Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. April 2004
 

4.8. Das Unbehagen in der Kultur - ein verbindendes Element in der Welt von heute ?
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Fritz Peter Kirsch (Wien)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Differenz als Defizienz oder als Chance

Franz Martin Wimmer (Wien)

 

In frühen portugiesischen Beschreibungen der Gesellschaften und der Sprachen an der Küste Brasiliens - die damals "Santa Cruz" genannt wurde - findet sich der Hinweis, dass diesen Menschen drei Laute fehlen. Wörter, in denen einer dieser Laute vorkommt, könnten sie nur verstümmelt aussprechen wie etwa die portugiesische Version meines Vornamens, "Francisco", den sie als "Pancico" wiederholen. Es sind die Laute "F", "L" und "R", die den Bewohnern dieses bisher unbekannten Landes unbekannt sind.

Dies sind aber nun nicht irgendwelche Laute, sondern diejenigen, mit denen in Latein und dessen Tochtersprachen jene Begriffe anlauten, die eine zivilisierte Gesellschaft überhaupt grundlegen: FIDES, LEX und REX, also Glaube, Gesetz und König. (1) Die Formel wiederholt sich von dieser ersten Beobachtung an durch drei Jahrhunderte, dass eben das Fehlen dieser Begriffe bei den Einwohnern Brasiliens für jede politische, moralische, missionarische, kurz: für jede entwicklungsbezogene Maßnahme leitend sein müsse, dass alles berechtigt sei, was dem bedauerlichen Zustand dieser Menschen Abhilfe verschafft. Sie sind, wie die Formel im Portugiesischen lautet, "sem fé, sem lei e sem rei"; sie haben "keinen Glauben, kein Gesetz, keinen König", leben ohne Ordnung und ohne Herrschaft, kennen weder Rechnung noch Gewicht, noch Maß.

Das Fremde wird hier deutlich am Eigenen gemessen. Man muss hinzufügen, dass dabei durchaus ein intensives Interesse am sprachlich-kommunikativen Verstehen gegeben war, allerdings so, dass die gedanklichen Inhalte der fremden Gesellschaft nur unter eine von zwei Kategorien fallen konnten: Sie waren entweder falsch oder sie deckten sich mit dem Eigenen, nur in der Form davon verschieden.

Gabriel Soares de Sousa weiß es 1587 ziemlich genau: Wenn diese Menschen kein "F" kennen, so darum, weil sie an nichts glauben, was sie verehren; auch als Getaufte glauben sie nicht an "Unseren Herrn und an die Wahrheit". Sie sprechen kein "L" aus, weil sie keine Regierung kennen und "jeder macht sich das Gesetz nach seiner Art und wie es ihm gefällt" - sie lassen sich nichts vorschreiben und schreiben einander nichts vor. Das "R" ist ihnen unbekannt, weil sie niemandem gehorchen, "auch nicht der Sohn dem Vater und jeder lebt ganz nach eigenem Willen".(2)

Kann man sich vorstellen, dass auch nur ein winziger Überrest der Übertragung von der "Welt der Grammatik" auf eine "Grammatik der Welt", wie der brasilianische Historiker Martins das nannte, überlebt haben könnte? Er selbst meint, "diese Dummheiten" seien "endgültig" im 18. Jahrhundert(3) widerlegt worden. Das wird im konkreten Fall so sein. Aber betrifft es auch das Allgemeine an diesem Beispielsfall?

Das Allgemeine dieses Falles liegt in Folgendem: Bestimmte Ausdrucksformen der eigenen Gesellschaft werden als allgemein menschlich oder normal angesehen und deren tatsächliches oder angebliches Fehlen in einer anderen Gesellschaft als Mangel an Menschentum.

 

Differenz versus Defizienz

Zunächst handelt es sich auch bei der Zuschreibung eines Mangels um nicht mehr als die Wahrnehmung einer Differenz im Verhältnis zum Eigenen. Es ist durchaus möglich, dass dem auch die Wahrnehmung anderer Differenzen entsprechen kann, die nicht ein Weniger, sondern ein Mehr, die eine positive Differenz besagen. Im Beispielsfall wäre das etwa die Wahrnehmung vom Vorhandensein von Lauten oder Ausdrucksmöglichkeiten in einer fremden Sprache, die in der eigenen nicht vorhanden sind, also eines möglichen Reichtums und nicht eines Mangels.(4)

Das angeführte Beispiel legt jedoch eine solche Wahrnehmung nicht nahe, es illustriert vielmehr den Schritt vom Wahrnehmen einer negativen Differenz zur Feststellung einer Defizienz. Zugleich damit ist im Beispielsfall das Bewusstsein gegeben, dass in der eigenen Kultur die Mittel vorhanden sind, um dieser Defizienz gegen zu steuern, die in der anderen Kultur anscheinend nicht vorhanden sind.

Der aus der Differenzwahrnehmung zugeschriebene Mangel kann aus einer derartigen Sichtweise nicht mit Mitteln der differenten Kultur selbst bewältigt werden, die ja eben in diesem spezifischen Punkt nicht nur different, sondern defizient ist. Ein solcher Mangel scheint Eingriff und Lenkung zu erfordern. Es wäre unzulässig, Repräsentanten der als defizient erkannten Gesellschaft oder Kultur als gleichberechtigte Partner anzuerkennen. Einzelfälle von Akkulturation an solche Kultur mögen zwar vorkommen - und sind z.B. auch aus der frühen Kolonialgeschichte Brasiliens belegt -, aber sie werden als Gefährdung nicht nur der einzelnen Beteiligten, sondern letztlich der Menschheit überhaupt dargestellt, weil diese damit etwas aufgeben würde, was nicht ohne Verlust aufgegeben werden kann.

Die eigentliche Gefahr, die von Menschen ausgeht, die "sem fé, sem lei e sem rei" sind, besteht darin, dass andere, die in der richtigen Grammatik geschult sind, die unter den Ideen des wahren Glaubens, des Gesetzes und des Königs von Gottes Gnaden leben, daran zu zweifeln beginnen, dass all dies unbedingt richtig, nötig und gut, womöglich aus der Natur des Menschen ableitbar ist. Solche stehen in der Gefahr, mit der eigenen Kultur die höhere Menschheit aufzugeben. Die anderen hingegen, als kulturelle Mängelwesen, haben nur dann eine Chance, diese höhere Stufe der Menschheit zu erreichen, wenn sie ihre kulturellen Besonderheiten abstreifen - sofern sie das können.

