Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. April 2004
 

4.8. Das Unbehagen in der Kultur - ein verbindendes Element in der Welt von heute ?
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Fritz Peter Kirsch (Wien)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Unbehagen an welcher Moderne?

Hans Schelkshorn (Wien)

 

Im Jahre 1930 stellte Sigmund Freud lapidar fest: "Es scheint festzustehen, daß wir uns in unserer heutigen Kultur nicht wohlfühlen"(1). Der Titel seiner Schrift "Unbehagen in der Kultur" hat in den folgenden Jahrzehnten einen spezifischen Diskurs über die Moderne initiiert. Denn Freud bezieht sich nicht auf die Kultur im allgemeinen, sondern auf die "heutige Kultur", oder, wie Zygmunt Baumann betont hat, auf "die Geschichte der Moderne", denn "nur die moderne Gesellschaft verstand sich selbst als eine 'Kultur' oder 'Zivilisation' im Sinne bewusster Aktivität und handelte aus diesem Selbstbild heraus."(2) Die Moderne hat allerdings, gerade weil sie sich als Zivilisation begreift, nicht nur ein, sondern zahlreiche Selbstbilder entworfen, die wiederum unterschiedliche Erfahrungen des Unbehagens generieren. Daher ist Baumanns Präzisierung von Freud - Unbehagen nicht in der Kultur, sondern in der Moderne - nochmals zu präzisieren, nämlich durch die Frage: "Unbehagen an welcher Moderne?"

Eine weitere Präzisierung ist heute unumgänglich. Freud behauptet, "daß wir uns in unserer heutigen Kultur nicht wohlfühlen". In diesem "wir" appelliert Freud offenbar an einen gemeinsamen, allen zugänglichen Erfahrungsraum unter den Bürgern der Moderne. Nun ist die Moderne zweifellos ein planetarisches Phänomen, zugleich droht jedoch die soziale Zerklüftung der Weltgesellschaft die Vorstellung einer alle Kulturen übergreifenden Erfahrung des Unbehagens zu sprengen. Dies ist in den letzten Jahrzehnten nicht nur von außereuropäischen Philosophien, insbesondere der lateinamerikanischen Philosophie der Befreiung(3), eindringlich herausgestellt worden; auch Jean-Francois Lyotard hat die Vorstellung von einem einheitlichen Wir der Moderne als Illusion entlarvt. Die Menschheit zerfällt - so Lyotard - in "zwei Teile. Der eine sieht sich der Herausforderung der Komplexität ausgesetzt, der andere der älteren, schrecklichen Herausforderung des eigenen Überlebens. Das ist vielleicht der Hauptgesichtspunkt für das Scheitern der Moderne, das im Prinzip ... für die gesamte Menschheit gelten sollte."(4)

Lyotards Diagnose erweckt den Verdacht, dass die philosophische Klage über ein Unbehagen an der Moderne ein Luxusthema der Menschen in den verwestlichten Wohlstandszonen der gegenwärtigen Weltgesellschaft ist. Armut und soziale Ungleichheit scheinen zudem eher eine Frage der Ethik und Gesellschaftskritik als der Kulturphilosophie zu sein. Vor diesem Hintergrund ist daher zunächst den Begriff des Unbehagens im Ausgang von Freud näher zu bestimmen (§ 1); in einem zweiten Schritt möchte ich den Zusammenhang zwischen Theorie der Moderne und der jeweiligen Diagnose des Unbehagens durch einige Beispiele illustrieren (§ 2); in einem letzten Schritt soll schließlich eine bisher vernachlässigte Dimension des Unbehagens in den Blick genommen werden, die aus typisch neuzeitlichen Entgrenzungsprozessen resultiert (§ 3).

 

§ 1 Zum Begriff des "Unbehagens"

