Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. August 2004
 

3.7. In/visible communities at and across borders
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Axel Borsdorf und Vera Mayer (Wien)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Kultur Rand Städte - Neue Menschen im "alten" Dorf: Zur Zuwanderung und Enkulturation im ländlichen Raum

Hermann Steininger (Wien)

 

Im Rahmen der Konferenz "Das Verbindende der Kulturen" scheint mir besonders eine Thematik der Sektion "Kultur in den Randzonen der Städte" bemerkenswert, nämlich jene, die sich auf die mentale Problematik von Zugezogenen aus dem großstädtischen Wiener Raum in ländliche Gebiete bezieht. Es handelt sich hierbei nicht um eine offizielle Spezifikation verwaltungsmäßiger Art der Großstadt Wien oder der funktional städtisch formierten Randzonen ("Zwischenstadt", "Postsuburbia") der niederösterreichischen Gemeinden im Nahraum dieser städtischen Agglomerationen, sondern um Phänomene, die sich regional vielfach fernab der Randzonen in ländlichen, meist kleindörflichen und/oder Einzelsiedlungsgebieten zeigen. Genauer gesagt, es geht um den privaten Zuzug ursprünglich vielfach städtischer bzw. vorstädtischer Populationen in ländliche Gebiete Niederösterreichs sowie um den Versuch, den Lebensmittelpunkt auf Dauer von der Stadt auf das Land zu übertragen (Gisser 1970: 4-8; Kaufmann 1974: 9-16; Früh 1985: 10-12). Diese Erscheinungen begegnen uns in Ostösterreich, z. T. gefördert durch den Fremdenverkehr und eine allmählich steigende Mobilität, verstärkt seit den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Die Versuche, sich aus schlechten, beengten oder durch Gewerbe und Industrie sowie durch zunehmenden Verkehr kontaminierten Wohnsituationen zumindest kurzfristig zu befreien, sind schon in der Ersten Republik einerseits von Seiten der Gemeinde Wien durch ihr damals sehr modernes Wohnbauprogramm und andererseits durch die Gartenstadtbewegung und die Anlage von sogenannten Schrebergärten der organisierten Kleingartenvereine gefördert worden.

Nun zurück zu unserem Thema, das sich mit kulturellen Phänomenen in der Stadt- und Regionalforschung auseinandersetzt. Es gibt bislang schon eine Reihe von Untersuchungen, die sich mit Problemen der Stadt-Land-Forschung befassen; diese sind sozusagen eine wesentliche interdisziplinäre Voraussetzung für unser Thema (Pevetz 1975: 5-8; Greif 1974: 84-87). Schwerpunktmäßig finden Fragen aus wirtschaftlich-ökonomischer und politischer Sicht eine Darstellung. Vor allem von Strukturreformen (Kommassierungen, Gemeindezusammenlegungen) und von deren Auswirkungen ist die Rede, aber kaum jemand hat sich bisher mit der speziell kulturellen Problematik des praktischen Zusammenlebens der Leute selbst ernsthaft auseinandergesetzt. Unter kultureller Problematik verstehe ich, auf einem ganz weiten Kulturbegriff fußend, alle kulturellen Phänomene menschlicher Lebensgestaltung, das heißt die Beachtung aller menschlich-funktionalen Lebenszusammenhänge, wie sie früher die sog. Stadtvolkskunde als Wissenschaft in Hinsicht auf die Bevölkerung des städtischen Raumes - allerdings aus der Sichtweise ländlicher Bezugspunkte - zu praktizieren versuchte. Dieser Stadtvolkskunde folgte dann die fachbezogene Stadt-Land-Problematik, wobei hier eine Sichtweise beider regionaler Felder in ihren vielfältigen Verflechtungen zum Tragen kam. Seit einigen Jahren entwickeln sich Sichtweisen, die einerseits eine von axial angelegten Zonen ausgehende Verstädterung ländlicher Regionen konstatieren, andererseits den ländlichen Raum als sich in Bezug auf die Bevölkerung entleerenden Bereich sehen, der damit starken, freilich unterschiedlichen Veränderungen unterworfen erscheint. Eine moderne ethnologische Sichtweise in unserem niederösterreichischen Umfeld muss sich diesen Themenstellungen freilich erst annähern. Man operierte bislang - aus welchen Gründen immer - bloß mit Schlagworten wie Einheimische versus Fremde, Zuzügler oder Migration und hat dabei, wie schon erwähnt, kaum die Mikroproblematik des Zusammenlebens von zum Teil unterschiedlichen Individuen und ihrer ganz persönlichen Geschichte ins Visier genommen und kaum berücksichtigt, warum etwa ursprünglich rein agrarisch bzw. ländlich strukturierte Orte oder auch solche mit mehr oder weniger und z. T. bescheidener Industrie Zuzügler hin- oder aufnehmen mussten. Warum sollte man auch den Zuzug von bislang Fremden oder auch nur gelegentlichen Besuchern, die sich heimisch zu machen versuchten, akzeptieren?

