Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Mai 2004
 

3.6. Kulturelle und Sprachvielfalt. Koexistenz, Interferenzen und Divergenzen in pluriethnischen Regionen
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: András F. Balogh (Budapest) / George Gutu (Bukarest) / Dagmar Kostálová (Bratislava / Preßburg)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Paul Celan - zwischen Intertextualität und Plagiat oder interreferentielle Kreativität

George Gutu (Universität Bukarest)

 

Während die Plagiatsbeschuldigungen, die Claire Goll, die Witwe des Leiters der Zeitschrift "Surréalisme" (1924) Yvan Goll, gegen Paul Celan öffentlich erhoben hatte, auf Hochtouren liefen, richtete die Klägerin am 23. Januar 1965 einen Brief an Hans Bender, den Herausgeber der angesehenen Zeitschrift "Akzente", mit dem Paul Celan in den Jahren 1956-1961 einen regen Briefwechsel führte. Die Plagiatsbeschuldigungen und die Umstände dieser unglücklichen Affäre sind in der Fachwelt im allgemeinen bekannt. Der genannte Brief fand bislang jedoch weniger Beachtung, als er eigentlich verdient. Denn eine nüchterne Geschichte dieser fulminanten Polemik hat alle Aspekte des Problems zu berücksichtigen. Hier Claire Golls Variante der ominösen Problemstellung:

Im Oktober 1949 bat Celan Yvan Goll, ihm seine Bewunderung ausdrücken, ihn aufsuchen zu wollen. Man bewundert einen Dichter nur wenn man ihn kennt. Und wie sich bei dieser ersten Begegnung herausstellte, kannte Celan Goll ausgezeichnet. Da das französische Gesetz bestimmt, daß von jedem erschienenen Buch, von jeder Nummer einer Zeitschrift oder Zeitung ein Exemplar in der Pariser Nationalbibliothek deponiert werden muß, kann jeder im öffentlichen Lesesaal das Gesamtwerk eines Dichters studieren. Wann Celan das tat - als Student in Paris, vor dem Krieg oder nach Kriegsende - weiß ich nicht. Jedenfalls waren ihm alle Bücher Golls bekannt und die neun, im Frühling 1948 in Döblin's Zeitschrift 'Das goldene Tor' erschienenen Gedichte aus 'Traumkraut'. Und kurze Zeit darauf auch alle Manuskripte der letzten Jahre, die Goll vertrauensvoll in den vier Monaten seines Todeskampfes in die Hände des ergebenen 'Sohnes' legte. Eine Rolle, die Celan so vollendet spielte, daß wir ihn adoptieren wollten: Eine Nachricht, die bei ihm eine noch größere Ergebenheit auslöste.

Die Gedichte, die er uns damals vorlas, hatten ja auch wenig Ähnlichkeiten mit den 'Pariser Georgika', 'Abendgesang' oder 'Traumkraut'. Ich freute mich über seine Begabung und war ja auch die Erste, die 1951 am Bayerischen und am Südwestdeutschen Rundfunk für den damals völlig unbekannten Celan warb.

Erst als Richard Exner in Los Angeles, anläßlich eines Goll-Abends beim dortigen Generalkonsul, mich auf Celan als 'Plagiator' hetzte und mir 'Mohn und Gedächtnis', das erschienen war, zeigte, ging mir ein Licht auf.

Und als sich Celan später durch die törichte Broschüre der Deutschen Akademie gar als denjenigen feiern ließ, der Goll beeinflußt haben wollte, begriff ich, auf welches Erbe eines Vaters es diesem 'Sohn' angekommen war.(1)

Fünf Jahre später hob Claire Golle die Hilfe hervor, die Yvan Goll dem damals noch unbekannten James Joyce angedeihen ließ zu einer Zeit, da der irische Schriftsteller Schwierigkeiten hatte, seine später berühmt gewordenen Werke wie "Ulysses" oder "Bildnis des Künstlers in seiner Jugend" zu veröffentlichen. Goll half übrigens auch Samuel Beckett sowie Eugen Ionescu - Georges Schlocker hat dies einmal durch die Äußerung bestätigt: "Goll hat Ionesco entdeckt." In einem anderen an Hans Bender gerichteten Brief vom 7. Dezember 1970 gestand Claire Goll, sie verstehe den Umstand, daß "ein Genie es sich leisten kann, auch anderen seine Dienste zugute kommen zu lassen", und geht erneut auf den bereits im oben zitierten Brief artikulierten Gedanken ein:

Leider fand ich, nachdem ich in diese kleine Wohnung umgezogen war, in der Dokumente, Briefe etc. in dichten Haufen unter Kasten, Bibliotheken und Schränken liegen, erst zwei Jahre nach der Polemik das Gedicht, das Yvan am 1. Februar 1942 in der französischen Zeitung: 'Die Stimme Frankreichs', veröffentlichte, dem Organ, das von der Partei de Gaulles herausgegeben wurde, das ich hier in Fotokopie beilege. Diese Zeitung wurde über ganz Europa von Fliegern abgeworfen. Durch einen Zufall mag sie in Celans Hände gekommen sein oder er las sie als er - ich glaube 1945 - mit den Amerikanern nach Paris kam. Lesen Sie die beiden ersten Verse und dann 'Die Todesfuge'. Yvans deutsche Fassung, im Manuskript mit dem Datum "New York, 14. Februar 1942" versehen, lautete:

Schwarze Milch des Elends
Wir trinken dich
Auf dem Weg ins Schlachthaus
Milch der Finsternis
(...)

Als Celan uns Ende Oktober 1949 zum ersten Mal in Paris besuchte, las er, unter anderen Gedichten, auch "Die Todesfuge". Yvan zwinkert mir amüsiert zu. Er war viel zu großzügig, um sich um Angleichungen zu kümmern. Leider gewährte er Celan, der ihn jeden Tag im Amerikanischen Hospital vier Monate lang besuchte, Einblick in alle seine Manuskripte und in die zwei Blöcke, in die er während eines fünfmonatigen Aufenthaltes im Straßburger Kantonspital "Das Traumkraut" geschrieben hatte.