Mit dem Begriff des Unbehagens unterläuft Freud festgefahrene Fronten im Diskurs der Moderne, die vor allem durch den Streit zwischen enthusiastischen Verteidigern und radikalen Kritikern des Fortschritts zementiert worden sind. So erteilt Freud der kulturpessimistischen Verwerfung der technologischen Errungenschaften der Moderne eine klare Absage. Die moderne Schifffahrt, das Flugzeug, das Mikroskop, die Photographie, die Grammophonplatte oder das Telephon, all das klingt - so Freud - "nicht nur wie ein Märchen, es ist direkt die Erfüllung aller - nein der meisten - Märchenwünsche, was der Mensch durch Wissenschaft und Technik hergestellt hat." (Freud, 450). Der technische Fortschritt hat zwar den Menschen nicht einfach glücklicher gemacht, doch daraus dürfe man nach Freud "nicht die Wertlosigkeit des technischen Fortschrittes für unsere Glücksökonomie ableiten." (Ebd., 446)(5) In gleicher Weise führt auch die kulturpessimistische Idealisierung vorstaatlicher Gesellschaften in die Irre; denn Stammesfehden und rigide hierarchische Ordnungsmuster unterwerfen den Wilden "Einschränkungen von anderer Art, aber vielleicht von größerer Strenge als [jene] des modernen Kulturmenschen." (Ebd., 475)

Freud grenzt seine Kritik der Moderne aber auch von den Geschichtsphilosophien ab, die seit Turgot die Idee des Fortschritts nicht nur auf den Bereich der Wissenschaft und Technik, sondern auch auf die Moral und Politik beziehen. Den Ideen eines moralisch-politischen Fortschritts lagen jeweils unterschiedliche Maßstäbe zugrunde. So forderte etwa Condorcet die Verwirklichung politischer und ökonomischer Gleichheit. Demokratie und die Überwindung der sozialen Zerklüftung im nationalen, aber auch globalen Rahmen zählen daher für Condorcet zu den unerledigten Aufgaben der Moderne.(6) Marx hat Condorcets Kritik an der Moderne noch verschärft, indem er als Wurzel sozialer Ungleichheit die gewaltsame Trennung der Arbeiter von den Produktionsmitteln freilegte. Die moralische Kritik an der Moderne ist bis heute nicht verstummt. Während Habermas, um die Probleme der Marxschen Arbeitswerttheorie zu vermeiden, die Moderne an den Maßstäben einer moralisch gehaltvollen Diskursrationalität misst, haben postkoloniale Philosophien, vor allem aus Afrika und Lateinamerika, erneut die Überwindung der sozialen und ökonomischen Zerklüftung der Weltgesellschaft gefordert.(7)

Im Unterschied zu den emanzipatorischen Fortschrittstheorien legt Freud seiner Kritik an der Moderne keinen moralisch-politischen Maßstab zugrunde. Der normative Bezugspunkt des Unbehagens ist nicht die Idee der Gerechtigkeit, sondern des Glücks; der ursprüngliche Titel von Freuds Schrift lautete daher Das Unglück in der Kultur. Mit der Änderung des Titels hat Freud die Diagnose des Unglücks nochmals abgeschwächt. Denn die neuzeitliche Subjektivierung des Begriffs des Glücks bürdet jedem Versuch, moderne Gesellschaften an einer bestimmten Vorstellung eines gelingenden Lebens zu messen, letztlich unerfüllbare Rechtfertigungspflichten auf. Freud formuliert seine These daher bewusst vorsichtig: wir sind in modernen Gesellschaften nicht einfach unglücklich, sondern nicht glücklich - kurz: welche Glücksvorstellungen wir auch immer haben, wir fühlen uns in modernen Gesellschaften nicht wohl. Freuds Begriff des Unbehagens ist daher in einem Feld situiert, das gleichsam zwischen Kulturpessimismus und Ethik, d. h. zwischen Entfremdung und moralischer Empörung liegt.

 

§ 2 Unbehagen in der Moderne oder Postmoderne - einige Splitter

Freud misst moderne Gesellschaften nicht im Licht einer inhaltlich gefüllten Glücksvorstellung, sondern verankert seine Kritik an einer gewagten metapsychologischen Triebtheorie, die von einer Gleichursprünglichkeit von Lust- und Todestrieb ausgeht. Kultur ist, so Freuds berühmte These, "auf Triebverzicht aufgebaut", genauer auf die Unterdrückung des Sexual- und Aggressionstriebs. Daher sein Resümee: "Wenn die Kultur nicht allein der Sexualität, sondern auch der Aggressionsneigung des Menschen so große Opfer auferlegt, so verstehen wir es besser, daß es dem Menschen schwer fällt, sich in ihr beglückt zu finden." (Freud, 474)