So verlief im Übrigen auch die Argumentation gegen eine Auswanderung nach Amerika und eine Anpassung an die dortigen klimatischen Verhältnisse überhaupt, wie sie beispielsweise in Preußen zur Zeit Friedrichs II. gängig war. Da eine sehr verbreitete Annahme besagte, dass das amerikanische Klima insgesamt zur Degeneration von Lebensformen - der Pflanzen wie der Tiere und der Menschen - führen müsse, konnte einer der Propagandisten dieser sogenannten Dekadenztheorie bündig formulieren, es handle sich bei der Entdeckung und europäischen Besiedlung Amerikas um einen derartigen Aderlass der kultivierten Menschheit, dass diese eine zweite derartige Entdeckung wohl schwerlich überstehen würde.(5) Und auch Herder, der betont, es handle sich bei der amerikanischen Dekadenz aller (tierischen und menschlichen) Lebensformen um klimatisch bedingte Einflüsse, wobei dieses Klima den Einheimischen aber "eine gute Mutter" sei, stimmt doch bei, dass es für europäische Zuwanderer verderblich sei. (6)

Es gibt aber bei der Feststellung von kulturell bedingten Differenzen nicht nur die Option, im Fremden den Mangel festzustellen, wie dies Gürses einmal, ausgehend von dem, wie er sagt, "volkstümlichen Spruch ...'Zivilisation ist, wenn man eine Badewanne besitzt. Kultur ist, wenn man sie benutzt'" ausgeführt hat. Unter anderem diese:

Kulturrelativisten stellten die Einzigartigkeit der Badewanne in Frage und priesen vom türkischen Dampfbad bis zum guten alten Fluß alles Nichteuropäische als genauso gut geeignete hygienische Infrastruktur. Der Multikulturalismus dachte über ein sehr großes Badezimmer nach: halb überdacht, mit Wannen verschiedenster Architektonik nebst Badeteich, Fluß, Wasserfall, Dusche und Dampfbad drin. (7)

Es gibt theoretisch die selben Möglichkeiten bei unserem Ausgangsbeispiel und bei jeder Konstatierung einer Differenz. Historisch und politisch, auch kulturtheoretisch am hartnäckigsten scheint mir aber doch die Identifizierung von Differenzen mit Mängeln und damit der "Zwang zur Homogenisierung" zu sein, den etwa Reinprecht bei Zivilisationstheoretikern wie Mead, Elias und Gellner gerechtfertigt sieht.(8)

Wir haben uns daher im Zusammenhang der Thematik von "Kultur und Entwicklung" vor allem mit der Frage auseinander zu setzen, ob es einen produktiven und nicht nur einen potentiell oder real zerstörerischen Umgang mit anderen Kulturen dann gibt, wenn Differenzen als Indikatoren für Defizienz des Anderen wahrgenommen werden.

 

Differenz als Defizienz

Im Verlauf der Geschichte des Abendlands mit seinen Anderen sind nicht nur fehlende Buchstaben oder Laute konstatiert worden, eine Liste von zugeschriebenen Mängeln wäre lang. Ich greife einige willkürlich heraus.

Den Bewohnern von Feuerland fehle nicht nur Religion, sondern sogar menschliche Sprache. Sie geben nach dem Zeugnis des Kapitän Cook lediglich Räusperlaute von sich, und Darwin verdeutlicht: "aber sicher hat kein Europäer jemals seine Kehle mit so viel harschen Gutturalen und glucksenden Geräuschen gereinigt".(9)

Chinesen seien, so besagt eine im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert verbreitete Meinung, zwar in ihren ethischen und sozialen Institutionen allen anderen Völkern überlegen: "Wäre ein weiser Mann zum Schiedsrichter nicht über die Schönheit von Göttinnen, sondern über die Vortrefflichkeit von Völkern gewählt worden, würde er den goldenen Apfel den Chinesen geben", schreibt Leibniz 1699(10), aber eben leider unfähig, sich selbst aus ihrer jahrhundertelangen Stagnation zu befreien, was noch Weber konstatiert, der eine Reihe von Veränderungen in der Geschichte Chinas sieht, "die mit 'innerer Entwicklung' keinerlei Verwandtschaft hat, seitdem der Feudalismus zerschlagen war".(11) Somit fehlt ihnen Entwicklungsfähigkeit.

Juden fehle, so Herder, jeder Sinn für Heimat, sie seien ein Volk, "das trotz aller Unterdrückung nirgend sich nach Ehre und Wohnung, nirgend nach einem Vaterlande sehnt"(12), und Hegel belehrt uns, sie seien unfähig zur Bildung eines Staates: "Der Staat ... ist das dem jüdischen Prinzip Unangemessene und der Gesetzgebung Mosis fremd."(13)

Afrikanern fehle ganz allgemein politische Kompetenz und Reife im 20. Jahrhundert. Ich zitiere einen Autor aus der Zeit der politischen Entkolonisierung:

"Dem demokratischen Glaubensbekenntnis der 'schwarzen' Afrikaner steht nun allerdings das der weißen Siedler gegenüber, die das Konzept von der 'Reife' als Vorbedingung für Selbstverwaltung oder gar Selbstregierung vertreten. Maßgebend für die Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte ist nach dieser Auffassung der Nachweis des einzelnen, daß er eine bestimmte Zivilisationsstufe erreicht hat, sei es im Hinblick auf Schulbildung, Einkommen, Lebenserfahrung oder, wie in den portugiesischen Provinzen, Christianisierung."(14)

Derselbe Mangel und damit die Notwendigkeit, Herrschaft über sie auszuüben, wird im 19. Jahrhundert aber auch bei Iren, bei allen romanischen und slawischen bzw. generell bei allen "weiblichen" Völkern konstatiert.(15)