Sofort, nach Golls Ableben, begann er dessen "Malaiische Liebeslieder" und die "Pariser Georgika" zu übersetzen. Er lebte sich dadurch dermaßen in Golls Bilderwelt ein, daß er auf lange Zeit nicht mehr herausfand. Besonders aus den in Newe York entstandenen "Pariser Georgika", aus denen ganze Zeilen sich bei Celan wiederfinden. Mein damaliger Verleger, der die "Malaiischen" bringen wollte (Pflugverlag, St. Gallen), weigerte sich - nach der Lektüre von Celans Übersetzung - diese zu publizieren. Er schrieb ihm einen Brief, daß "die Übersetzung dem Original nicht gerecht werde". Celan kam mit dem Brief zu mir, machte mir - in Gegenwart des hiesigen deutschen Buchhändlers Fritz Picard - eine hysterische Szene. Damit begann seine Feindschaft.(2)

Die Labilität Celans in jener Zeit wird von Claire Goll auch durch das Geständnis eines anderen Bukowiners belegt. Als sie den nach New York emigrierten jüdischen Dichter Alfred Gong traf, berichtete sie ihm über die in der literarischen Welt Deutschlands und Frankreichs ausgebrochene heftige Polemik. Daraufhin soll Gong, ein ehemliger Czernowitzer Schulkamerad Celans, folgendes gesagt haben - und wir als Rumänen können mit Leichtigkeit auch einen uns betreffenden Aspekt festhalten:

Er ging mit mir in die Schule. War immer ein Heuchler, der wie ein Taschenspieler sich die Dichtung Andrer aneignete. Ganz früh hatte er in Rumänien einige, in Deutschland unbekannte, Gedichtbändchen veröffentlicht [Hier irrt sich Gong: man kann höchstens von den Gedichtkonvoluten sprechen, die Celan in der Czernowitzer und Bukarester Zeit zusammengestellt hatte(3); erst in Wien brachte er seinen ersten Gedichtband heraus: "Der Sand aus den Urnen", den er bekanntlich wegen zahlreicher Druckfehler gleich einstampfen ließ - unsere Anm.; G.G.], deren Verse von dem großen rumänischen Dichter Tudor Arghezi entlehnt waren(4). Als ich ihn in Wien wiedersah, brachte er gerade den "Sand in den Urnen" heraus, von Trakl und vielleicht schon von Golls, in Döblins 'Das goldenen Tor', Mainz, erschienenen Gedichten herkommend."(5)

Verzwickt sind die Wege Gottes! Und jene der geistigen und literar-künstlerischen Interferenzen scheinbar noch viel mehr! Aus der Zerbrechlichkeit dessen, was man die Originalität des Kunstwerks nennen kann, ergab sich die vielleicht klangvollste Plagiatsbeschuldigung des vorigen Jahrhunderts: Claire Goll, sie selbst Dichterin, die Witwe des hervorragenden surrealistischen Dichters Yvan Goll, entfacht den Skandal und richtet ihren Zeigefinger auf den jungen, nach einem enttäuschenden Wiener Aufenthalt gerade in Paris einget roffenen Paul Celan. Er war heimlich aus Bukarest geflüchtet, wo er von Alfred Margul-Sperber gefördert wurde und wo er zusammen mit seinen Freunden Nina Cassian und Petre Solomon die Gruppe der rumänischen Surrealisten D. Trost, I. Pãun, Virgil Teodorescu , Gellu Naum besuchte. In Bukarest erlebte er ein merkwürdiges Debüt: sein später berühmt gewordenes Gedicht "Die Todesfuge" erschien 1946 in rumänischer Übersetzung unter dem Titel "Tan goul mortii "(6) (ursprünglich: "Todestango", dann von ihm selbst in "Todesfuge" umgewandelt). Im gleichen Jahr erscheinen seine ersten deutschsprachigen Gedichte in der ersten Nummer der von Ion Caraion und Virgil Ierunca herausgegebenen Zeitschrift "Agora"(7). In der Czernowitzer und Bukarester Zeit entsteht eine beachtliche Anzahl von Frühgedichten, von denen sehr viele in den von ihm noch in Bukarest geplanten Band "Der Sand aus den Urnen" (1948) sowie in seinen zweiten Band "Mohn und Gedächtnis" (1952) Aufnahme gefunden haben.

Der Dichter hatte Kopien von seinen meist maschinegeschriebenen oder von seinen handschriftlichen Gedichten auf seine abenteuerliche Reise (sprich: Flucht) nach dem Westen mitgenommen. Etwa 268 Blätter sollten in Bukarest bei Alfred Margul-Sperber zurückbleiben. Sein Bukarester Mentor sollte seinen Nachlaß samt Celan-Texten dem Museum für Rumänische Literatur (MLR) testamentarisch anvertrauen.

Das Schicksal des in Wien erschienenen Bandes "Der Sand aus den Urnen" war grauenhaft: Wegen haufenweiser Druckfehler mußte er eingestampft werden. Die wenigen erhaltengebliebenen Exemplare stellen heute unschätzbar wertvolle bibliophile Seltenheiten dar.

1952 folgte, wie gesagt, der zweite Band, der eigentlich erste gültige Band Celans: "Mohn und Gedächtnis", in dem ein Zyklus den Titel des zurückgezogenen Bandes trägt: "Der Sand aus den Urnen". Auch in diesem Band sind Gedichte enthalten, die Celan in seiner Czernowitzer und Bukarester Zeit geschrieben hatte. Wie oben erwähnt, "enthüllte" Richard Exner Claire Goll gegenüber, Celan habe Gedichte von Yvan Goll plagiert, die dieser französisch geschrieben und die vom jungen Celan ins Deutsche übertragen worden waren.