Zygmunt Bauman hat Freuds Diagnose aufgenommen und historisierend umgestülpt. Die Moderne ist nach Bauman aus dem Willen zur Ordnung und Sicherheit erwachsen. Wissenschaft und Technik schützen den Menschen vor der Hinfälligkeit des Körpers und der übermächtigen Natur, der moderne Verfassungsstaat vor dem aggressiven Nachbarn. Freud hat - so Baumann - die Kosten der Ordnung, "die der Stolz der Moderne und der Eckpfeiler all ihrer Errungenschaften war", aufgezeigt, nämlich Zwang, Einschränkung und Triebversagung. Kurz: Das Unbehagen, das Freud an der Moderne diagnostizierte, "entstand aus dem Übermaß an Ordnung und seinem unzertrennlichen Begleiter; dem Mangel an Freiheit." (Bauman, 9) Diese Diagnose ist jedoch inzwischen zur Historie geworden. Im "Zeitalter der Deregulierung", also rund siebzig Jahre nach Freud, nimmt - so Bauman - "die individuelle Freiheit den höchsten Rang ein, sie ist heutzutage der Wert, anhand dessen alle anderen Werte beurteilt werden" (Ebd., 10). Dennoch ist nach Bauman Freuds Analyse nicht obsolet geworden; denn Freud hatte erkannt, dass ein Wert stets gegen einen anderen eingetauscht werden muss. Aus diesem Tausch entspringt letztlich die Erfahrung des Unbehagens. Der Mensch der Moderne hat "für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht" (Freud, 474) Dem stellt Bauman die These entgegen: "Postmoderne Männer und Frauen haben ein Stück ihrer Sicherheitsmöglichkeit gegen ein Stück Glück eingetauscht." (Baumann, 11) Dem Konnex zwischen dem Tausch der Werte und der Erfahrung des Unbehagen entrinnt auch die Postmoderne nicht; denn die postmoderne Option für das Lustprinzip, für individuelle Freiheit und Differenz wird bezahlt mit einem Verlust an Sicherheit. "Litten die Sicherherheitsbedürftigen unter langweiligen und eintönigen Tagen, so sind die schlaflosen Nächte der Fluch der Freien." (Ebd.)

Die Moderne erscheint jedoch nur im Blickwinkel des Lustprinzips, das Bauman mit der Idee individueller Freiheit zusammenzieht, als ein Syndrom von Ordnung und Disziplin. Aus der Perspektive vormoderner Gesellschaften erscheint die Moderne hingegen, wie Peter L. Berger ausführte, nicht als Stiftung von Ordnung und Sicherheit, sondern im Gegenteil als Prozess traumatischer Entsicherung bzw. Entwurzelung.(8)

Nach Berger muss daher das "Unbehagen, das speziell der Pluralisierung der sozialen Lebenswelten entstammt", "unter die Rubrik 'Heimatlosigkeit' subsumiert werden". Denn die pluralistischen Strukturen der modernen Gesellschaft haben nach Berger das Leben von immer mehr Menschen nicht sicherer, sondern "nomadisch, ständig wechselnd, mobil gemacht." (Ebd., 159) Berger beschreibt daher das Wesen der Moderne exakt mit jenen Begriffen, mit denen Bauman das postmoderne Subjekt beschreibt, nämlich als ein nomadisches, multiples und entsichertes Subjekt. Umgekehrt werden im Gegensatz zu Bauman alle gesellschaftlichen Bewegungen, die eine Wiederherstellung von Ordnung anstreben, als Bewegungen der Entmodernisierung bezeichnet. Dazu gehören nach Berger auch die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Der Kampf gegen Entwurzelung, der in den 60er und 70er Jahren zumeist unter dem Banner nationaler Autarkie geführt wurde, ist, wie fundamentalistische Bewegungen in allen Weltreligionen bezeugen, auch im Zeitalter der Globalisierung keineswegs erloschen.

Auch für Jürgen Habermas lassen sich die zentralen Momente der Moderne nicht unter den simplem Begriff der Ordnung subsumieren. Das Wesen der Moderne liegt vielmehr in der Ausdifferenzierung von Wertsphären und Subsystemen, in denen Vernunftmomente, die in vormodernen Gesellschaften noch eine ungeschiedene Einheit bildeten, institutionalisiert werden.(9)

Das Unbehagen in der Moderne entsteht nach Habermas nicht durch ein Übermaß an Ordnung, sondern durch ein Ungleichgewicht, genauer durch eine einseitige Rationalisierung der Lebenswelt, in der die Systeme der Zweckrationalität - die moderne Marktwirtschaft und der Verwaltungsstaat - auf gesellschaftliche Bereiche wie Familie, Bildung, Wissenschaft oder Politik übergreifen, deren Reproduktion nur durch verständigungsorientiertes Handeln möglich ist. Der neoliberale Sturm der letzten Jahrzehnte hat Habermas' Diagnose der Kolonisierung der Lebenswelt, die ursprünglich auf hochentwickelte Gesellschaften bezogen war, eine globale Dimension verliehen; denn neoliberale Politik unterwirft postkoloniale und bereits hochgradig rationalisierte Gesellschaften gleichermaßen den Imperativen des Marktes.