Zuwanderer setzten sich allmählich fest, begannen sich einzugliedern, zu behaupten und bemühten sich heimisch zu werden, indem sie sich etwa als "zuagroaste Häuslbauer" in einer für sie neuen Umgebung positionierten. Diese Entwicklungen wurden ursprünglich von vielen niederösterreichischen Gemeinden und vom Land Niederösterreich sehr gefördert. Private und Genossenschaften erhielten Wohnbauförderungen und Darlehen - Hauptsache, die als Rahmenbedingungen gedachten Bauordnungen wurden eingehalten. In Wahrheit fehlten vielfach sowohl örtliche als auch überörtliche Raumordnungskonzepte, und auf der grünen Wiese entstand oftmals undurchschaubarer Wildwuchs. In der Regel versagte die örtliche Bodenpolitik (Grübl & Maringer 2002: 6-8; Weber 1987: 4-8).

In einer Publikation des Landes Niederösterreich heißt es: "Völlig unbeachtet bleibt bei der herkömmlichen Parzellierung nicht nur die Einbindung der Siedlung in Ort und Landschaft, sondern auch die künftige Wohnqualität in diesen Häusern. Es werden Grundstücke verkauft, die kaum sinnvoll zu bebauen sind, da die Ausrichtung der Häuser zur Sonne nur schwer bzw. nicht möglich ist. Produkt der heutigen Siedlungsplanungen sind Häuser, deren einzige Gemeinsamkeit es ist, an dasselbe Kanalsystem angestöpselt zu sein. Von gestalterischer Qualität dieser Siedlungen ist wenig zu erkennen, und die fehlerhafte Qualität im Außenraum setzt sich geradlinig bis ins Wohnzimmer fort: kein Bezug zu Garten und Landschaft, dafür eine gute Aussicht auf das WC-Fenster des Nachbarn" (NÖ Landesregierung 2002: 48). Dazu wäre noch mehr zu sagen: Die Grundstücksgrößen dieser Rastersiedlungen sind im Verhältnis zum verbauten Raum meist zu klein, um eine harmonisch-gestalterische Qualität für Haus und Garten zu ermöglichen. Die Schaffung auch eines bescheidenen intimen Freiraumes ist hier nicht möglich. Diese Grundstücksgrößen führen außerdem zu einer rasanten Verhüttelung und in der Folge zu meist schrecklich gestalteten Umzäunungen dieser Bauten (NÖ Landesregierung 2001: 6). Die allein schon von der Wohnsituation abhängige Wohnbefindlichkeit ist ein wesentliches kulturelles Qualitätskriterium. Von der optischen Qualität vieler dieser "niederösterreichischen Heimatstil-Häuser" soll hier nicht die Rede sein. Sie fällt vielen Leuten bekanntlich nicht oder erst nachträglich, wenn es schon zu spät ist, auf.