Celan nimmt sein sprachwissenschaftliches und germanistisches Studium in Paris wieder auf. Inzwischen hatte er die Graphikerin Gisèle Lestrange geheiratet. Seine auf der Niendorfer Tagung der "Gruppe 47" (1952) vorgetragenen Gedichte fanden keine begeisternde, ja sogar eine zurückhaltende Aufnahme. Der Preis der Gruppe wurde ihm verweigert. Nachdem sein Band "Mohn und Gedächtnis" erschienen war, setzte die Witwe des 1950 verstorbenen Yvan Goll, Claire Goll, nach den "Enthüllungen" Exners die unsinnige Behauptung in den Umlauf, Celan habe Gedichte ihres Mannes plagiert. Die Behauptung der Witwe Golls begann die literarische Welt zu bewegen. 1960 erneuerte Claire Goll ihre Beschuldigung, derzufolge Celans "Mohn und Gedächtnis" eine Imitation von Golls "Traumkraut" darstellte.(8) In verschiedenen Veröffentlichungen wurden Gegenstimmen laut, die die Anschuldigungen zurückwiesen.(9) Zur Klärung der Affäre veranlaßte die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt eine Untersuchung, mit der Fritz Martini seinen damaligen Assistenten Reinhard Döhl beauftragte. Dieser veröffentlichte die Ergebnisse seiner Nachforschungen im Jahrbuch der genannten Akademie für das Jahr 1960 (S. 101ff.) Döhl gelang es, die Widersprüchlichkeiten in Claire Golls Behauptungen durch Vergleich der verschiedenen in Umlauf gesetzten Versionen deutlich zu machen, anhand der bekannten Datierungen die Unmöglichkeit des Plagiats nachzuweisen und durch seine Untersuchung des Metapherngebrauchs bei Goll und Celan wesentliche Unterschiede zwischen beiden Dichtern herauszuarbeiten.

Die Atmosphäre um Celan wurde für diesen immer unerträglicher.(10) Dennoch war Celan entschlossen, das Gräßliche nicht mitzumachen.(11) Sein öffentliches Schweigen war total. Persönlich quälte er sich jedoch unvorstellbar, so daß er bezeichnenderweise zu einem mehr oder weniger unerwarteten Geständnis bereit war: " Ich habe mich oft gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, bei den Buchen meiner Heimat zu bleiben. "(12) Am 8. März 1962 schrieb er an Petre Solomon und brachte somit das empfundene Gefühl zum Ausdruck, alte, unvergessene Verbindungen neu zu erleben:

(13)

Er fragt auch nach der Tätigkeit von Maria Banus und Nina Cassian : "Ce face Nina? Dar Maria Banus? "(14) Fast ständig interessiert er sich mit Bewunderung und Dankbarkeit für Al. Philippide: " Si maestrul Philippide - întreabã-l, te rog, dacã-mi permite sã-i trimit cãrtile m ele"(15), lesen wir im oben erwähnten Brief, einem der wenigen noch vollständig in rumänischer Sprache verfaßten Briefe. Es wurde auf dem Hintergrund der ominösen Ereignisse für Celan immer deutlicher, daß er nicht heimisch werden konnte, daß er eine mögliche Heimat, Rumänien, die Bukowina, verlassen hatte, Hoffnungen und Erwartungen folgend, die sich als unerfüllbar erwiesen. Er fühlte sich zwischen trostloser Einsamkeit einer widrigen Gegenwart und unwiederbinglich verlorener sinnvollerer Jugendzeit zerrissen. Der Einblick in lange noch unbekannte Celan-Briefe bestätigt diese Feststellung:

Je suis - nous sommes tout-à-fait seuls ... Plus aucune possibilité de publier, on me vole déjà mes manuscrits ... on me vole - cela ne suffit pas: il faut - la belle et éternelle projection! - qu'on me présente partout comme Le Voleur." Im gleichen Brief heißt es weiter: "Parmis les dernières en date: on insinue que je ne sais pas les langues que je traduis.(16)

Auf dem Hintergrund des Erlebten und der frischen Erfahrungen macht der Dichter auch einige Äußerungen, die unsere Aufmerksamkeit aufhorchen lassen und jenes Bild korrigieren und ergänzen, das man sich schematischerweise von Paul Celan gemacht hat. Peter Horst Neumann spürte diese Töne, versuchte jedoch seine Aussagekraft zu schwächen oder gar fälschlich darzustellen, da er selber kein Anhänger der engagierten Dichtung zu sein scheint.(17)

Auch wenn er, wie gesagt, "diese neuen Probleme der jüngsten Gedichte Paul Celans"(18) spürte. An dieser Stelle seien deshalb einige ungenügend beachtete oder gar mißdeutete(19) Geständnisse Celans angeführt:

(20)

Oder:

Je t'étonnerais probablement en t'apprenant qu'après quatorze ans, j'ai peu d'amis à Paris. Depuis quelque temps, nous en avons deux, un acteur et sa femme, qui est institutrice. Ce n'est sûrement par hasard qu'il s'agisse de deux membres du Parti Communiste. (Ce que je ne dis point pour entrer dans tes grâces!) (21)

Sicherlich dürfen diese Äußerungen keineswegs überbewertet, aber auch nicht verschwiegen werden. Sie helfen dabei, bestimmte Aspekte der Celanschen Lyrik in einem der Wahrheit entsprechenderen Licht zu sehen.(22)

Kein Wunder also, daß Celan sowohl durch die geschichtlich-biographischen als auch durch die gesellschaftlichen Gegebenheiten seines bewegten Lebens seiner Heimat, seinen Bukarester Freunden die Treue hielt. Er schätzte den Wert der rumänischen Dichter sehr hoch ein, mit denen er sich verbunden, denen er sich jedoch auch irgendwie verpflichtet fühlte:

Mi-am spus deseori ... cît de nedrept este cã tocmai eu am fost favorizat de o limbã de 'circulatie' mondialã: dacã cel putin as putea sã traduc într-o zi pe ceilalti! "(23)

Er hoffte immer noch, daß er sich zeitlich wird so einrichten können, um die Werte der jüngeren rumänischen Poesie bekanntzumachen: "... Je l'éspère, le retour, tardif, vers la poésie roumaine un peux refoulée, je l'avoue au milieu de mes péripéties occidentales. Dans un recueil de traduction qu'un jour j'arriverai peut être à publier, j'éspère réparer, retrapper ce retard... J'ai eu, il y a longtemps, des amis poètes: c'était, entre 45 et 47 à Bucarest. Je ne l'oublierai jamais .(24)

Aus jenem "verdammt geliebten Czernowitz" stammend, schlußfolgert Paul Celan in einem Brief an Alfred Margul-Sperber, wobei er eine "Karpatische Fixiertheit" unverhüllt in Ansprucht nimmt:

In einem gewissen Sinne ist mein Weg noch einmal der Ihre, wie der Ihre beginnt er am Fuße unserer heimatlichen Berge und Buchen, er hat mich, den - um es mit einem Scherzwort zu sagen - karpatisch Fixierten - weit ins Transkarpatische hinausgeführt ...(25)