Habermas' Unbehagen an der neoliberalen Kultur setzt noch voraus, dass sich die Moderne in ein Gleichgewicht bringen lässt; dieser Glaube ist im postmodernen Denken Lyotards verloren gegangen.(10) Wir leben nach Lyotard in einer Zeit der Erschlaffung; das Unbehagen in der Moderne erwächst nicht aus Triebverzicht, sondern aus der Enttäuschung über die großen Versprechen der Moderne. Nach der Entzauberung liberaler, marxistischer und sozialdemokratischer Visionen über eine befreite Menschheit breitet sich eine ideologische Perspektivenlosigkeit aus, die eine nihilistische Grundstimmung erzeugt. Die Ideale der Moderne werden zwar noch öffentlich proklamiert, doch der Glaube an ihre Geltung ist längst verloren gegangen. Anders formuliert: wir leben in einem moralischen Universum, an das wir selbst nicht mehr glauben.(11) Eine hohl gewordene moralische Welt gebiert neue Typen von Unbehagen, z.B. das Unbehagen an der eigenen Teilnahmslosigkeit - etwa gegen die Aushöhlung demokratischer Institutionen oder das Unbehagen an der eigenen Teilnahmslosigkeit etwa gegenüber dem unendlichen Leid der Millionen Aidskranken in Afrika.

 

§ 3 Unbehagen an der entfesselten Moderne

Der Streit zwischen Moderne und Postmoderne ist durch stereotype Dualismen wie "Vernunft versus Pluralität" oder "Ordnung versus individuelle Freiheit" geprägt. So gerät aus dem Blick, dass die Grenzen zwischen Moderne und Postmoderne zuweilen durchaus fließend sind: individuelle Freiheit ist auch für die Verteidiger der Moderne ein zentraler Wert, umgekehrt ist auch postmodernen Denkern bewusst, dass individuelle Freiheit durch gesellschaftliche Ordnungen geschützt werden muss. Darüber hinaus stellt sich jedoch die Frage, ob mit den Leitideen "Vernunft" und "Individualität" tatsächlich die normativen Prämissen moderner Gesellschaften umfassend umrissen sind. Meine These ist, dass wesentliche Signaturen der Moderne erst dadurch zustande kommen, dass sowohl die Vernunftautonomie als auch die individuelle Freiheit mit typisch neuzeitlichen Entgrenzungsprozessen verwoben sind, die sich in einem Kult entfesselter Selbststeigerung verdichten.(12)

Die historischen Wurzeln der Anthropologie der Selbststeigerung reichen bis in die Anfänge neuzeitlichen Denkens zurück, genauer in die Philosophie der Renaissance. Die Idee der Selbstkreation des Menschen ist zumindest rhetorisch von Pico della Mirandola in der berühmten Rede "De hominis dignitate" vorgestellt worden. Pico begreift das Wesen des Menschen nicht mehr bloß im traditionellen Sinn als animal rationale; der Mensch ist über seine Vernunftnatur hinaus vielmehr Schöpfer seines eigenen Wesens, d. h. "plastes et fictor" seiner selbst.(13) Das revolutionäre Motiv der Selbstkreation bleibt allerdings bei Pico noch in ein neuplatonischen Schema des mystischen Aufstiegs zum Göttlichen eingebettet. Die spezifisch moderne Sprengkraft von Picos Freiheitsbegriff kommt daher erst zur Entfaltung, als sich die Anthropologie der Selbstkreation mit der ebenfalls typisch neuzeitlichen Idee eines entgrenzten Universums verbindet.