Solche und ähnliche Zuschreibungen von Mängeln betreffen sehr allgemeine Merkmale einer Gesellschaft, Kultur oder, nach dem vorherrschenden Sprachgebrauch des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, einer "Rasse"(16). Sie stehen stets in Bezug auf etwas Allgemeines, das von dem jeweiligen Mangel frei, in dieser Hinsicht voll entwickelt und somit dazu imstande wie auch verpflichtet ist, dem Mangel der Anderen abzuhelfen.(17)

Was nun die Philosophie im engeren Sinn betrifft, so ist bei Kulturen und Gesellschaften außerhalb Europas ebenfalls eine Reihe von eklatanten Mängeln konstatiert worden, aufgrund derer ihre geistigen Leistungen entweder gar nicht oder nur auf einer primitiven Stufe bzw. Vorstufe dem zuzurechnen sind, was als "Philosophie" weltgeschichtlich nur einmal, und zwar von Griechen und deren abendländischen Erben, hervorgebracht wurde. Wenn dabei gelegentlich von einer "Protophilosophie" gesprochen wurde, so muss man sich verdeutlichen, dass diese Vorstellung in etwa der Wortfolge einer "Kultur der Kulturlosen"(18) entspricht.

Um welche Mängel, die "Philosophie" verhindern, handelt es sich? Vielen Gesellschaften fehlt die Entwicklung oder der Gebrauch von Schrift. Das mache Wissenschaft und darauf reflektierende Philosophie im strengen Wortsinn für sie von vornherein unmöglich. Dies betrifft beispielsweise die Frage nach der Philosophie im traditionellen Afrika.(19)

In den meisten Gesellschaften seien die als notwendig erachteten Bedingungen für philosophisches Denken - individuelle Freiheit und Konkurrenz - nicht erreicht oder unterdrückt worden, sodass jede Möglichkeit zur Entwicklung dieses Denkens fehlt.

Der Orient, von geknechteten, unmündigen, phantastischen Volksherden bewohnt, konnte nur Religionssysteme, keine Philosophie hervorbringen. Was von "orientalischer Philosophie" geredet wird, ist Fabel oder Mißverständnis. (20)

Einige Kulturen, wie die indische, hätten zwar Schriftlichkeit, auch Wissenschaften und Technik, sie seien aber aus irgendwelchen, zu erklärenden Gründen nicht zu festen Begriffen gelangt. So stellt etwa Hegel fest:

In der orientalischen Philosophie haben wir auch bestimmten Inhalt gefunden, der betrachtet wird; aber die Betrachtung ist ganz gedankenlos, ohne Systematisierung, weil sie darüber steht, außer der Einheit. ... Das Besondere hat nur die hölzerne Form des Räsonierens und Schließens, wie auch bei den Scholastikern. ... In der indischen Philosophie ist die Idee nicht gegenständlich geworden; das Äußere, Gegenständliche ist daher nicht nach der Idee begriffen worden. Es ist dies das Mangelhafte des Orientalismus.(21)

Chinesen fehle überhaupt jede Fähigkeit zu metaphysischer Reflexion und theoretischem Denken, befand ein Rassentheoretiker um die Wende zum 20. Jahrhundert:

... wollen wir den ganz genauen Antipoden des arischen Inders bezeichnen, so müssten wir den Chinesen nennen: den egalitären Sozialisten im Gegensatze zum unbedingten Aristokraten, den unkriegerischen Bauern im Gegensatze zum geborenen Waffenhelden, den Utilitarier par excellence im Gegensatze zum Idealisten, den Positivisten, der organisch unfähig scheint, sich auch nur bis zur Vorstellung des metaphysischen Denkens zu erheben, im Gegensatze zu jenem geborenen Metaphysiker, dem wir Europäer nachstaunen, ohne wähnen zu dürfen, dass wir ihn jemals erreichen könnten. Und dabei isst der Chinese ... noch mehr Reis als der Indoarier! (22)

Juden gelangten angeblich in der Philosophie nicht über Rationalismus und Formalismus hinaus:

Der theologisch emanzipierte Typ der j.[üdischen] Ph.[ilosophie] zeigt sich in plumper Eindringlichkeit sogleich noch Ende des 18. Jh. in Maimons überspitztem Rationalismus, auf dessen Linie Cohen und der gesamte jüd. sog. 'Neukantianismus' der Gegenwart weiterschritt, aber auch die sich durch den Neuhegelianismus, die Psychologie, die Phänomenologie, die philosophische Anthropologie hindurchziehenden Strömungen an j. Ph., als deren formale Haupteigenschaften Grunsky Formalismus und Logizismus festgestellt hat. (23)

Anderen wiederum fehle eine Sprache von der Art, dass in ihr überhaupt erst wirklich philosophiert werden könnte.(24) Unter dieses Verdikt können auch europäische Sprachen, wie etwa das Spanische, fallen.

Daß ... ein dicker Schleier von Unkenntnis oder Mißverständnissen manchmal auch die Sehschärfe Gelehrter anderer philosophisch tonangebender Nationen verdunkelt, davon zeugt u.a. ein Ausspruch von Victor Delbos, der auf eine kaum für möglich gehaltene Geringschätzung spanischen Geistes schließen läßt: 'Pour connaître la totalité de la philosophie, il est nécessaire de posséder toutes les langues, sauf toutefois l'espagnol!' (25)

Auch hier ist die Liste der konstatierten Mängel nicht vollständig, aber ich verlasse jetzt den Beispielsfall und gehe zu der Frage über, "ob die Begegnung mit anderen (mit anderen Kulturen) auch anders als 'egoistisch' verlaufen kann."(26)

 

Drei Beurteilungen oder Die Predigt vom guten Räuber

Das Verbum "rauben", so berichtet im 16. Jahrhundert der Missionar Franz Xaver aus Indien, wird dort "in allen Modi konjugiert" und einer seiner späteren Mitbrüder erläutert in der königlichen Kapelle von Lissabon in einer feierlichen Predigt, wie dies zu verstehen und dass es auch diesseits des Kaps der Guten Hoffnung nicht anders sei. Der biblische Text, den Antônio Vieira seiner Predigt zugrunde legt, ist die Kreuzigung des Jesus von Nazareth gemeinsam mit zwei Räubern. Der eine von ihnen (in der christlichen Ikonographie der "linke Schächer") bleibt aggressiv und fordert: "Bist du nicht der Christus? Rette dich und uns." Der andere (der "rechte Schächer") hingegen bereut und bittet: "gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst." Zu ihm sagt Jesus nach dem Bericht des Lukas: "Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein."