In Paris niedergelassen, schrieb der in der Bukowina beheimatete, ehemals rumänische Bürger Paul Celan in deutscher Sprache Bücher, die er in Deutschland veröffentlichen ließ - in einem Land, das er möglichst zu vermeiden bestrebt war und - nach eigener Aussage - nur "lesenderweise"(26) besuchte. Sein Aufstieg als Lyriker ist schwindelerregend, er wird bald als einer der größten, wenn nicht sogar als der größte deutschsprachige Dichter des 20. Jahrhunderts bezeichnet. In den Schulen wird sein anthologisches Gedicht "Die Todesfuge" besprochen. Mit dem Band "Von Schwelle zu Schwelle" (1955) vollzieht sich eine Wende im poetischen Diskurs Celans, die Sprache wird von nun an auf das Wesentliche reduziert, die Metaphern werden ins Absolute gesteigert, die Verse sind Synkopen ausgesetzt, brechen auseinander, das Schweigen breitet sich aus, als folge der Dichter bis zur letzten Konsequenz dem Spruch Ludwig Wittgensteins: "Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen."(27) Der reife Celan wird nicht von der großen Masse der Leser aufgesucht, er freut sich dafür in Kreisen von Germanisten einer bislang unübertroffenen Beliebtheit. Sein Versuch, den Philosophen Martin Heidegger zu treffen und sich mit ihm zu unterhalten scheitert, die Brücke legt sich nicht, die Kluft klafft nach wie vor. Die Ehe mit der Graphikerin Gisèle Lestrange geht in die Brüche. Die Gesundheit des Dichters ist ernsthaft beschädigt. Der Gedanke, in Czernowitz seine Eltern allein gelassen zu haben, obwohl ihn rumänische Freunde gewarnt haben, daß eine gefährliche Razzia geplant sei, verfolgt ihn unbarmherzig - seine Eltern wurden ins Arbeitslager nach Transnistrien deportiert und kamen dort ums Leben. Dafür konnte sein Schulkamerad und späterer Dichter Immanuel Weissglas seinen eigenen Eltern im Arbeitslager bei den schweren Arbeiten helfen - und sie alle kamen aus dem Lager heraus. Das Schuldgefühl deprimiert ihn und verstärkt sein Unbehagen am Leben. Das vollständige Schweigen warf seinen unheilvollen Schatten auf den ruhelos herumirrenden Dichter.

Unter den Bedingungen einer derart tiefen existentiellen Krise erschienen in Heft 2 (Februar) 1979 der Bukarester deutschsprachigen Zeitschrift "Neue Literatur" einige Gedichte - darunter befand sich auch Immanuel Weissglas' Gedicht "Er", das damals zum erstenmal veröffentlicht wurde. Ebenso wie das Gedicht "Die Blutfuge" eines anderen Bukowiner Dichters, Moses Rosenkranz, verrieten die Metapher von Weissglas' "ER" eine verblüffende Ähnlichkeit zu denen aus der "Todesfuge".

ER

Wir heben Gräber in die Luft und siedeln
Mit Weib und Kind an dem gebotnen Ort.
Wir schaufeln fleißig, und die andern fiedeln,
Man schafft ein Grab und fährt im Tanzen fort.
ER will, daß über diese Därme dreister
Der Boden strenge wie sein Antlitz streicht:
Spielt sanft vom Tod, er ist ein deutscher Meister,
Der durch die Lande als ein Nebel schleicht.
Und wenn die Dämmrung blutig quillt am Abend,
Öffn' ich nachzehrend den verbissnen Mund,
Ein Haus für alle in die Lüfte grabend:
Breit wie der Sarg, schmal wie die Todesstund.
Er spielt im Haus mit Schlangen, dräut und dichtet,
In Deutschland dämmert es wie Gretchens Haar.
Das Grab in Wolken wird nicht eng gerichtet:
Da weit der Tod ein deutscher Meister war.

Zeitgenossen, die Celan in jener Zeit noch gesehen haben, berichten, daß der Dichter mit von Besorgnis gezeichnetem Gesicht durch Paris herumirrte - in der Hand soll er ein Heft der "Neuen Literatur" mit sich geführt haben. Auf seinem Arbeitstisch wurde ein Band mit Gedichten von Immanuel Weissglas aufgefunden - es kann sich nur um dasselbe Heft der Bukarester Literaturzeitschrift "Neue Literatur" handeln. In manchen Kreisen wird der Gedanke geäußert, Celan habe eine neue Plagiatsbeschuldigung für möglich gehalten und deshalb befürchtet, daß eine neue unheilvolle Plagiatsaffäre förmlich in der Luft lag - Celan hatte die tiefste innere Erschütterung, die Claire Goll ausgelöst hatte, noch immer frisch in Erinnerung. Zugleich wird vermutet, das dies der Tropfen gewesen sei, der das Glas zum Überlaufen brachte - am 2. Mai 1970 fand man seine Leiche am Ufer der Seine: an Land gespült, wie eine grausame Flaschenpost: Erinnern wir uns an eine bedeutende Stelle aus seiner Bremer Rede über das Wesen des Gedichts:

Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem - gewiß nicht hoffnungsstarken - Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in diesem Sinne unterwegs: sie halten auf etwas zu.
Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit.

Celan hatte sich mit seiner Dichtung voll identifiziert - auch er wurde mit seiner poetischen Botschaft "an Land gespült", auch er suchte nach "einem ansprechbaren Du", nach "einer ansprechbaren Wirklichkeit". Die Wirklichkeit wurde dem Menschen Celan unerträglich, unansprechbar. Heute weiß man, daß er sich am 20. April 1970 vom Pont Mirabeau aus den Wassern der Seine anvertraute ... Die Interkulturalität und die literarische In-Formation zeitigen scheinbar nicht selten auch bitter-böse Folgen - ebenso wie die Sprachkommunikation nicht nur Nähe, sondern oft auch Ferne, Entfremdung, Ausgrenzung und Frustration schaffen kann.

Was steckte hinter dieser Geste der Verweiflung und der totalen Auswegslosigkeit? Was dürfte sie ausgelöst haben?