Die kosmologische Revolution der frühen Neuzeit führt erstens, wie vor allem Hans Blumenberg gezeigt hat, zu Rehabilitierung der theoretischen Neugier, genauer der Unersättlichkeit der Neugier, die zuvor entweder aus moralischen Gründen (etwa bei Cicero), oder aus religiösen Gründen (vor allem bei Augustinus) problematisiert worden ist.(14) Die typisch neuzeitliche Weltbejahung im Sinne einer potentiell unendlichen Erschließung des entgrenzten Universums wird von Francis Bacon um die Vision einer entfesselten technischen Phantasie erweitert. Dadurch entsteht eine Idee von Wissenschaft, deren Ziel nicht mehr bloß in der Erkenntnis der Natur besteht, sondern, wie Bacon bereits in der frühen Schrift Valerius Terminus hervorhebt, in der Hervorbringung aller möglichen Praktiken und Wirkungen: "And to speak plainly and clearly, it is a discovery of all operations and possibilities of operation form immortality (if it were possible) to the meanest mechanical practice."(15)

Die neuzeitliche Gestalt der theoretischen Neugier, die zugleich die Entfesselung der schöpferischen und produktiven Fähigkeiten des Menschen impliziert, vollzieht daher nicht nur einen Bruch mit der antiken Idee von Wissenschaft, die in der Theoria des Göttlichen kulminiert, sondern leitet zugleich eine Umwertung einer Jahrtausende alten Vorstellung von Moral ein. Während in der griechisch-römischen Antike sämtliche Morallehren, auch die hedonistischen Strömungen, das Glück stets in der Seelenruhe verankert sahen, definiert Hobbes in De homine 11,15 das Glück als "ungehindertes Fortschreiten zu immer weiteren Zielen."(16) Für Platon war das rastlose Streben nach dem Neuen noch das Paradigma für ein unglückliches Leben, das einem lecken Fass gleicht, in das man immer neues Wasser nachgießen müsse.(17) In der Neuzeit wird hingegen, was für die antike Moralphilosophie stets mit Unbehagen verbunden war, zur Quelle möglichen Glücks umgewertet, nämlich das unstillbaren Streben nach neuen Zielen, das - unter dem Einfluss von Picos Idee der Selbstkreation - auch experimentelle Selbstentwürfe bis hin zu genetischen Manipulation der menschlichen Natur miteinschließt. Der Kult des Neuen trägt in sich das Pathos der permanenten Grenzüberschreitung. Nicht zufällig wird daher seit Bacon die Fahrt des Kolumbus ins offene Meer zum Symbol neuzeitlicher Lebensgestaltung.

Ich resümiere: Die Moderne ist nicht allein durch die Obsession der Naturbeherrschung geprägt, die von Heidegger über die "Dialektik der Aufklärung" (Horkheimer/Adorno) bis hin zum postmodernem Denken stets der Stoff einer radikalen Kritik an der Moderne war; im Gegenteil, seit der Renaissance artikuliert sich in der Moderne ein Kult entfesselter Selbststeigerung, dem einerseits die emphatische Affirmation von Pluralität und Differenz, andererseits die Faszination der Grenzüberschreitung, der riskanten Fahrt ins Ungewisse zugrunde liegt. Das Pathos der Grenzüberschreitung eröffnet jedoch nicht nur dem menschlichen Streben nach Glück neue Horizonte, sondern schafft auch neue Quellen des Unbehagens. Dazu abschließend zwei Hinweise.

Bereits im 19. Jahrhundert wurde die Frage virulent, welche Subsysteme der Idee der Freiheit im Sinne experimenteller Selbstkreation entgegenkommen. Manche Liberale wie John Stuart Mill, die ihrer Gesellschaftstheorie nicht nur die Freiheit qua rationaler Selbstbestimmung, sondern auch die Exzentrik schöpferischer Freiheit zugrunde legten, setzten ihre Hoffnung in die kapitalistische Wirtschaft. Denn die Marktwirtschaft regelt nicht bloß die materielle Reproduktion der Gesellschaft, sondern enthält einen systembedingten Innovationsdruck, in dem die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen gefordert sind. "Außer im Geschäftswesen ist bei uns" - so Mill - "kaum ein Anlaß für Energie vorhanden."(18) Marx hingegen sah im Kapitalismus die Negation der schöpferischen Kräfte des Menschen. Der Kapitalismus mag zwar einer kleinen Elite neue Freiheitsräume eröffnen, gleichzeitig wird jedoch die Masse der Arbeitenden zum nackten Überlebenskampf verdammt. Dennoch hält auch Marx am Ideal experimenteller Selbstkreation grundsätzlich fest; dessen Realisierung wird jedoch in die utopische Zukunft verlegt. Erst im "Reich der Freiheit" kann sich der/die Einzelne "in jedem beliebigen Zweige ausbilden"; so ist es etwa möglich "heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden."(19)