Es gibt gute Räuber und böse Räuber. Es gibt Räuber, die einen König in die Hölle bringen können, und andere, die der König in seinen Dienst nimmt und ins Paradies führt. Der theologische Anlass führt zur Reflexion über die richtige Räuberei. Der Prediger spricht nicht von Elenden, die aus Armut oder Gemeinheit rauben, sondern von solchen, die "eigentlich und verdientermaßen" Räuber sind: "es sind diejenigen, denen die Könige ihre Heere und Legionen anvertrauen oder die Regierung von Provinzen oder die Verwaltung von Städten, die schon am Morgen und mit Macht die Völker berauben und ausplündern. ... andere, wenn sie stehlen, werden gehängt, sie stehlen und hängen." Das tun alle, die im Dienst des Königs stehen, aber es gibt doch unter ihnen gute und böse Räuber.

Pater Vieira erläutert dem König von Portugal und seinen Großen, was die einen und die andern auszeichnet, aber zuvor beseitigt er jeden Zweifel daran, dass das, was Portugal in seinen Kolonien betreibt, Räuberei(27) ist - es wird nur eben darauf ankommen, gute Räuber einzusetzen und diese rauben zu lassen, dann wird das Reich blühen. Doch in welchen "Modi" wird das Verb "rauben" im portugiesischen Kolonialreich konjugiert? Ich will den Passus aus dem "Sermão do Bom Ladrão" von 1654 ausführlich zitieren, denn die grammatischen Formen beschreiben eine ganze Reihe von Ausbeutungsformen:

Man konjugiert das Verb "rapio" in allen Modi; denn man stiehlt nach allen Arten der Kunst, nicht zu reden von neuen und gefinkelten, von denen weder Donatus noch Despauterius [die beiden "Schächer", FMW] etwas wußten. Sobald man dort ankommt, beginnt man zu stehlen im Indikativ, denn die erste Information, die man von den Lotsen verlangt, ist, daß er einem die Wege weist und zeigt, wo man alles überblicken kann. Man stiehlt im Imperativ, denn sowie man die reine und gemischte Befehlsgewalt hat, wird sie ganz und despotisch für die Ausführung von Raubzügen eingesetzt. ... Gestohlen wird auch im Optativ, denn was einem gut erscheint, das wünscht man; und indem man die gewünschten Dinge ihren Besitzern gegenüber lobt, übereignen sie einem diese aus Höflichkeit, ohne es zu wollen. Man stiehlt im Konjunktiv, denn man vereinigt sein geringes Vermögen mit demjenigen derer, die über viel verfügen ... Gestohlen wird auch im Potentialis, denn ohne Vorwand oder weitere Umstände gebraucht man seine Kraft. Man stiehlt im permissiven Modus, denn man erlaubt, daß andere stehlen, und diese kaufen die Erlaubnis dazu. Man stiehlt im Infinitiv, denn das Stehlen ist nicht zu Ende mit dem Ende der Regierung und man läßt immer Wurzeln dort, aus denen sich die Diebstähle wieder erneuern werden ... (28)

Woher kommt das Recht des Königs, überall rauben zu lassen und welchem "König" steht dieses Recht zu? Es sind meines Erachtens drei Urteile über die Wertigkeit der eigenen und der anderen Kultur oder Gesellschaft möglich, gemäß denen sich das Rauben, das bei gegebener Möglichkeit zwischen ihnen stattfindet, modifiziert. Das erste Urteil behauptet die exklusive Gültigkeit und Wertigkeit des Eigenen, und dies liegt in der zitierten Predigt zugrunde. Eine zweite Beurteilung, realistischer als die erste, behauptet eine Egalität zwischen den differenten Kulturen, zumindest zwischen einigen oder in einigen Bereichen. Sie würde das Rauben auch anderen zugestehen oder zumindest damit rechnen. Drittens kann das Verhältnis zwischen Kulturen als komplementär beurteilt werden, wobei ebenfalls die einen von den andern nehmen, wenn auch deklarierterweise nicht, ohne zu geben.

 

Exklusivität

Pater Vieira hatte aus seiner Lektüre alttestamentlicher Propheten, des Isaias und des Daniel, die Gewissheit gewonnen, dass Portugal und nur Portugal die Weltherrschaft zusteht. So schreibt er in seiner "Geschichte der Zukunft" folgerichtig:

... weil die meisten der künftigen Seligkeiten, die zu erwarten sind, und die herrlichsten davon der portugiesischen Nation nicht nur zu eigen sind, sondern einzig und ausschließlich ihr. ... Für die Feinde wird es Leid sein, für die Gegenspieler Neid, für die Freunde und Genossen Freude, und für euch zuletzt der Ruhm und in der Zwischenzeit die Hoffnung. (29)

Das war realpolitisch im 17. Jahrhundert nicht besonders klarsichtig,(30) aber darauf kommt es mir nicht an. Wesentlich ist, dass hier mit einer Absolutheit und Gewissheit von der exklusiven Wertigkeit und Gültigkeit des Eigenen gesprochen wird, die jedes Eigenrecht anderer nur nach der Maßgabe zugesteht, dass es den eigenen Interessen entspricht. Diese eigenen Interessen werden freilich zuletzt nicht als solche erklärt - das Rauben ist nicht Selbstzweck oder purer Egoismus -, sondern als Sendung und Vollzug eines göttlichen Willens, den der gute Räuber vollzieht.