In einigen Untersuchungen zum Leben und Werk des Dichters, die nach seinem Tode erschienen sind, wurden eine Reihe von Vermutungen geäußert, die mit größter Wahrscheinlichkeit auch Celan selbst durch den Kopf gegangen sind. Sie dürften seine tragische Entscheidung mit herbeigeführt haben: Post festum, besser gesagt post mortem bestätigten sie seine dunklen Ahnungen. In der von Hans Bender geleiteten Zeitschrift "Akzente" - das ist eben Hans Bender, dem Claire Golle die oben zitierten Briefe geschrieben hatte - erschien 1972 der Aufsatz "Die Zeit der Todesfuge" von Heinrich Stiehler. 1973 übernahmen vier rumäniendeutsche Literaturhistoriker (Karl Streit, Josef Zirenner, Herbert Bockel und Walter Engel) kritiklos(28) die darin enthaltene Behauptung Stiehlers, die in Richtung einer Bloßstellung eines anderen "Plagiats"-Ansatzes lief:

Wie sehr Celan in seiner Bukarester Zeit von Weissglas beeinflußt war, wird anhand der 'Todesfuge' nachgewiesen, einem der berühmtesten Gedichte Celans, das wenige Monate nach Weissglas' 'ER' verfaßt wurde.(29)

Die vier rumäniendeutschen Literaturhistoriker fügten auch Moses Rosenkranz als mögliche Quelle für Celans "Todesfuge" hinzu. Noch 1977 wiesen wir in unserer Leipziger Dissertation darauf hin, daß literatur- und rezeptionsgeschichtlich solche Einflüsse zumindest fragwürdig sind: Die "Todesfuge" erschien - in rumänischer Übersetzung - bereits 1947, Immanuel Weissglas' "ER" dagegen erst 1970 - ebenso wie "Die Blutfuge" von Moses Rosenkranz.(30) Aus der Sicht einer nachweisbaren Rezeption schien eine interreferentielle Wirksamkeit ausgeschlossen.

Doch die Literatur weist eine unterirdische, subkutane, geheimnisvolle, oft biographisch bedingte Genesis auf. Die Kontakte zwischen den drei Autoren - Rosenkranz, Weissglas und Celan - waren insbesondere auf dem Gebiete der ästhetischen Kommunikation durchaus wirksam. Fern jenen deutschsprachigen Orten, an denen über das literarische Schicksal entschieden wurde, lasen die Bukowiner, aber auch alle anderen rumäniendeutschen Autoren die Werke ihrer deutschsprachig schreibenden Landsleute, sie nahmen sich gegenseitig zur Kenntnis und tauschten - nicht selten auch öffentlich - ihre Urteile und Meinungen aus. Auf der Bukowiner Literaturszene inszenierten die Bukowiner Lyriker einander den Erfolg! Aus all den biographischen und intertextuellen Bezüge ergab sich ein intensiver und fruchtbarer Austausch sowie eine durch zeitstilistischen Zwang bedingte, vaterschaftslose Zirkulation von poetischen Bildern, Metaphern und Bezüge. Das war nicht zuletzt auch eine Folge interkultureller und intertextueller Austauschprozesse in pluriethnisch und mehrsprachig geprägten geistigen Landschaften, wie sie in der Bukowina, aber auch in anderen Gebieten Rumäniens bestanden und weiterhin noch bestehen. Alle kannten ausgezeichnet die rumänische Sprache und Kultur, der interreferentielle Raum war besonders stark ausgedehnt. Biographische Momente dürften dabei eine kaum gering zu schätzende Rolle gespielt haben.

Aus den Aussagen von Moses Rosenkranz' Frau artikulierte der ehemalige DDR-Dissident, der Balladensänger und Schriftsteller Wolf Biermann, einige neue Aspekte in Sachen Interreferentialität:

Im Jahre 1942, in diesem rumänischen Arbeitslager [Tãbãresti-Cilibia], schrieb Rosenkranz sein Gedicht "Die Blutfuge". Der um 16 Jahre ältere Rosenkranz hat genau zehn Jahre, bevor die "Todesfuge" in die Welt kam, dem jungen Celan diese Verse vorgelesen. Später schrieb Rosenkranz ein anderes Lager-Gedicht, in dem am Schluß eines der metaphorischen Highlights der Celanschen Todesfuge schon formuliert ist: das Grab in den Wolken.(31)

Bereits bei Primo Levi fand Wolf Biermann die Metapher "Grab in den Lüften"(32). Derselbe Biermann verweist auf weitere interkulturelle Bedingtheiten, auf "fremdgefertigte Metaphern": Mit Weissglas ging Celan in das gleiche Czernowitzer Gymnasium, im Arbeitslager kam er mit Moses Rosenkranz zusammen. Außerdem:

Von Rose Ausländer, der arrivierten Dichterin aus Czernowitz, las ich mal, daß sie die Erfindung des Reizwortes "Schwarze Milch" für sich reklamiert. Dabei weiß ich, daß es Lieder in der rumänischen Folklore gibt, wo von der "dunklen Milch" gesungen wird, auch von der "blauen Milch". Keiner von uns hat die Sprache geschaffen wie Gott die Welt.(33)

Woher könnte Wolf Biermann seine Kenntnisse über die rumänische Folklore gewonnen haben? Zu vermuten, er habe in unserer Leipziger Dissertation darüber gelesen, wäre fast überheblich. Und wenn nicht, so könnte Doris Rosenkranz, die Witwe von Moses Rosenkranz, in der in Kappel-Lenzkirch geführten Diskussion den Hinweis auf diese Schöpfungen der rumänischen Folklore gemacht haben. Auf diese Aspekte haben wir im gleichen Haus seinerzeit oft den Dichter und seine Frau Doris Rosenkranz hingewiesen. Dabei steht allerdings sowohl in unserer Leipziger Dissertation als auch in der später veröffentlichten Fassung, daß die Metapher "blaue Milch" bei Lucian Blaga, dem großen rumänischen Lyriker der 30er Jahre, vorkommt(34). Doch genau genommen, stammt das Oxymoron von Jean Paul Friedrich Richter. Verzwickt sind ja nicht nur die interreferentiell-intertextuellen Wege, sondern auch jene der literarisch-kulturellen In-Formation. Aufregende Textur interkultureller und intertextueller Dynamik. Unerschöpfliche Quelle künstlerischer Kreativität.

