alle für uns wahrnehmbaren Frequenzen erklingen gleichzeitig. Das Material, aus dem die Musik besteht, ist - wenn man so will - immer ein Ausschnitt aus diesem wasserfallartigen Tosen; vorausgesetzt man nimmt Klang oder Nichtklang als Grundlage der Musik an. - Alle Hörbeispiele sind 40 Sekunden lang.

7.

Zum Vergleich nun doch noch ein tonales Klangbeispiel, bei dem wir einer weiteren Frage nachgehen können. Was geschieht in "derselben" Zeit (= bei gleicher Dauer) in tonaler Musik? Der erste Formteil, die sogenannte Exposition, des ersten Satzes von Mozarts berühmter Klaviersonate C-dur, KV 545/1, Sonata Facile, dauert in der Einspielung des kanadischen Pianisten Glenn Gould ziemlich genau 40 Sekunden; und so kam die Entscheidung über die Länge der nicht tonalen Hörbeispiele zustande, um dann vergleichen zu können.

Hörbeispiel 6: W. A. Mozart: Klaviersonate C-dur, KV 545/1 (erste 40 Sekunden)

 

II.

1.

Augenscheinlich oder wohl treffender ohrenscheinlich hängt das Zeitempfinden auch mit der Geschwindigkeit, in der die musikalischen Ereignisse stattfinden, mit dem Tempo zusammen. Wieviel Zeit braucht ein Klang, um als Phänomen wahrgenommen zu werden? Ein extrem hohes und durch die hohe Lage automatisch sehr "trockenes" Pizzikato in den Violinen braucht viel weniger Zeit, als tiefe Töne im Kontrabass, die circa erst nach 1 Sekunde (!) klingen, d.h. wahrgenommen werden.

Das hat wiederum zur Folge, dass, wenn die (nennen wir sie der Einfachheit halber einmal) Eigenzeit der Klänge unterschritten wird - d.h. wenn wir z.B. durch Beschleunigung des Tempos ein vormaliges Nacheinander der Klangphänomene in ein Übereinander verwandeln -, wir keine Beschleunigung eines Tempos mehr hören, sondern vielmehr eine Verdichtung der Struktur.

2.

Was geschieht nun, wenn wir eine musikalische Struktur mehrmals hintereinander hören. Kommt uns die Wiederholung länger oder kürzer vor als das erste Erscheinen? Ich denke, dass dieses Phänomen auch mit der Größe, hier gemeint als zeitliche Ausdehnung, der wiederholten Einheit zusammenhängt. Hören wir eine längere Passage, so werden wir wahrscheinlich beim wiederholten Hören etwas genauer hinhören, insbesondere auf die einzelne Passage. Handelt es sich dagegen um einen sehr kurzen Teil, so wird die Aufmerksamkeit zumeist eher auf eine durch die Wiederholungen entstehende, wie auch immer beschaffene "Fläche", bzw. deren Fortbestehen oder Abbrechen gelenkt, und möglicherweise nicht auf die einzelnen Bausteine. Systematische Grenzen in den Umfängen hier ausmachen zu wollen, scheint gewissermaßen aussichtslos, da hier sowohl die Beschaffenheit der musikalischen Struktur als auch eine Vielzahl der individuellen Eigenschaften des hörenden Subjekts, wie Hörerfahrung, die Gedächtnisfähigkeit etc., eine gewichtige Rolle spielen.

3.

Eine weitere Frage schließt sich an: Wie viele Wiederholungen verträgt oder benötigt ein Klang bzw. wie verändert sich dabei seine Wirkung? Denn manche Stücke glücken erst durch die unmittelbaren Wiederholungen von gerade gehörten Mustern, würden ohne sie "zusammenbrechen". Ich denke da an viele Stücke von Claude Debussy, aber auch an Werke von Anton Bruckner. Ebenso das Gegenteil kann der Fall sein, nämlich dass diese Form der Wiederholung strukturell nicht nötig ist. So finden sich bei manchen Debussy-Epigonen ganz ähnlich gehaltene Wiederholungsmuster, die aber, wie man dann erkennt bzw. hört, wenn sie weggelassen werden, ganz offensichtlich keine wirkliche formale Funktion haben. Wobei ich diesen Vorgang ursprünglich neutraler beschreiben wollte.

Bei Morton Feldman gibt es in den Kompositionen, die auf einer bestimmten Art von Mustern oder patterns basieren, wie z.B. triadic memories, unmittelbare Wiederholungen, deren Anzahl sich - im Falle dieses Klavierstücks - zwischen null, dem einmaligen Erklingen des Patterns, und zehn bewegt; unzählig sind die Wiederholungen mit eingebauten Variationen. Hier stellt sich die Frage: Welcher Klang wie oft und warum nicht öfter oder weniger oft wiederholt wird? Müssen klanglich komplexer zusammengesetzte Muster öfter gespielt werden? Zumindest bei Feldman hängt diese Frage auch eng mit dem Gedächtnis zusammen: Was verändert sich, wenn sich bei der Wiederholung "nichts" verändert?

4.

Es existiert keine Musik ohne Wiederholung. Sobald sich ein zweites Klangereignis zu einem vorhergehenden dazu gesellt, haben wir eine Form von Wiederholung. Aber auch ohne diese etwas sophistisch anmutende Argumentation kommen wir auch bei einem nicht derart allgemein gehaltenen Wiederholungsbegriff zum selben Ergebnis. Immer wieder im Laufe der Musikgeschichte wurden Versuche unternommen, eine "wiederholungslose" Musik zu schreiben; alle scheiterten bis zu einem gewissen Grad. Wiederholung schafft Zusammenhang und damit Form.