Die Idee und Rede von einer exklusiven Gültigkeit der eigenen Lebensform und einer entsprechenden Bestimmung oder Sendung zur Lenkung und Beherrschung der Welt ist nicht mit dem portugiesischen Theologen verschwunden. Es ist "our manifest destiny to overspread the continent allotted by Providence for the free development of our yearly multiplying millions", schreibt John L´Sullivan 1845, zur Zeit des Krieges der USA gegen Mexiko (dessen Rechtmäßigkeit auch im Kongress höchst umstritten war), und 1865 findet sich im Editorial des "New York Herald" der Satz: "It is our manifest destiny to lead and rule all nations." (Flexner 1979: 144)(31) In den manichäisch-eindeutigen Unterscheidungen auch des derzeitigen Präsidenten der USA zwischen dem Bösen und dem Guten finden sich dieselben Stereotype wieder.

Auch die Philosophie hat, wir sahen es, Exklusivitätsurteile gefällt, Philosophen haben nicht nur afrikanischen und amerikanischen Kulturen jede Philosophie abgesprochen, sondern überhaupt allen außer der okzidentalen. Die Rede, wonach "Philosophie im strengen Sinne" ein exklusiv griechisch-abendländisches Geistesprodukt sei, hat eine eindrucksvolle Tradition(32) - wenn sie auch, was oft vergessen wird, nicht uralt ist(33) - und sie tritt im Wesentlichen in dreierlei Gestalt auf. Einmal soll sie besagen, dass es sich dabei um ein Kulturmerkmal handelt, das ebenso wertfrei wie andere Merkmale zu betrachten sei; Rorty ist ein Vertreter dieser Ansicht.(34) Zweitens kann sie als Bezeichnung einer Bürde gesehen werden, wie Heidegger das getan hat. Drittens, und dies ist die Mehrzahl der Fälle, wird damit eine Überlegenheit der okzidentalen Kultur über alle anderen behauptet. Ein wichtiges Ergebnis ist in allen drei Sichtweisen ident: "außereuropäische" Denktraditionen sind vorn vornherein nicht als ernstzunehmende Stimmen in "philosophischen" Diskursen vorhanden. Ihre Ideen, Begriffe oder Argumentationen sind dann weder notwendig noch hilfreich bei der Klärung irgendwelcher Fragen der Philosophie.

Dennoch fand Erforschung fremder Denktraditionen statt. Kann es sein, dass sie immer noch zuweilen in einem der Modi geschah, in denen Pater Vieira das Verbum "rauben" konjugierte?

Im "Indikativ" stiehlt man, wenn man den Punkt einnimmt, "wo man alles überblicken kann" und diesen Punkt für sich allein besetzt. Die Erforschung der Philosophien Indiens beispielsweise hat in dieser Hinsicht nicht immer eine unschuldige Geschichte, sofern sie oft von einer einseitigen Betonung der arisch-vedischen Tradition bestimmt war und damit auch in den Dienst einer rassistischen Ideologie gestellt werden konnte. So lesen wir 1944:

Wir können ... aus der Übereinstimmung des wissenschaftlichen Charakters der indischen und europäischen Philosophie die ... Folgerung ziehen, daß Philosophie als Versuch methodisch wissenschaftlicher Welterklärung ... eine typische Schöpfung arischen Geistes ist."(35)

Eine derartige Feststellung findet sich in Frauwallners "Geschichte der indischen Philosophie" (1953) natürlich nicht mehr, wenngleich eine nähere Untersuchung seiner Periodeneinteilung dort den selben Gesichtspunkt in der Sache vermuten lässt. Es handelt sich jedoch um etwas Allgemeineres, was die indologischen Forschungen insgesamt betrifft, wie Chatterjee feststellt:

Der Gegenstand, den man im Westen Indologie nennt, hat im unabhängigen Indien keine Anerkennung gefunden. Die Auffassung hinter dieser Ablehnung ist vielleicht den Gedanken ähnlich, die Edward SAID in seinem Buch über den Orientalismus vorbringt.(36)

Mall sieht in vielen Bemühungen um die Kenntnis der indischen wie der chinesischen Denktraditionen ein Interesse, das nicht auf das Andere als solches geht, sondern auf die Möglichkeit, dieses Andere besser beeinflussen zu können:

Wo alles nur dem Wunsch, daß man verstanden werden will, untergeordnet ist, dort wird das Andere in seinem Eigenrecht erst gar nicht wahr- und ernstgenommen. In diesem Sinne studierten die Missionare und auch manche Ethnologen mit viel Mühe die fremden Sprachen wie z.B. Chinesisch oder Sanskrit nicht so sehr, um die Fremden zu verstehen, sondern in der Hauptsache, um von ihnen verstanden zu werden.(37)

Man stiehlt zweitens im "Optativ", sagte Vieira, wenn man die Anderen dazu bringt, einem das zu übereignen, was einem gefällt. Die Kenntnis der "Bantu-Philosophie" hat für einen ihrer prominenten Erforscher, den belgischen Missionar Tempels, in der Zeit der Neuorganisation des Kolonialreichs nach dem Zweiten Weltkrieg eindeutig politischen Wert: Wenn die Kolonialverwaltung die Denkform der Verwalteten besser versteht, so wird sie die eigenen Ziele besser verfolgen können.(38)

Dieses Erkenntnisinteresse liegt auf Seiten der Kolonialmacht, es liegt aber auch ein Interesse des Missionars vor, seine Adressaten bei deren eigenen Vorstellungen zu packen, die er ihnen allerdings erst klar machen muss:

Es wäre die schönste Leistung unserer überlegenen Intelligenz, in dem gegenwärtigen Heidentum der Bantu zeigen zu können, wie gewisse Gebräuche und Lehren, die für uns nun falsch sind, dies ausgehend von einer anderen Tradition oder Lehre auch sind, welche gänzlich eingeboren, originell und antik ist. Man muß das argumentum ad hominem finden, den Schwarzen dazu zu führen, die Falschheit gewisser Praktiken ausgehend von seinen eigenen exakten Prinzipien anzuerkennen.(39)

Damit ist die Vereinnahmung gelungen, das Andere stellt sich als unerkannte Form des Eigenen heraus und scheinbare Unterschiede sind Missverständnis oder Verirrung. Jede Entwicklung kann an ein und demselben Maßstab gemessen werden und was diesem nicht entspricht, hat nie Wert gehabt.