Neben diesem Zuzug von Städtern auf das Land, die als "Häuslbauer" in Erscheinung traten, gab es auch solche, die sich ein Haus oder einen alten, meist aufgelassenen Bauernhof kauften und diesen im Laufe der Jahre renovierten (Zottl 1985: 3-6). In beiden Fällen, bei den "Häuslbauern" und jenen, die sich in Altbauten niederließen, trafen im ländlichen Raum, vor Ort und ganz konkret, zwei Mentalitäten aufeinander: jene der Alteingesessenen und jene der Neuzugezogenen. Offiziell erhoffte man sich von dieser Entwicklung, dem Zuzug von meist jüngeren Familien, vordergründig wirtschaftliche Vorteile und meinte, dies sei in Zeiten überörtlicher Konzentrationsbestrebungen auf jeden Fall ein Gewinn und würde in der Folge vermehrter Abwanderung in städtische bzw. stadtnahe Ballungsräume entgegenwirken (Steyrer 2000: 14-16; Cikl 2000: 12 f.). Auch das Wissen um eine in Zukunft zu erwartende regional-wirtschaftliche Destabilisierung mag bei diesen Überlegungen eine gewisse Rolle gespielt haben. Bisher kaum bedacht und nicht beachtet hat man, wie schon vorhin angedeutet, mitunter gravierende mentale Unterschiede zwischen den alteingesessenen Einheimischen und den Zuzüglern, sofern es diesen überhaupt gelang, Fuß zu fassen. Meist unvermutet zeigten sich vorschnelle Urteile aufgrund bestehender Vorurteile beider Gruppierungen. Es kam zu Streitfällen, unerfreulichen Handlungen, Strategien der Ablehnung, ja Ausgrenzungen aufgrund von Meinungsverschiedenheiten, die auf unterschiedlichen kulturellen Voraussetzungen basierten: gegenseitiges Nichtverstehen und Nichtverstehenkönnen waren die Folgen. Drei Negativbeispiele: "Ich habe auch davon gehört, dass einem Zuzügler eine Fuhre Mist vor die Haustüre gekippt wurde, weil er permanent und wissentlich gegen ortsübliche Grundsätze verstoßen hat" (NÖ Landesregierung 1995: 40). Von Konflikten ist die Rede: "Verschwind`s dorthin, wos herkommen seids", rief mir letztens ein Bauer nach, als ich ihm unglücklich mitteilte, dass sein Hund bereits unsere fünfte Katze vor meinen Augen tot gebissen hatte [...] Ein Bauer bemerkte: "In unserem Dorf geschieht, was wir sagen [...]." (NÖ Landesregierung 1999: 48). Andernorts ist von gestohlenen Blumen und einem Grenzsteindiebstahl die Rede. Die Folge war in diesem Fall die Errichtung einer Mauer gegen alteingesessene, missgünstige, neidische Nachbarn (NÖ Landesregierung 2003: 49).

Aber auch von gelungenen und positiven Beispielen menschlicher Begegnungen, uneingeschränkten Hilfestellungen, von Anpassung, Akzeptanz und freundlicher Duldung wird berichtet; vielfach lassen sich positiv-innovative Engagements von Zugewanderten im ländlichen Raum belegen.

Ein paar Meinungen von Kennern gesellschaftlicher Normen im ländlichen Raum sollen angeführt werden: "Jede Gemeinde hat ungeschriebene Verhaltenscodices, katalogisiert Zuwanderer in ihr Ordnungsschema, teilt dem Zuwanderer seinen Platz in der Ortsgemeinde zu, lässt ihn in der Gesellschaft gedeihen oder verkümmern. Auch wenn die moderne Zeit viele dieser zum Teil mittelalterlichen Gesellschaftsnormen nicht mehr gelten lassen will, sie bestehen trotzdem und ändern sich nur sehr langsam."[...] "Gerade Großstädter haben es verlernt, gesellschaftliche Normen zu akzeptieren und meinen, auch wenn sie schon viele Jahre ,aufs Land fahren', ausreichend Verständnis für ihre Lebensform zu finden [...]" (NÖ Landesregierung 1996: 42). Ein "Zuwanderer" - so meint man - sollte sich "folgende Fragen ehrlich und realistisch beantworten, bevor er den Entschluss fasst, auf dem Lande leben zu wollen:

1. Habe ich vor, in dieser Gemeinde ständig zu leben und mich voll zu integrieren?

2. Akzeptiere ich den gesellschaftlichen Status, den mir die Gemeinde zukommen lässt?

3. Bin ich bereit, am Gemeindeleben (am besten ist, man wird dazu aufgefordert) teilzunehmen?

4. Werde ich vorherrschende Traditionen (z.B. Nachbarschaftshilfe anbieten, [...]) beachten?

Viele Enttäuschungen Zugezogener sind auf die ungenügende Nichtbeantwortung obiger Fragen zurückzuführen. Es empfiehlt sich daher, sich zunächst den sozialen Strukturen einer Gemeinde anzupassen und bestehende bzw. offensichtliche Missstände durch sanfte Meinungsbildung zu korrigieren" (ebenda).

Gründe für das Gelingen bzw. das Scheitern von erwarteter Beheimatung habe ich unter anderem zahlreichen Quellenbelegen, vor allem Leserbriefen in der Zeitschrift "Niederösterreich gestalten" entnommen, von deren umfangreicher Dokumentation ich hier nur kurz berichten konnte. Analysen dieses vielfältigen Materials könnten vielleicht in Zukunft helfen, kooperative Modelle zu entwickeln.

© Hermann Steininger (Wien)


LITERATUR

Cikl, B., 2000. Infrastruktur: Ein Segen für die Landschaft. Raum & Ordnung 2, 1: 12.

Früh, A., 1985. Stadtflucht wird zur Landplage. Raumordnung aktuell 9, 1 u. 2: 10-12.

Gisser, R., 1970. Intensität und Struktur der Zuwanderung in Wiener Umlandgemeinden. Kulturberichte 3: 4-8.

Greif, F., 1974. Der ballungsnahe ländliche Raum - eine gemeinsame Aufgabe für Stadt und Land. Gedanken zum Angriff einer regionalpolitischen Priorität. Agrarische Rundschau, ohne Jg., 8: 84-87.

Grübl, E. & U. Maringer, 2002. Die Stadt am Rand der Stadt. Gewollt - oder unliebsames Kind? Raum & Ordnung 4, 3: 6-8.

Kaufmann, A., 1974. Umfang und Struktur der Wohnungsmobilität im Wiener Umland. Ergebnisse einer Untersuchung des Instituts für Stadtforschung. Kulturberichte 7: 9-16.

NÖ Landesregierung (Hg.), 1995. Zuagroast. Eine Diskussionsplattform. NÖ Gestalten 61: 40.

NÖ Landesregierung (Hg.), 1996. Zuagroast. Eine Diskussionsplattform. NÖ Gestalten 65: 42.

NÖ Landesregierung (Hg.), 1999. Zuagroast. Eine Diskussionsplattform. NÖ Gestalten 82: 48.

NÖ Landesregierung (Hg.), 2001. Auslaufmodell Rastersiedlung. NÖ Gestalten 92: 6.

NÖ Landesregierung (Hg.), 2002. Was läuft falsch bei der Siedlungsentwicklung? NÖ Gestalten 98: 48.

NÖ Landesregierung (Hg.), 2003. Zuagroast. Eine Diskussionsplattform. NÖ Gestalten 101: 49.

Pevetz, W., 1975. Für eine soziologische Abgrenzung des "Ländlichen Raums". Agrarische Rundschau, ohne Jg., 6: 5-8.

Steyrer, H., 2000. Ländlicher Raum. Neue Strategien. Raum & Ordnung 2, 1: 14-16.

Weber, G., 1987. Wenn Freizeitmenschen seßhaft werden ... Probleme der Raumordnung mit den Zweitwohnsitzen. Raumordnung aktuell 11, 3: 4-8.

Zottl, B., 1985. Die Zweitwohnungen der Wiener im Weinviertel. Raumordnung aktuell 9, 1 u. 2: 3-6.


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Hermann Steininger (Wien): Kultur Rand Städte - Neue Menschen im "alten" Dorf: Zur Zuwanderung und Enkulturation im ländlichen Raum. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/03_7/steininger15.htm

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