Kurz: Die ungeheure Dynamik der Marktwirtschaft eröffnet zwar experimentellen Lebensformen Realisationsmöglichkeiten, von denen vormoderne Gesellschaften allenfalls geträumt haben. Da jedoch die marktvermittelte Freisetzung von Kreativität dem unbarmherzigen Zwang der Profitmaximierung unterworfen ist, ist die Marktwirtschaft zugleich der Ort, in dem die Hoffnungen experimenteller Selbstkreation systematisch enttäuscht werden. Das Unbehagen resultiert nicht mehr aus einem Tausch zwischen Werten, sondern erwächst aus der immanenten Ambivalenz der Marktwirtschaft, die schöpferischer Freiheit einen gesellschaftlichen Raum eröffnet und ihren Eigensinn zugleich pervertiert. Aus diesem Grund flüchtet sich die moderne Idee einer entfesselten Freiheit in andere Subsysteme, vor allem in die Kunst und in Alternativkulturen, ohne jedoch den ökonomischen Imperativen vollständig entrinnen zu können.

Ein zweiter Brennpunkt, in dem sich vielfältige Erfahrungen des Unbehagens versammeln, entsteht durch die globale Ausbreitung der Moderne. Unbehagen erzeugt nicht nur die Dynamik der Expansion der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, die sowohl die Ökosphäre als auch kulturelle Traditionen bedroht. In der Moderne ist auch ein kultursensibler Universalismus entstanden. Spätestens seit Herder und Humboldt etablierte sich im neuzeitlichen Denken eine Tradition, die für experimentelle Lebensformen nicht bloß innergesellschaftliche Freiräume erkämpft, sondern die verschiedenen Kulturen selbst als Experimente des Menschseins begreift. Sprachen sind für Humboldt Weltansichten, deren Reichtum nicht nur bewahrt, sondern sogar noch vervielfältigt werden soll. "Da der in der Welt sich offenbarende Geist durch keine gegebene Menge von Ansichten erschöpfend erkannt werden kann, sondern jede neue [Sprache] immer etwas Neues entdeckt, so wäre es vielmehr gut, die verschiedenen Sprachen so sehr zu vervielfältigen (!), als immer die Zahl der Erdboden bewohnenden Menschen erlaubt."(20)

Da jedoch vormoderne Kulturen sich selbst nicht als experimentelle Realisationen von Humanität begreifen, ihre Morallehren nicht auf dem Prinzip entfesselter Selbststeigerung, sondern auf den Ideen des Maßes und der Selbstbegrenzung aufruhen, droht auch der kultursensible Universalismus der Moderne, der sich gegen die zerstörerischen Folgen der Ausbreitung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation stemmt, für andere Kulturen zu einer Quelle des Unbehagens zu werden. Denn auch die Begegnung mit den ästhetischen und kreativen Dimensionen der entfesselten Moderne zerbricht den kulturellen Horizont von traditionalen Gesellschaften, deren Vielfalt gerade bewahrt werden sollte. So produziert die spezifisch moderne Affirmation kultureller Differenz, die nach Humboldt durch die schöpferische Freiheit einzelner noch gesteigert werden soll, ihre eigene Enttäuschung. Doch die Vorstellung der "Begegnung" zwischen moderner und vormodernen Kulturen ist angesichts der planetarischen Ausbreitung der Moderne ohnehin längst eine anachronistische Fiktion. So ergibt sich die Situation, dass das eben erst erwachte Bewusstsein für kulturelle Vielfalt zunächst einen gigantischen Scheiterhaufen zerstörter Kulturen und verschwundener Sprachen entdeckt, der durch die (neo)kolonialen Globalisierungswellen in der Geschichte der Neuzeit angehäuft worden ist und weiter aufgeschichtet wird. Die typisch moderne Affirmation kultureller Differenz scheint stets zu spät zu kommen; sie trifft den kulturell Anderen zumeist nur mehr im freien Fall.

