Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Sepember 2005
 

3.2. Sektion sozialverträgliche Wissenschaftskulturen
HerausgeberIn | Editors | Éditeurs: Michael Strähle (Wissenschaftsladen Wien)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Kontextualisierte Wissenschaft als Bedingung der Sozialverträglichkeit

Rainer Hohlfeld (Berlin)

 

Abstract (deutsch):
Das Experiment spielt eine wesentliche Rolle in der wissenschaftlichen Erfahrung. Als Eingriff in die Natur verändert sie diese jedoch. Durch die experimentelle Methode werden genau jene Wirklichkeiten ausgeblendet, die wesentlich sind für riskante und schädliche Operationen. Die experimentelle Methode dekontextualisiert Natur. Gleichzeitig ist dieser Prozeß in der neuzeitlichen Wissenschaft mit einer Exklusion von Laien und Frauen und Betroffenen aus dem Erfahrungsprozeß verbunden. Dieser Prozeß ist somit a-sozial. Vorgeschlagen wird ein Rekontextualisierungsprozeß, der neben einer Inklusion von Laien und Frauen gleichzeitig die notwendigen Voraussetzungen für eine Politik der Risikoreduktion darstellt. Das Restrisiko muß ausgehandelt werden.

Abstract (englisch):
The experiment has an essential role in the process of scientific experience. As an intervention in nature it changes it. Those dimensions of reality which are relevant for side effects and risks are excluded. The experimental method de-contextualizes nature. Moreover, lay and concerned people and women are excluded from the scientific method. The process is therefore a-social. Demonstrated is a strategy of re-inclusion and re-contextualization as a pre-requisite for a sufficient and socially fair risk policy.

 

Dekontextualisierte Wissenschaft

Die Methode der experimentellen Philosophie hat in der neuzeitlichen Erfahrungsgewinnung seit dem 17. Jahrhundert in Physik und Chemie (später galt das auch für Biologie und Medizin) dem naturwissenschaftlichen Experiment eine entscheidende Rolle in der wissenschaftlichen Erfahrungsgewinnung zugeschrieben. Das Experiment ist jedoch gleichzeitig eine Form des Eingriffes in die Natur, ist eine "Zurichtung" des "natürlichen" Gegenstandes. Es handelt sich um den Abstraktions- und Idealisierungsprozeß der experimentellen Methode. Das experimentelle Verfahren der Laborforschung behandelt die den natürlichen Phänomenen anhaftenden situativen Singularitäten als Störfaktoren, die ausgeschaltet werden müssen. Dabei werden jedoch genau jene Wirkungsdimensionen ausgeblendet, die aus den Wechselwirkungen der Gegenstände der Forschung mit der Umwelt entstehen. Das Verfahren ist somit unsensibel für Nebenwirkungen und Umweltschäden (Risiken). Durch diese experimentelle Philosophie dementiert sich die Leitidee "der Beherrschung der Phänomene" (Salopp ausgedrückt im Laborjargon: "wir haben alles im Griff"): Damit ist die moderne Naturwissenschaft konstitutiv risikoblind. Ich habe mir das immer an einem bekannten Beispiel klargemacht: Die Fernwirkungen des Insektizides DDT (Anreicherung in Nahrungsendketten wie Fischen und Regenwurm und nachfolgende Vergiftungen von Vögeln wie Seeadlern und Amseln, Schädigung von Embryonen von Amphibien) waren Chemikern, die dieses Insektizid erfanden, unbekannt. Schlichtweg, weil sie nicht Gegenstand der experimentellen Forschung der Chemie waren. Oder, um es in unserer theoretischen Diktion zu beschreiben: Der biologische Kontext wird ausgeschlossen, das Phänomen "Insektenbekämpfungsmittel" wird auf die chemische Zusammensetzung reduziert unter Exklusion der Biologie.

Der Prozeß der experimentellen Erfahrungsgewinnung dekontextualisiert singuläre Phänomene also auf dreifache Weise:

1. Pragmatische Dekontextualisierung:

Zum ersten wird die konkrete, singulare Ausgangssituation, das reale Phänomen, in einen reproduzierbaren Laborkontext überführt, der die kontrollierte und beabsichtigte Veränderung der experimentellen Randbedingungen erlaubt. Das beschreibt die berühmte ceteris-paribus-Klausel: eine Größe wird variiert, alle anderen werden stillgestellt. Einher geht das mit dem sogenannten "methodischen Reduktionismus". Durch diese Methode werden komplexe Gegenstände in ihre Einzelelemente zerlegt, um sie den ceteris paribus-Bedingungen zugänglich zu machen.