Indem er den Gedanken des Plagiats erneut aufgreift, illustriert Wolf Biermann dann den Spruch "Besser gut gestohlen als schlecht erfunden" mit dem literarischen Erfolg von Paul Celan. Sein Urteil ist unmißverständlich: Man habe es eindeutig mit einem Plagiat zu tun:

Gut, daß Celan geklaut hat, denn er hat gut geklaut!

Ohne Celans genialen Diebstahl wären die poetischen Erfindungen von Rosenkranz und Weißglas wohl für ewig wie Perlen im Meer auf dem Grunde liegengeblieben. Das wahrhaft Verheerende an dieser Plagiatsgeschichte ist, daß Celan, wie von Furien gehetzt, sich immer heilloser verstrickte in absurde Beweiserei und Behaupterei, daß er kein gemeiner Taschendieb sei!

Nun tritt auf dieser tragikomischen Gauckler-Bühne kein geringerer als Theodor W. Adorno, der berühmte Philosoph, Autor der nicht weniger berühmten Schrift "Minima moralia" auf. Im Besitz der Familie Rosenkranz befindet sich ein Brief von Theodor W. Adorno, in dem sich dieser zu einigen ihm zugeschickten Gedichten von Moses Rosenkranz äußert. Adornos Antwort erfolgte in dem Jahr, in dem Paul Celan seinem Bukarester Freund, dem Schriftsteller Petre Solomon, voller Verzweiflung schrieb:

Je suis - nous sommes tout-à-fait seuls... Plus aucune possibilité de publier, on ne me vole déjà mes manuscrits ... on me vole - cela ne sufit pas: il faut - la belle éternelle projection! - qu'on me présente partout comme Le Voleur.(35)

Um die damals in Umlauf gesetzten Anschuldigungen nicht auch noch selber zu bekräftigen, hält es Adorno für angemessen, den verjagten Dichter Celan in Schutz zu nehmen. Er bittet Rosenkranz, sein Gedicht "Die Blutfuge" nicht in Deutschland erscheinen zu lassen, da er, Adorno, ein guter Freund Celans sei. Und Adorno gesteht kontextuell seinen Briefpartnern folgendes:

Es ist keine Indiskretion, wenn ich Ihnen sage, daß er [Celan; G.G.] in einem überaus labilen Zustande sich befindet ...die Publikation dieses Gedichts [der "Blutfuge" von Rosenkranz; G.G.] , das durch den Titel allein schon an sein eigenes berühmtestes mahnt, könnte ihn in einer Weise treffen, die nicht vorher sich sagen läßt.(36)

Biermanns Kommentar ist von der Tragik einer solchen Situation und Entscheidung geprägt: "Was für ein tragisches Elend, was für eine elende Tragik!" Man könne es Adorno nicht übelnehmen, daß er Celan um jeden Preis schützen wollte in einer Zeit, in der dieser eine tiefe existentielle Krise durchmachte. Andererseits könne auch das unermäßliche Unrecht, das dadurch dem anderen, ebenfalls aus Rumänien geflüchteten Bukowiner Dichter, Moses Rosenkranz, angetan wurde, nicht außer acht lassen - auch dieser war auf der Flucht, auch dieser wollte an die Öffentlichkeit treten. Durch Adornos Entscheidung blieb er jedoch bis vor kurzem so gut wie unbekannt. Erst in den letzten Jahren erschienen Gedichtebände von Rosenkranz. Doch erst durch den durchschlagenden Erfolg seines Prosawerks "Kindheit. Fragment einer Autobiographie", die wir im Aachener Rimbaud Verlag herausgegeben haben(37), wurde man auf das tragische Schicksal des Dichters Rosenkranz aufmerksam gemacht. Sowohl Celan als auch Rosenkranz entgingen um eine Haaresbreite der Verschickung in die Arbeitslager Transnistriens, doch ihr Leben lang waren sie Gefahren ausgesetzt. Rosenkranz sollte sogar - nicht mehr und nicht weniger als zehn Jahre lang - durch die Hölle des sowjetischen Gulags hindurchgehen, dem er erst 1957 entkommen konnte. Der Philosoph Adorno, der den weit bekannt gewordenen Ausspruch: "Nach Auschwitz Gedichte schreiben ist barbarisch" prägte, bewegt Wolf Biermann zu der Ansicht, die Gedichte der zwei Lyriker Rosenkranz und Celan, aber auch anderer Autoren widerlegten unumstritten obige Aussage:

Wenn ich nun an das Schicksal des Dichters denke, der als junger Mann "Des Bauern Tod" schrieb [d.h. Moses Rosenkranz; G.G.], spüre ich doppelt die Substanzlosigkeit des fatalen Verdikts von Adorno. Menschenskind, das Gegenteil ist wahr! Wir sollten es besser barbarisch finden, wenn nach Auschwitz kein Gedicht über Auschwitz geschrieben wird.(38)

Und barbarisch sei auch die Aufnahme, die dem Dichter Rosenkranz im Westen beschieden war:

Gewiß spricht es für Adorno, daß er 1962 seinen empfindlichen Freund Celan schützen wollte vor dem Ärger über eine Veröffentlichung der "Blutfuge" irgendeines Unbekannten aus dem Osten. Aber wie barbarisch ist es zugleich, einem Menschen, der mit knapper Not sich aus der Shoa und aus dem GULAG mit seinen Versen endlich in ein freieres Land gerettet hatte, nun auf die Gurgel zu treten. Was für ein höllischer Empfang für einen Menschen, der aus zwei Höllen kam.(39)

Ein merk-würdiger Fall der Interkulturalität und Intertextualität. Die Modernität des lyrischen Diskurses von Paul Celan, der von Anfang an als Bildungslyriker aufgetreten ist, der sich in akademischen Kreisen einer außerordentlichen Beliebtheit erfreut, rettete - so paradox dies klingen mag - zwei andere rumäniendeutsche Dichter: Moses Rosenkranz und Immanuel Weissglas. Um den ungeheueren Preis allerdings, ein Leben lang an den Rand, in die Bedeutungslosigkeit gedrängt worden zu sein durch die einseitige, glücklich-unglückliche Entscheidung von Theodor W. Adorno aus dem Jahre 1962.