Auf der anderen Seite versetzen die Schockwellen (neo-)kolonialistischer Expansion Völker und Kulturen in eine traumatische Situation, die sie zu kollektiven Experimenten zwingt, in denen sich Strategien der Abwehr mit Gefühlen der Faszination mischen: Abwehr, weil die Moderne mit Jahrtausende alten moralischen Intuitionen bricht; Faszination, weil sie menschlicher Freiheit völlig neue Horizonte eröffnet. Doch selbst konstruktive Modernisierungsprozesse hinterlassen einen fahlen Nachgeschmack, da sämtliche "Experimente" kollektiver Selbstkreation durch den Zwang der Selbstbehauptung gegenüber (neo-)kolonialisticher Überwältigung überschattet sind.

Die verschiedenen Teile der fragmentierten Weltgesellschaft sind zwar - dies kann als Resümee festgehalten werden - nicht einfach durch ein gemeinsames "Wir" verbunden, aber doch durch überlappende Erfahrungen des Unbehagens, die vom Schock der Entwurzelung über die Melancholie des kultursensiblen Universalismus bis hin zu den Ambivalenzen der wissenschaftlich-technischen, ökonomischen und ästhetischen Dimensionen der entfesselten Moderne reichen.

© Hans Schelkshorn (Wien)


ANMERKUNGEN

(1) S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 14, Frankfurt/M. 1999, 446.

(2) Z. Baumann: Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg 1999, 7.

(3) Vgl. dazu etwa E. Dussel: Ética de la liberación en la edad de la globalización y de la exclusión, Madrid 1998; Auszüge aus diesem Werk in deutscher Übersetzung sind erschienen: Ders.: Prinzip Befreiung. Kurzer Aufriß einer kritischen und materialen Ethik, Aachen 2000.

(4) J.-F. Lyotard: Notizen über die Bedeutung von "post", in: ders.: Postmoderne für Kinder, Wien 1987, 104.

(5) Der Kulturpessimismus verkehrt nach Freud jeden technischen Fortschritt in sein Gegenteil, z.B. "gäbe es keine Eisenbahn, so hätte das Kind die Vaterstadt nie verlassen, man brauchte kein Telephon, um seine Stimme zu hören." (Ebd., 447)

(6) Vgl. dazu M.J.A. Condorcet: Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte der menschlichen Geschichte, hrsg. v. W. Alff, Frankfurt/M. 1976, 193-222.

(7) Vgl. dazu aus afrikanischer Sicht die präzise Studie von Henry Odera Oruka: Philosophie der Entwicklungshilfe, in&nbsp: Polylog - Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 6 (2000) 6-16.

(8) P. L. Berger: Das Unbehagen an der Modernität, Frankfurt/M. 1987.

(9) Vgl. dazu vor allem Jürgen Habermas: Theorie kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt/M. 1981.

(10) Vgl. zum folgenden J.-F. Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, in: ders.: Postmoderne für Kinder, Wien 1987, 11-31.

(11) Könnte es sein, dass vor allem die verwestlichten Teile der gegenwärtigen Weltgesellschaft in den Nihilismus des 19. Jahrhunderts zurückgeworfen sind, den Jean Paul Sartre bereits in "La Nauseé" so gnadenlos beschrieben hat?

(12) Eine ausführliche Entfaltung dieser These ist derzeit in Arbeit; vgl. dazu auch eine Skizze zu einigen Grundlinien: Hans Schelkshorn: Rationale Selbstbestimmung oder entfesselte Selbstkreation? Zum Freiheitsbegriff moderner Demokratie, in: R. Fronet-Betancourt Raul (Hrsg.): Demokratie im Vergleich der Kulturen, Frankfurt/M. 2003, 129-160.

(13) Pico della Mirandola: Oratio de hominis dignitate. Rede über die Würde des Menschen, lat./dt., hrsg. und übers. von G. v. der Gönna, Stuttgart 1997, 9.

(14) Vgl. dazu Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/M., 2. Aufl. 1988, 263-528.

(15) Francis Bacon: Valerius Terminus. Von der Interpretation der Natur, engl.-dt. hrsg. v. F. Träger, Würzburg 1984, 42.

(16) Thomas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III, eingel. und hrsg. von G. Gawlick, Hamburg 1994, 29.

(17) Platon: Gorgias 492d-494c.

(18) J. St. Mill: Über die Freiheit, Stuttgart, 1988, 97.

(19) K. Marx: Deutsche Ideologie, in: MEW 3, 33.

(20) W.v. Humboldt: Werke in fünf Bänden, Bd. 4: Schriften zur Sprachphilosophie, hrsg. von A. Flitner u. K. Giel, Darmstadt 41986, 167f.


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