Die wenigen Beispiele müssen hier ausreichen, um die Wirkung der Beurteilung des kulturell Eigenen als letztlich exklusiv Relevantem in der Philosophie zu belegen. Diese Wirkung besteht zum Beispiel darin, dass auch in Projekten komparativer, kulturvergleichender Philosophie die "universale Rolle der dabei eingesetzten 'eigenen' Wissenschaftssprache ... fraglos vorausgesetzt [wurde], statt auch sie als Ergebnis einer Auseinandersetzung mit den untersuchten 'fremden' Gegenständen erst schrittweise zu gewinnen."(40)

Wir haben es also mit einer bestimmten Form von Kulturzentrismus zu tun, wobei sich allerdings bei näherem Hinsehen zeigen wird, dass die exklusivistische Form noch einmal in zwei Varianten oder Typen auftritt - expansiv oder integrativ -, dass aber beiden Varianten gemeinsam ist, Alternativen ernsthaft nicht zuzulassen.

Geht es denn überhaupt anders? Ist es möglich, eine Vielheit von Begriffssystemen, von "Wissenschaftssprachen" für die Erfassung der selben Gegenstände bestehen zu lassen oder noch einmal neu zu beginnen und eine neue Wissenschaftssprache erst zu gewinnen? Hatte der Historiker Lamprecht 1910 etwa Unrecht, wenn er "eben die wissenschaftliche Expansion als die sieghafteste und gründlichste aller Ausdehnungsarten des europäischen Kulturkreises"(41) bezeichnete? Oder hatte er zwar Recht im Sinn einer Faktenaussage, nicht aber in dem Sinn, dass diese "sieghafteste" Expansion auch wirklich aufgrund der transkulturellen Gültigkeit dessen geschah, was hier expandierte?

Zumindest für einige der bisher angesprochenen Sachverhalte gilt, dass Behauptungen von exklusiver Geltung und Überlegenheit nicht einmalig und unwidersprochen geblieben sind.

 

Egalität

Etwa gleichzeitig mit dem portugiesischen Theologen hat auch ein Gelehrter in Peru den Beweis dafür angetreten, dass Isaias und David die Weltherrschaft vorausgesagt haben, allerdings diejenige Spaniens. Auch ohne dass wir an weitere derartige Behauptungen noch von anderen Seiten erinnern, ist klar, dass daraus die Überzeugung entstehen musste, dass zumindest einige - und warum nicht alle? - der als different wahrgenommenen Kulturen sich gegenseitig egalitär verhalten.

Mit den Worten des Predigers von Lissabon hieße das, dass viele "Könige" das Recht haben, zu rauben und rauben zu lassen. Allerdings werden sie in Konflikt mit einander geraten, aber es wird dann lediglich eine Frage der Macht sein, wie weit sie ihr behauptetes Recht auf Raub ausüben können.

Führen wir die Überlegung weiter und dehnen sie auf Weltanschauungen oder Kulturen aus, so stoßen wir auf die Möglichkeit, Ansprüche auf Allgemeingültigkeit oder Wahrheit aufzugeben oder solche nur mehr in einem regional beziehungsweise mental abgegrenzten Bereich zu erheben. Dies kann, angesichts erkannter Ungleichheit in Hinsicht auf reale Verfügbarkeit über die Mittel von Meinungsbildung, ein Gebot des Zwanges sein, denn die

Verteilung von kulturellen Impulsen auf globaler Ebene ist kein Prozess des emanzipierten Dialoges, sondern bestimmt durch eine Struktur der Asymmetrie und hegemonialen Ungleichheit(42),

wie Six mit Bezug auf den "Hindu-Nationalismus" feststellt. Eine "Emanzipation" von der "hegemonialen Ungleichheit" könnte aber doch darin bestehen, den eigenen, regional oder mental abgegrenzten Raum möglichst frei von äußeren Einflüssen zu halten. Da würde dann das "Rauben", von dem Pater Vieira sprach, doch ein Ende haben - oder etwa nicht? Wenn jeder sich in seine Festung zurückzieht und dem andern auch dessen Festung überlässt, wie soll da noch Raub stattfinden?

Huntington empfiehlt "dem Westen" in dessen von ihm prognostizierten Konflikt mit dem Rest der Welt, "to promote greater cooperation and unity within its own civilization" neben anderen strategischen Maßnahmen wie der Ausnutzung von Konflikten unter konfuzianisch oder islamisch dominierten Staaten.(43) Letzteres geht nach Außen, Ersteres nach Innen. Jede Festung hat diese beiden Problemzonen. Jede Festung hat diese beiden Problemzonen und die Entwicklung beziehungsweise Einschränkung von bürgerlichen Freiheitsrechten zu Gunsten der Sicherheit nach dem 11. September 2001 insbesondere in den USA ist nur ein weiteres Beispiel dafür.

Werden Kulturen gleichsam egalitär nebeneinander gesehen, so sind theoretisch zwischen deren jeweiligen VertreterInnen keine Argumentationen, sondern nur Manipulation, Drohung und Verlockung anzunehmen, soweit Einfluss überhaupt stattfindet. Eine kulturphilosophische Theorie in dieser Perspektive hat um die Zeit des Ersten Weltkriegs Oswald Spengler entworfen. In Spenglers Sicht ist die Weltgeschichte nicht ein Kontinuum, sondern eine Reihe von Kontinua, die voneinander grundsätzlich getrennt, miteinander grundsätzlich nicht in Beziehung sind: es handelt sich somit nicht um eine Entwicklung der Menschheit, wenngleich in jeder Einheit Entwicklung stattfindet. Die grundlegenden Einheiten der Geschichte nennt Spengler "Kulturen". Diese treten nebeneinander oder nacheinander in eigenständiger Weise auf und sind jeweils für sich Ausdruck eines bestimmten "Seelentums". So kennt Spengler etwa aus der Vergangenheit Europas drei solche "Kulturen: die griechische als Ausdruck der "apollinischen Seele", die arabische ("magische Seele") und die germanisch-abendländische Kultur, deren Träger die "faustische" Seele ist. Zwischen ihnen wie zwischen irgend welchen "Kulturen" echten Austausch oder Dialoge führen zu wollen, wäre in seiner Sicht illusorisch und unmöglich: "Die Erscheinung andrer Kulturen redet eine andre Sprache. Für andere Menschen gibt es andere Wahrheiten. Für den Denker sind sie alle gültig oder keine."(44)