Auch diese Episode bestätigt erneut die Schlußfolgerungen, die wir 1977 in unserer Dissertation(40) gezogen hatten, als wir behaupteten, daß Celan dem Kontakt mit seiner Bukowiner Landsleuten, mit deutschsprachigen Autoren wie Alfred Margul-Sperber, Alfred Kittner, Moses Rosenkranz, Immanuel Weißglas sowie mit den rumänischen Klassikern der Zwischenkriegszeit Tudor Arghezi, Lucian Blaga und Alexandru Philippide eine Reihe von bildlichen und metaphorischen Anregungen, die Öffnung zur Modernität des poetischen Duktus, den ausgesprochenen Sinn für die Sprache mit ihrem Sinn und ihren Buchstaben, den tiefen Sinn für das menschliche Dasein verdankt. Das alles gestaltet sich zu einem beeindruckenden Knäuel von kulturellen Interferenzen und Anregungen, die aus dem Horizont verschiedener Kulturen, Sprachen und poetischen Reservoirs herrühren, die - erst alle zusammengenommen - das vollständige Bild einer der Interkulturalität und Intertextualität eines pluriethnischen und mehrsprachigen Gebietes verpflichteten komplexen, einmaligen kreativ-interreferenziellen Synthese ausmachen.

© George Gutu (Universität Bukarest)


ANMERKUNGEN

(1) Brief von Claire Goll an Hans Bender vom 23.1.1965, in: Briefe an Hans Bender. Unter redaktioneller Mitarbeit von Ute Heimbüchel herausgegeben von Volker Neuhaus. Kulturkreis im Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. Köln, Hanser Verlag, München 1984, S. 83.

(2) Brief von Claire Goll an Hans Bender vom 7.12.1970, in: ebd., S. 114f.

(3) Siehe dazu George Gutu : Paul Celan und kein Ende... Das maschinenschriftliche Konvolut von frühen Gedichten Paul Celans im Bukarester Alfred-Margul-Sperber-Nachlaß. In: 'Stundenwechsel'. Neue Perspektiven zu Alfred Margul-Sperber, Rose Ausländer, Paul Celan, Immanuel Weissglas. (Hrsg. v. Andrei Corbea-Hoi sie, George Gutu, Martin A. Hainz.) Editura Paideia, Bucuresti / Editura Universitãtii Al. I. Cuza " , Iasi / Hartung-Gorre Verlag, Konstanz 2002, S. 246-268.

(4) Dazu äußerten wir uns in wissenschaftlicher Betrachtungsweise in Geor ge Gutu: Die Lyrik Paul Celans und die rumänische Dichtung der Zwischenkriegszeit, Editura Univers i tãtii din Bucuresti, 1994.

(5) Ebd., S. 115.

(6) "Contemporanul" (Bukarest) vom 2. Mai 1947. Übersetzung von Petre Solomon.

(7) Agora. Colectie internationalã de artã si literaturã "Sisiph" - Agora. Colectie internationalã sub auspiciile Fundatiei regele Mihai I, îngrijitã de Ion Caraion si Virgil Ierunca, Bucuresti, mai 1947, 1026 Exemplare. Beiträge von Tudor Arghezi, Ion Barbu, Lucian Blaga, Geo Bogza, André Bret on, Ion Caraion, Paul Celan, Cervantes, Petru Comarnescu, Robert desnos, Mihai Eminescu, Sergej Jessenin, Zoltan Franyo, Benjamin Fundoianu, Jean Laforgue, Henri Michaux, Eugenio Montale, Christian Morgenstern, Alexandru Philippide, Alexander Puschkin, Salvatore Quasimodo, R. Regnier, Rainer Maria Rilke, Umberto Saba, Carl Sandburg, Charles Singevin, Alfred Sperber, Dimitrie Stelaru, Giancarlo Vigorelli. Diese schriftstellerische Konstellation selbst deutet unmißverständlich darauf an, welche künstlerische Interessiertheit in Bukarest praktiziert wurde und welches der geistig-poetische Kreis war, in dem Paul Celan in jenen Jahren verkehrte.

(8) Siehe dazu: "Baubudenpoet", München, 5, 1970!

(9) Dazu: Marie Luise Kaschnitz, Ingeborg Bachmann, Klaus Demus in: "Neue Rundschau", 3, 1960; Peter Szondi in: "Neue Zürcher Zeitung" vom 18.11.1960; Georg Maurer in: "Die Welt" vom 31.12.1960; Walter Jens in: "Die Zeit", 24, 1961.

(10) Brief Celans an Alfred Margul-Sperber vom 30.7.1960, in: Petre Solomon: Paul Celan. Dimensiunea româneascã, Editura Kriterion, Bucuresti 1987 , S. 255 ff.

(11) Ebd.

(12) Ebd.

(13) Brief Celans an Petre Solomon vom 8. März 1962, in: Petre Solomon: Paul Celan. Dimensiunea rom âneascã, Editura Kriterion, Bucuresti 1987 , S. 217. (Deutsche Fassung, genauso wie bei den anderen rumänischen oder französischen Briefstellen, von George Gutu.)

(14) "Wie geht es Nina (Cassian; G.G.)? Und Maria Banu s? " Ebd., S. 218.

(15) "Frag, bitte, Meister Philippide, ob er mir gestattet, ihm meine Bücher zu schicken." Ebd.

(16) "Ich bin - wir sind ganz allein ... ohne die Möglichkeit zu veröffentlichen - man stiehlt mir schon die Manuskripte ... Man stiehlt sie - aber das genügt noch nicht: man muß mich - das schöne ewige Bild - sogar überall als den Dieb hinstellen." "Das letzte jüngeren Datums: man gibt unsinnigerweise an, ich könne kaum die Sprachen, aus denen ich übersetze." Brief an Petre Solomon vom 22. März 1962. (Im Anhang.) Siehe dazu auch Petre Solomon, Erinnerungen an Paul Celan in: Via ta Româneascã, 7, 1970, S. 49f.

(17) Peter Horst Neumann, Zur Lyrik Paul Celans, Kleine Vandenhoeck-Reihe, Göttingen 1968, S. 56-70.

(18) Klaus Schuhmann, Literarische Entwicklung in Westdeutschland, in: Referatendienst zur germanistischen Literaturwissenschaft, Deutsche Akademie der Wissenschaften, Berlin, 5, 1969.

