Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | März 2004 | |
3.3. Elektronische Kooperation
und die Arbeit am Lebensraum Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Franz Nahrada (Wien)
und Laurent Straskraba
[BIO]
Neue Informations- und Kommunikationstechnologien bedingen und erzeugen neue Kulturprozesse. Die Frage unserer Sektion war: können die neuen Technologien in bisher unerreichtem Ausmaß Kooperation fördern? Die These war: Konkurrenz wird zunehmend kontraproduktiv, Kooperation aber muss gelernt werden.
1.
Wir nähern uns der Frage auf einem großen Umweg. McLuhan´s
Konzept des Retrievals in "Laws of media" besagt, daß
wenn ein neues Medium neue Verhaltensweisen fördert, eine
neue Relevanz von bereits früher Bekanntem und Lebensrelevantem
entsteht. Also ist die erste Fragestellung: gibt es "kooperative
Kulturen" aus denen wir lernen können? Waren diese global
unterschiedlich verteilt?
Beiträge verschiedener Referenten und Diskussionsbeiträge
bezogen sich auf Beispiele, die nur in Stichworten wiedergegeben
werden können: jüdischer Ethos des Vorlebens vs. christlicher
Ethos der Missionierung - die universelle Kultur der Inka-Reiches
ohne Nationalitäten jedoch mit einer Vielfalt partikularer
Kulturen - die multiethnische und multikulturelle Gesellschaft
Malaysia aufgrund ihrer Bedeutung als Schiffslandeplatz - "Land
der Winde"; Modell des "Open House" (alle Feiertage
sind Einladungen miteinander zu feiern); die Neugier und der Spieltrieb
als integrale Kraft auch in "großen" Kulturen.
2.
Der nächste Schritt führte uns in die Spannung von virtuellem
Raum und Lebensraum. Eine These ist, daß die neuen Medien
Raum mit Information aufladen, intelligenter und multifunktionaler
machen können. Es gibt eine sehr emotionell geführte
Debatte über die Frage des Lebensraumes. Die "Stadt
" bedingt Verhandeln als Prinzip; allgemein: die (nivellierende)
Organisation des Zusammenlebens ist entscheidend! Das "Dorf"
ist eine Metapher für einen intakten Lebens- und Kulturraum.
Ist "die Stadt" ein Produkt der Dörfer oder ist
das Dorf ein "Nebenprodukt der Stadt"? Schon in den
elementaren Begrifflichkeiten offenbaren sich kulturelle Distanzen.
Dennoch kommt es zu einer Synthese: die Prinzipien "Dorf"
und "Stadt" können zur Deckung gebracht werden.
Vielleicht ist "Stadt" zunehmend eine Metapher für
virtuelle Begegnung und Kooperation, während "Dorf"
die Sphäre der eigenen Lebenswirklichkeit beschreibt.
3.
Wie weit sind wir überhaupt durch unsere Kulturen definiert?
Mit grenzüberschreitender Kommunikation und Mobilität
geht eine Tendenz zur Wählbarkeit persönlicher Identität
und Gemeinschaftszugehörigkeit einher. Der Einzelne ist potentieller
Träger vieler kultureller Identitäten. Wir könnten
uns auch nicht in einem derartigen Ausmaß mit dem "Verbindenden
der Kulturen" beschäftigen, wenn wir dieses Verbindende
nicht selber wären. Andererseits ist genauso wahr: Die Kohärenz
einer kulturellen Identität ist Grundbedingung ihrer authentischen
Realisierung. Kulturen brauchen Raum zur Entfaltung ihrer Eigenart.
Das ist der Kern der Rede von den "globalen Dörfern".
Interessanter Aspekt: das elektronische Medium / Internet ermöglicht
beides: Repräsentation von authentischen Räumen sowie
Multiperspektivität.
4.
Kultur, unreflektiert übernommene oder frei gewählte,
ist eine Bedingung von Gestaltung und Handeln. Ist im Kern jede
Kultur das Medium der Vernetzung von individuell gestaltbaren
und gestalteten Lebensräumen, so ist die Vielfalt der Kulturen
ein Repositorium von Möglichkeiten, von Formen dieser Gestaltung.
Das Modell der Globalen Dörfer mit offenen Zugangs- und Lernorten
gründet sich auf die bewußte Kombination kultureller
Vielfalt mit globaler Kooperation. Globale Dörfer sind Orte,
die den globalen Reichtum an Information bewusst in den konkreten
Alltag integrieren und so die Prinzipien "Dorf" und
"Stadt" miteinander verbinden. Das Modell setzt voraus,
daß es "virtuelle kulturelle Communities gibt",
die zunehmend eine den Gedächtnisinstitutionen und Kulturräumen
ebenbürtige Rolle als Speicher kultureller Muster übernehmen.