Diese "Kulturen" Spenglers verhalten sich durchgehend wie Pflanzen: sie sind ortsgebunden, wachsen, bringen Blüte und Frucht hervor, welken und sterben. Ihre durchschnittliche Vegetationszeit beträgt 1000 Jahre. Nach dieser Frist treten Kulturen, wenn ihre Träger nicht von einer neu aufstrebenden Kultur vernichtet werden, in ihr letztes, steriles Stadium ein, die Phase der "Zivilisation": Sie sind nicht mehr schöpferisch, breiten sich allerdings in organisatorischer und materieller Hinsicht ins Gigantische aus. Im Vergleich zur Zivilisationsphase etwa der ägyptischen Kultur ist diejenige des Abendlandes tatsächlich weltumspannend, jedoch sind andere Merkmale hier wie dort ident. Ein Vergleich und zugleich eine Prognose für die Gegenwart ist nach Spengler möglich durch das Aufsuchen von Parallelen zwischen den einzelnen Kulturen, die stets wiederkehrende Gestalten und Rhythmen aufweisen. Dieses Verfahren führt ihn zu der Diagnose, dass in seiner Gegenwart der Untergang der faustisch-abendländischen Kultur bereits stattgefunden habe und ihr Fortbestehen nur noch in einer gigantischen "Zivilisation" zu erwarten sei.

Sofern aber innerhalb einer solchen Zivilisation immer noch kulturelle Differenzen auftreten, ist nach einer derartigen Sicht durchaus die "Gefahr eines globalen Kultur-Apartheid-Systems"(45) gegeben. Interkulturalität in irgendeinem Bereich wäre ein illusorisches Unterfangen, die "menschliche Fähigkeit zum Perspektivenwechsel"(46) auf den jeweiligen kulturellen Raum beschränkt und eine Argumentation über derartige Grenzen hinweg schlicht unmöglich. Das würde unter anderem auch bedeuten, dass nur eine Art von Multikulturalität möglich wäre, die unter Umständen "bad for women"(47) und andere Mitglieder qualitativer oder quantitativer Minderheiten sein könnte, wenn traditionell verankerte - und in aller Regel patriarchalische - Gruppenrechte jenseits möglicher Kritik stünden.

Nicht nur "Kulturen" wurden als egalitär zueinander beschrieben, sondern auch "Rassen". Keineswegs alle Rassentheoretiker haben nämlich die Auffassung vertreten, es gebe eine "höchste Rasse". Sogar einer der in den 1930er Jahren bekanntesten einschlägigen deutschen Autoren schreibt:

Jede Rasse stellt in sich selbst einen Höchstwert dar. Jede Rasse trägt ihre Wertordnung und ihren Wertmaßstab in sich selbst und darf nicht mit dem Maßstab irgendeiner anderen Rasse gemessen werden. ... Über den Wert einer Menschenrasse "objektiv" zu entscheiden vermöchte ja nur der Mensch, der über den Rassen stünde. Den aber gibt es nicht, denn Mensch sein heißt rassisch bedingt sein.(48)

Es erübrigt sich fast von selbst der Hinweis, dass nicht nur im "praktischen Leben", sondern auch in der Rechtsordnung und in der Politik diese Einsicht verletzt und andere "Rassen" durchaus "mit den Augen der nordischen Rasse" gesehen und "nach nordischer Wertordnung" in einem "Verstoß gegen die billigste Logik" (ebd.) bewertet wurden. Tatsächlich ist auch hier der Übergang von einem Konstatieren von Differenzen zur Feststellung einer Defizienz die Regel und nicht die Ausnahme.(49) Wesentlich bleibt auch in dieser Sichtweise das Ziehen von Grenzen, damit uns nicht am Ende, wie Clauß 1933 im Vorwort zur dritten Auflage seines Buches schreibt, "auf allen Straßen" die "Affen der Nordheit" begegnen. Darum bleiben die "Rassen", säuberlich getrennt und jeweils "artgerecht" lebend, am besten in ihren je eigenen Wertwelten und manche von ihnen werden "ihr Bestes nur dann tun können, wenn sie dienen können und zwar in der ihnen eigenen besonderen Weise des Dienens ..."(50)

Da Herren Diener und Diener Herren brauchen, ist zumindest in dieser Hinsicht doch auch schon eine Form von Komplementarität gegeben.

 

Komplementarität

Das dritte mögliche Urteil über das Verhältnis des Eigenen zum Anderen könnte schließlich in der Behauptung liegen, dass die differenten Kulturen und Lebensformen sich, zumindest in Teilbereichen, gegenseitig nicht ausschließen, vielmehr einander ergänzen und vervollkommnen. Was die Einen entwickelt haben, fehlt den Anderen und diese sind imstande, dessen Wert zu schätzen. Das Verhältnis ist gegenseitig oder sogar allseitig und eine Entwicklung bei der einen Seite führt zum möglichen Austausch mit der anderen.

Die Vorstellung der Komplementarität setzt voraus, dass es eine Komplettheit menschlicher Lebensform gibt, die jedoch in keiner besonderen Kultur oder kulturellen Ausprägung, sondern erst in einem allseitigen Lernen aller von allen erreicht wird. Es gibt unterschiedliche theoretische Ansätze dazu, von denen ich einige in Erinnerung bringen will.

So setzt beispielsweise die Kulturtheorie der sogenannten "Négritude"-Bewegung voraus, dass der Mensch erst durch die Entwicklung von Rationalität und von Emotionalität zur Entfaltung gelangt. Wenn, wie einer ihrer Proponenten, Léopold Sedar Senghor(51), sagt, dass die Ratio okzidental, hingegen die Emotion afrikanisch ist, so liegt auf der Hand, dass nur in einer Ergänzung des einen durch das andere das Ganze erreicht werden kann. Wenn Afrikaner sich westliche Rationalität und Okzidentalen sich afrikanische Emotionalität aneignen, so scheint da keinerlei Raub stattzufinden, weil alle nur gewinnen, was sie jeweils für sich allein nicht könnten.