(19) Siehe dazu Jos Noltes sichtbar tendenziöse Kritik "Hunger nach Eindeutigkeit. Zu Paul Celans neuem Gedichtband 'Atemwende'", in: "Die Welt" vom 9.11.1967. Darin wird - in bezug auf den besprochenen Band - gemeint: "Die Harlekinade kann darüber nicht hinwegtäuschen, daß hier ein sehr melancholischer Geist am Werk ist, aber Melancholie und Lächerlichkeit, so zeigt sich wieder einmal, sind enger verschwistert, als es dem Tiefsinn lieb sein kann."

(20) "Ich schreibe, nach Deinem guten Rat, an Sperber; ich sage auch ihm in dieser deutschen Sprache, die die meinige ist und - auf schmerzhafte Weise - die meinige bleibt, daß ich mich mit meinem Meridian - dem mit deinem, Petric ã , verwandten - genau dort befinde, von wo aus ich anfing (mit meinem, ich kann's hier sagen, alten Kommunistenherzen)." Brief Celans an Petre Solomon vom 8. März 1962, in: Petre Solomon: Paul Celan. Dimensiunea rom âneascã, Editura Kriterion, Bucuresti 1987 , S. 218.

(21) "Du wirst dich vielleicht wundern, wenn ich dir sage, daß ich nach vierzehn Jahren in Paris wenig Freunde habe. Nach einiger Zeit haben wir zwei, einen Schauspieler und seine Frau, die Lehrerin ist. Es ist sicher kein Zufall, daß es sich dabei um zwei Mitglieder der Kommunistischen Partei handelt. (Das sage ich nicht etwa, um Deine Gunst zu gewinnen!)" Brief Celans an Petre Solomon vom 6. August 1962, in: George Gutu: Die Lyrik Paul Celans und der geistige Raum Rumäniens, Tipografia Universitãtii din Bucuresti, 1990, S. 246.

(22) Hugo Huppert, Sinnen und Trachten. Anmerkungen zur Poetologie, Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 1973, S. 34.

(23) "Ich sagte es mir oft ..., wie ungerecht es ist, daß ausgerechnet ich den Vorteil einer 'Welt'sprache genoß: wenn es mir bloß gelingen würde, eines Tages die anderen zu übersetzen!" Brief Celans an Petre Solomon vom 18. Juli 1957, in: George Gutu: Die Lyrik Paul Celans und der geistige Raum Rumäniens, Tipografia U niversitãtii din Bucuresti, 1990, S. 243.

(24) "Ich hoffe - zwar spät - zurückzufinden zu der rumänischen Dichtung, die ich ein wenig vernachläßigte im Rahmen meiner westlichen Abenteuer. Ich hoffe, diese Verspätung in einem Auswahlband mit Übersetzungen wiedergutzumachen, sie nachzuholen, und daß ich noch den Tag erleben werde, an dem es mir gelingt, ihn zu veröffentlichen ... Ich hatte vor langer Zeit Freunde unter den Dichtern: das war zwischen 45 und 47 in Bukarest. Ich werde es nie vergessen." Brief Celans an Petre Solomon vom 12. September 1962 in: Via ta Româneascã, 7, 1970, S. 48f!

(25) Brief von Celan an Alfred Margul-Sperber vom 12.12.1962, in: Neue Literatur, 7, 1975, S. 59.

(26) "Tu me demandes de mes nouvelles - eh bien, je suis rentré, il y a quelques jours, d'un voyage en Allemagne, où, à Stuttgart, j'ai lu, en hommage à Hölderlin, les poèmes qui paraîtront en septembre. Puis j'ai pasé huit jours à Fribourg, où je retournerai en mai, encore, lesenderweise. Les choses diminuent, les choses augmentent - sorry for these 'words of wisdom' - ton regard les éclairera d'un sens ... Je t'embrasse, Paul." Brief Celans an Nina Cassian vom 6. April 1970, in: George Gutu: Die Lyrik Paul Celans und der geistige Raum Ru mäniens, Tipografia Universitãtii din Bucuresti, 1990, S. 253.

(27) Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, .....

(28) Josef Streit, Josef Zirenner, Herbert Bockel und Walter Engel: Rumäniendeutsche Gegenwartsliteratur 1944-1972. Versuch einer Bestandsaufnahme und Interpretation. In: Volk und Kultur, 10, 1973, S. 36.

(29) Heinrich Stiehler: Die Zeit der "Todesfuge". In: "Akzente", 1, 1972, S. 48.

(30) Vgl. George Gutu: Die rumänische Koordinate der Lyrik Pau l Celans, Universität Leipzig, Leipzig 1977. Siehe auch: George Gutu: Die Lyrik Paul Celans und der geistige Raum Rumäniens, Editura Universitãtii din Bucuresti, Bukarest 1990, S. 163 f.

(31) Wolf Biermann: Über Deutschland. Unter Deutschen. Essays. Kiepenheuer & Witsch, Käln 2002, S. 172.

(32) Ebd., S. 152.

(33) Ebd., S. 151.

(34) Zu diesem synästhetisch-metaphorischen Feld von "blaue Milch" gehören weitere Blagasche Stellen: "schwarzer Honig", "schwarzes Silber" (steht dem Syntagma "schwarze Milch" am nächsten), "schwarzes Wasser", "blaue Flamme", "das schwarze Manna des Traums" oder auch "die Welt ist ein blaues Kleid". In: George Gutu: Die Lyrik Paul Celans und die rumänische Dichtung der Zwischenkriegszeit, Editura Universitãtii din Bucuresti, Bukarest 1994, S. 100f.

(35) Brief von Paul Celan an Petre Solomon vom 22. März 1962. In: George Gutu: Die Lyrik Paul Celans und der geistige Raum Rumäniens, Editura Universitãtii din Bucuresti, Bukarest 1990, S. 245.

(36) Wolf Biermann, a.a.O., S. 178.

(37) Moses Rosenkranz: Kindheit. Fragment einer Autobiographie. Hrsg. v. George Gutu unter Mitarbeit von Doris Rosenkranz, Rimbaud Verlag, Aachen 2001, 22002.

(38) Wolf Biermann, a.a.O., S. 178.

(39) Ebd.

(40) s. Anm. 30.


3.6. Kulturelle und Sprachvielfalt. Koexistenz, Interferenzen und Divergenzen in pluriethnischen Regionen

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For quotation purposes:
George Gutu (Universität Bukarest): Paul Celan - zwischen Intertextualität und Plagiat oder interreferentielle Kreativität . In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/03_6/gutu15.htm

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