2. Semantische Dekontextualisierung

Zum zweiten wird der theoretische Interpretationsrahmen um eine Dimension verkürzt, ein Verfahren, welches als Theorienreduktionismus bekannt ist. Es beruht wahrscheinlich aus einem Kurzschluß zum methodischen Reduktionismus: Dieser wird einfach auf die semantische Ebene übertragen - in dem Bestreben, alle Dinge der Natur aus einem einzigen atomistischen (Einheit der Natur)- dem reduzierenden Prinzip- zu erklären. Die Biologie strotzt vor solchen Beispielen.

3. Soziale Dekontextualisierung (und hier sind wir direkt beim Thema der Sektion)

Zum dritten kommt es zu einer Exklusion von Betroffenen, Frauen und Laien aus dem Experimentieren. Dieses durften allein "Gentlemen", betreiben zumindest in den Anfängen der Wissenschaft in England und Frankreich. Damit gingen die besonderen Wissensformen von Frauen und Laien verloren, ein Prozeß, der z. B. in der Geburtshilfe (und Heilkunde) verheerende Folgen hatte (Säuglingssterblichkeit).

Das Ergebnis dieses Dekontextulisierungsprozesses sind Theorien über empirische Objekte unter sehr restriktiven Bedingungen. Deshalb rechnete auch der englische Evolutionsforscher Charles Pantin vor 50 Jahren die Physik, Chemie und die Molekularbiologie zu den restriktiven Wissenschaften und stellte sie den konfigurationalen Wissenschaften wie Geologie und Metereologie gegenüber. Physik und Chemie und Biologie können nur so exakt werden, so sagt er, weil sie "vom Reichtum der natürlichen Phänomene so vieles aus ihren Untersuchungen ausschließen"(1). Diese Dekontextualisierungsprozesse werden sogar als das Kenzeichen der durch die naturwissenschaftliche Denkweise geprägten Epoche der Moderne angesehen(2).

 

Risiko und Kontext

Durch diese Prozesse der Dekontextualisierung und den methodischen Reduktionismus werden Gegenstände "aus ihren natürlichen Zusammenhang gerissen" und verursachen so in direkter Weise das Risiko, welches von diesen experimentellen Operationen ausgeht: Nehmen wir ein Beispiel aus der Biologie. Wenn ein bestimmtes Gen, welches eine entscheidende Rolle bei der Differenzierung von Zellen spielt, (wenn es, wie die Biologen sagen, transformiert wird), im wahrsten Sinne des Wortes ver-rückt wird, kann es ein Onkogen, ein krebsverursachendes Gen werden (das sogenannte ras-Gen), weil es in diesem neuen Kontext eine andere Funktion erhält (kein Stopp-Signal der Differenzierung). Man kann das in Analogie zur natürlichen Sprache verstehen: Wieder ein Beispiel aus der Sprache: Heide aus Heide heiratet einen Heiden aus der Heide, Jedes Wort hat durch sein Stellungen im Kontext des Textes eine bestimmte Bedeutung, die sich sofort ändert, wenn der Begriff umgestellt wird. Heide aus der Heide heiratet einen Heiden aus Heide (vorher "aus der"). Und so ist es auch mit den DNS- Botschaften, mit der genetischen Information. In seinem wunderschönen Essay "The dream of the humane chromosome" weist der amerikanische Biologe Richard Lewontin auf diese Analogie zur Sprache hin: "Bedauerlicher Weise bedarf es mehr als DNS, um einen lebenden Organismus zu machen. ("takes more than DNA to make a living organism") Das Hauptproblem mit den DNS-Botschaften ist, daß dieselben Wörter (auf der Ebene des linearen Kodes für die Sequenz der Aminosäuren) in verschiedenen Kontexten verschiedene Bedeutungen haben können, und verschiedene Funktionen in einem vorgegebenen Kontext, wie in jeder komplexen Sprache."(3)

Dies gilt auch für biochemische Prozesse in der Zelle: Wenn Gene in einen völlig neuen Kontext übertragen werden, so ist auch nicht bekannt, wie ihre Produkte das Gefüge der Bausteine des neuen Kontextes durcheinanderbringen, möglicherweise vergiften. Die Ergebnisse solcher Kontextveränderungen sind also nicht prognostizierbar. In der Physiologie und Biochemie gibt es verschiedene Beispiele für die Veränderung von Stoffwechselketten aufgrund einer Transformation. Es ist also die mit der Dekontextualisierung zusammenhängende Prognoseunsicherheit des Realexperimentes, welches das Risiko des gentechnischen Operierens ausmacht. Das war die Grundaussage unserer Hamburger theoretischen Überlegungen vor 10 Jahren: "Wissenschaft als Kontext - Kontexte der Wissenschaft" hieß unser Büchlein, in dem wir die Grundidee dieses Zusammenhags von Risiko und Kontext entwickelten.(4)

 

Rekontextualisierung

Wie geht die experimentelle Wissenschaft mit diesem Dilemma um?