Wiederholung ist nötig um zu musikalischer Form zu gelangen, wobei in der Musik der Gegenwart höchst unterschiedliche Zugänge zu noch unterschiedlicheren Ergebnissen führen. Man vergleiche nur die Werke der Komponisten Morton Feldman, Beat Furrer und Bernhard Lang. (Letzterer machte übrigens die von ihm entwickelte loop-Technik zur Grundlage seines neuen Musiktheaterwerkes, das bezeichnenderweise Das Theater der Wiederholungen heißt. Ein Vergleich mit dem Theater des Absurden, das von den Wiederholungen lebt, wird hier trotz des interessanten Bezugspunktes nicht dargestellt.

5.

Was passiert, wenn wir ein schon bekanntes Stück hören? Was passiert mit dem Zeitempfinden? Wir warten vielleicht oder ziemlich sicher auf ganz bestimmte Stellen und das wirkt sich natürlich auf das Zeitempfinden aus. Ähnlich wie die oben in Bezug auf die direkte Wiederholung ausgeführten Gedanken. Sicherlich - und da kommen wir in einen äußerst subjektiven Bereich - hat es auch einen Einfluss, ob uns ein Stück gefällt oder nicht...

6.

Eine anekdotisch überlieferte Geschichte über den rumänischen Dirigenten Sergiu Celibidache wirft noch ein anderes Licht auf den Fragenkomplex Wiederholung: Celibidache, der es Zeit seines Lebens ablehnte, Musikstücke aufzunehmen, und zwar weil die Musik nur in dem einen Moment im Konzertsaal existiere und auf den Tonträgern - und seien sie auch noch so hoch entwickelt - nur der Klang gespeichert sei. Celibidache hatte nach einem Konzert, in dem eine Brucknersinfonie aufgeführt wurde, eine äußerst lautstarke Auseinandersetzung mit einem Tonmeister der Rundfunkanstalt. Aufnahmen für Radiosendungen mussten selbstverständlich von Celibidache persönlich akzeptiert werden. Weil im "Da Capo"-Teil des Scherzos, d.h. in der Wiederholung des Kopfteiles nach dem "in der Mitte" stehenden Trio den Blechbläsern einige gravierende Fehler unterlaufen waren, machte der unbedarfte Aufnahmeleiter den Vorschlag, man könne doch für die Übertragung am nächsten Tag die geglückte erste Version des ersten Scherzoteils - also das erstmalige Erklingen - einfach noch einmal "hintendran" montieren. Daraufhin explodierte Celibidache förmlich und wetterte, dass das vollkommen unmöglich sei, denn die Musiker hätten ja die Wiederholung im Bewusstsein, dass das ja schon mal erklungen sei, selbstverständlich anders gespielt.

7.

Wir gewöhnen uns beim Hören an die Ereignisdichte von Stücken. In meinem eigenen Werk ist dies ein relativ zentraler Gedanke, der immer wieder die formalen Überlegungen beeinflusst, nämlich den Hörer mit Hilfe dieses Phänomens zum Zuhören hinführen, das Zuhören entwickeln. Natürlich geschieht das mehr oder weniger bei fast jeglicher Musik - falls wir nicht aus irgendeinem Grund zum Weghören gezwungen werden -, weil es beim Hören von noch Unbekanntem eine Phase des Zurechtfindens gibt, sofern unser Interesse geweckt ist. So ergibt sich oft so etwas wie eine Tropfenform, d.h. am Anfang gibt es mehr zu hören und dann findet eine zunehmende Ausdünnung statt, so dass die einzelnen Strukturen und Klänge immer genauer und damit auch intensiver wahrgenommen werden.

8.

Verschiedene zeitgenössische Komponisten (auch Komponisten der Vergangenheit) arbeiten mit einer Schichtung von verschiedenen Tempi, versuchen sozusagen eine Polyphonie der Geschwindigkeiten, Tempi und Zeiten. Dies lässt eine ebenso spannende wie paradoxe Situation entstehen, denn wir sind dann in der Gleichzeitigkeit mit unterschiedlichen zeitlichen Ebenen, also mit verschiedenen Zeiten, Zeitabläufen und Zeitablaufgeschwindigkeiten, konfrontiert.

9.

Im Titel des Vortrags wurde demnach absichtlich ein Widerspruch formuliert: Wie oben schon einmal gestreift und nicht näher ausgeführt, handelt es sich scheinbar irgendwie um einen Denkfehler im Modell. Dieser ist der Gedanke, dass Musik in der Zeit organisierter, in die Zeit projizierter Klang sei. Klang oder Musik als Phänomen ist jedoch nicht von Zeit zu trennen, kann ohne Zeit nicht einmal gedacht werden.

10.

Musik ist Zeit. Aber: Ist Zeit Musik?

© Florian Geßler (Komponist und Musiktheoretiker, Universität für Musik und darstellende Kunst, Graz, Österreich)


ANMERKUNG

(1) dt. Komponist, *1944.


1.6. The Unifying Method of the Humanities, Social Sciences and Natural Sciences: The Method of Transdisciplinarity

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For quotation purposes:
Florian Geßler (Graz, Österreich): Zeit und Musik - Musik und Zeit. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/01_6/gessler15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 26.8.2004     INST