Diese "kulturellen Communities" sind auch immer wieder
die Geburtshelfer neuer Kulturräume. Da jeder Raum mit Information
aufgeladen werden kann, gibt es (theoretisch) keine Knappheit
mehr an potentiellen Kulturräumen. Es ist das gemeinsame
Interesse aller Kulturräume, daß es keine Knappheit
an potentiellen Kulturräumen gibt, soferne sich diese nicht
aggressiv verhalten.
5.
Leider ist das nicht der Fall. Im Ende kooperativer Kulturen wie
der Inkakultur mit ihren organisch durchgestalteten Lebensräumen
zeigt sich drastisch, daß mediale Innovationen - wie von
McLuhan beschrieben - zuallererst zu Aggressionen führen.
Das Zeitalter des Schießpulvers und der Druckerpresse hat
die "große Explosion" im 16. und 17. Jahrhundert
ausgelöst, in deren Gefolge auch die Konquistadoren auftraten.
Heute führt die Medienentwicklung zu einer historisch nie
dagewesenen Aggressivität des Prinzips Wirtschaft und wir
sind noch sehr weit von der zeitgleich von McLuhan und Paolo Soleri
vorausgesagten "großen Implosion" entfernt. Christian
Fuchs zeigte in seinem Referat, daß einerseits gerade die
potentiellen Kooperationsformen die "präventive"
Tendenz zu Kontrolle und Monopolisierung der Informationsgesellschaft
fördern, andererseits die "Einheit in der Vielfalt"
in den dekontextualisierten Kommunikationsformen des Internet
schwer zu finden ist. Gemeinsame Ziele und gemeinsamer Nutzen
bedeuten auch gemeinsame Verantwortung in der Schaffung einer
neuen Realität und wechselseitige Abhängigkeit.
6.
Die subtile Tendenz zur Glokalisierung, einer globalen Veränderung
mit lokalen Bezügen, setzt sich dennoch auch im Herzen der
Globalisierung durch. Umgekehrt bricht eine Ökonomie, die
auf der Illusion der Raum- und Kulturlosigkeit beruht, sehr rasch
zusammen. Inseln vernetzter dezentraler Selbstorganisation wie
freie Software beginnen sich auszubreiten, essenzielle Fragen
von Eigentum und Vermarktung an der "ultimaten" partizipativen
Ressource Wissen und Kultur dringen ins öffentliche Bewußtsein.
Wissenschaft hat die große Chance, sich an diesen sozialen
Prozessen zu beteiligen - nicht nur um sie zu verstehen, sondern
sie auch weiterzutreiben, während sie sich selbst davor bewahrt,
inhaltsleer zu werden und an der Realität vorbeizugehen.
7.
Die Sektion mündete in operativen Perspektiven des Erzeugens
von "Einheit in der Vielfalt": Um die Akzeptanz und
eine integrative Entwicklung zu fördern, müssen unsere
Kooperationsnetze mehrsprachige und interkulturelle Bedürfnisse
integrieren - ohne einen beliebigen "Einheitsbrei" herzustellen.
Lokale Sprachen sollten bei der vernetzten Kommunikation und Kooperation
als gleichwertig gesehen und umgesetzt werden. Eine breite "passive
Kompetenz" ist dafür wichtig. Um Kulturen zu verstehen,
muss man sie "durchleuchten" und nicht unbedingt aktiv
selbst praktizieren (z. B. Sprache) können. Durch Erleben
(z. B. Ritual und Tanz) wird zuletzt klar, wie stark das Verbindende
der Kulturen aber auch unterhalb der intellektuellen Ebene liegt.
Den Kulturen liegen menschliche Gemeinsamkeiten zugrunde, die
sie nur verschieden ausformen und zu denen wir jederzeit zurückkehren
können. Mandana Alawi Kia demonstrierte das mit ihrem Schlußritual
auf eindrucksvolle Weise.
© Franz Nahrada
(Wien) und Laurent Straskraba
3.3. Elektronische Kooperation und die Arbeit am Lebensraum
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Inhalt | Table of Contents | Contenu 15 Nr.
For quotation purposes:
Franz Nahrada (Wien) / Laurent Straskraba: Elektronische Kooperation
und die Arbeit am Lebensraum. In: TRANS. Internet-Zeitschrift
für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/03_3/nahrada_report15.htm