1. Die einfachste Strategie besteht darin, die Laborkontexte zu verlängern. Das hat z. B. Pasteur gemacht, indem er Hühnerställe "pasteurisierte", sie Laborbedingungen unterwarf. Er hat damit die Hühnerpest in den Griff bekommen. Er stellte einfach in den Ställen Bedingungen her, die Laborbedingungen entsprachen, und machte somit die Vorhersagen des Labors wahr. Ein anderer analoger Fall ist das biotechnische "Scale up" im Bioreaktor: Hier wird der Mikroorganismus an die Prozessbedingungen des Bioreaktors (veränderte Temperaturverhältnisse und Strömungsbedingungen) angepasst und damit das Labor verlängert. Das macht die Verfahrenstechnik in eigenen Versuchsreihen bei Beibehaltung des geschlossenen Systems (es geht nichts nach draußen).

2. Anders liegt der Fall, wenn es sich nicht um abschließbare Systeme handelt und das Containment nicht eingehalten werden kann. Die Einbettung von neu designten Medikamenten in den menschlichen Organismus ist dafür ein Beispiel. In diesem Falle muß der unter Laborbedingungen ausgearbeitete Prototyp des Medikamentes schrittweise an patientennahe, singulare Verhältnisse wie die Physiologie des einzelnen Patienten angepasst werden. Das geschieht in der medizinischen Forschung in den klinischen Versuchsreihen in den sog, "Doppel-Blind-Studien", in denen die Kontexte variiert werden. Geschieht das nicht, ist das Risiko von unerwünschten Nebenwirkungen erheblich, wie das neue Dopingmittel THG (Tetrahydrogestrinon) zeigt, welches solchen Bedingungen nicht unterworfen wurde. So wünschenswert die Kenntnis der Nebenwirkungen ist, so umstritten kann sie sein: Im Falle von AIDS- Medikamenten wie ACT reklamierten Patienten in den USA, dass sie lieber ein Risiko eingingen, wenn sie dadurch eine größere Chance erhielten, gesund zu werden. So führte in diesem Falle die soziale Inklusion von Betroffenen - also die eigentlich erwünschte Partizipation - zu einer Vernachlässigung der Sorgfalt der Kontextualisierung. Wir sehen an diesem Fall, dass eine Kontextualisierung nicht frei sein kann von wertenden Vorentscheidungen, welche Kontexte und ob überhaupt ausgetestet werden müssen.

Der wissenschaftliche Diskurs wird überlagert von einem politischen, der über die Abbruchkriterien des wissenschaftlichen entscheidet.

3. Ein dritter Fall liegt vor bei der Freisetzung von transgenen Organismen in ein offenes ökologisches System, in dem nichts eingedämmt bleibt.

Erst, wenn eine solche Kontextualisierung durchlaufen ist, kann überhaupt das Risiko der gesamten Operation eingeschätzt werden. Ob sie überhaupt durchgeführt werden soll, ist dann eine politische Entscheidung unter Abwägung des möglichen Nutzens (wie im Falle der AIDS-Medikamente).

Die Kontextualisierungsstrategie liefert also nur eine notwendige, nicht hinreichende Bedingung für eine sozialverträgliche Risikopolitik, sie kann sie jedoch nicht ersetzen.

© Rainer Hohlfeld (Berlin)


ANMERKUNGEN

(1) Pantin, J. H., Relations between sciences, Cambridge, Mass. 1968

(2) Toulmin, Stephen, Kosmopolis, Frankfurt a. M. 1991

(3) Lewontin, Richard C., It Ain't Necessarily So: The Dream of the Human Genome and Other Illusions, New York 2000

(4) Bonß, Wolfgang, Rainer Hohlfeld, Regine Kollek (Hg.), Wissenschaft als Kontext - Kontexte der Wissenschaft, Hamburg 1993


3.2. Sektion sozialverträgliche Wissenschaftskulturen

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For quotation purposes:
Rainer Hohlfeld (Berlin): Kontextualisierte Wissenschaft als Bedingung der Sozialverträglichkeit. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/03_2/hohlfeld15.htm

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