Hier werden allerdings die behaupteten "kulturellen" Eigenschaften deutlich mit "rassischen" Eigenschaften korreliert, was an sich schon wegen dieses fragwürdigen "Begriffs" problematisch ist. Zudem wurde hinsichtlich der politisch-emanzipatorischen Brauchbarkeit einer solchen Vorstellung der Einwand von Towa, Hountondji und anderen formuliert, dass eine ethnisch (oder "rassisch") begründete Zuschreibung einer bestimmten Vernunftform ein illusorisches Bewusstsein von der eigenen, im Vergleich zu Europa gänzlich andersartigen kulturellen Identität voraussetzt und dadurch als Ideologie des Kolonialismus im Neokolonialismus weiterlebt.

Eine Komplementaritätsvorstellung kommt - durchaus überraschend - zuweilen sogar in missions- oder religionstheoretischen Zusammenhängen vor. So schreibt Krautz in seinem Nachwort zu Peter Abailards "Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen" beispielsweise:

Alle Menschen sind ... ebenso auf die religiösen Überlieferungen ihres Volkes oder Kulturkreises wie auf einen universalen interreligiösen Dialog angewiesen, weil ihnen sonst wegen der historischen Zufälligkeit, Beschränktheit und Kürze ihrer Existenz wesentliche Offenbarungen der Menschheit zum Schaden ihrer eigenen sittlichen Entwicklung entgingen. Sie müßten sonst auf dem mühsamen Weg der Selbsterziehung jene Einsichten wiedergewinnen, die anderen vor ihnen bereits offenbar geworden sind.(52)

Wenn dies wörtlich zu verstehen ist und tatsächlich alle Menschen wie auch alle Religionen gemeint sind, so werden damit Bedingungen für allseitige interreligiöse Dialoge über alle Inhalte der Religionen genannt. Ich bezweifle, dass für religiöse Menschen eine derartige Komplementaritätsidee im allgemeinen attraktiv ist. In der Realität dürfte eine solche Ansicht doch in den seltensten Fällen leitend sein, sondern die andere, wonach von differenten Glaubensüberzeugungen jedenfalls eine falsch sein müsse; oder die unter Gläubigen jeder Religion üblichere Ansicht, wonach die eigene Überzeugung jedenfalls richtig sei. Eine realistischere Erfahrung hat darum wohl Küng formuliert, wenn er als eines der Ergebnisse der Dialoge zwischen Theologen verschiedener Religionen über ein "Weltethos" festhält, dass erst nach deren jeweiligen Vorstellungen vom "Divinum", vom Göttlichen, auch ihre Vorstellungen vom wahren "Humanum" gebildet werden.(53)

Für die Fragestellung nach Maßstäben von "kultureller Entwicklung" spielt die Idee einer möglichen Komplementarität durchaus eine wichtige Rolle. Es wäre m.E. aber verfehlt, sie in quasi-natürlichen, letztlich rassistischen Zuschreibungen oder in religiösen Zusammenhängen zu suchen. Aufschlussreicher dafür sind Diskurse, wie sie im Prozess der Modernisierung immer wieder abgelaufen sind, in denen es um die simple Frage ging, wieviel an Fremdem einem gut tue. Dafür bietet zum Beispiel die japanische Geschichte reiches Material(54), es wären aber auch Versuche wie derjenige Galtungs weiter zu führen, der nach einer vergleichenden Beschreibung unterschiedlicher "Stile" (sozial)wissenschaftlicher Produktion die Frage stellt, inwieweit die feststellbaren Vorzüge oder Schwächen von Traditionen auf Grund kultureller Stile einander bereichern können.(55)

Interkulturell orientiertes Philosophieren schließlich kann nur in der Überzeugung betrieben werden, dass die verschiedenen philosophischen Traditionen einander in Aufgeschlossenheit und in Kritik etwas zu geben haben, dass sie komplementär sind. Dies allerdings setzt nicht nur voraus, dass Philosophierende einander wahrnehmen (d.h., dass sie auch die "anderen Traditionen" studieren), sondern weiterhin, dass sie bei allen bestehenden Differenzen des Inhalts und der Form des Denkens einander als Gleiche begegnen. Es setzt, mit anderen Worten, polylogisches Vorgehen zumindest der Absicht nach voraus. Das Verbum "rapio", das der Prediger in Lissabon - mit dem guten Gewissen des wahren Glaubens - so vielseitig konjugierte, müssen sie aus ihrem Vokabular streichen. Aber das genügt nicht - es geht nicht nur um die Sprache. Denn es werden auch philosophierende Menschen sich selbst, ihre Tradition und Überzeugung, jeweils als "Zentrum" betrachten und sie werden nicht davor gefeit sein, im fremden Anderen mehr als nur eine Differenz, nämlich eine Defizienz wahrzunehmen. Darum haben wir uns mit möglichen Formen zentristischen Verhaltens zu befassen.

 

Typen von Zentrismen

Ein zentristischer Ansatz, sowohl in Religionen als auch in philosophischen und wissenschaftlichen Traditionen, wie auch bei politischen Repräsentanten anzutreffen, liegt darin, einen Konsens der je eigenen Tradition zum einzig möglichen Maßstab zu erklären und nach wirksamen Mitteln zu suchen, diesem Maßstab universelle Geltung zu verschaffen. Ein solcher Versuch, den man als expansiven Zentrismus(56) benennen kann, ist aus der Geschichte und Gegenwart sowohl des Kolonialismus als auch der Entwicklungstheorie und -politik ebenso bekannt wie aus der Geschichte der religiösen Missionierung. Ein kultureller Zentrismus, der expansiv ist, wird alle konkurrierenden Sinn- und Orientierungsangebote aktiv auszuschalten suchen.

Bei gleicher Überzeugung von der konkurrenzlosen Gültigkeit der eigenen Orientierungswerte kann logisch gesehen auch eine entgegengesetzte Strategie verfolgt werden, indem man auf Vorbildwirkung des Eigenen setzt - die eigene, gute Form des Lebens wirbt für sich selbst, sie braucht weder auf Angst durch Drohung noch auf Hoffnung durch Versprechen und auch nicht auf Argumentation zu setzen, um konkurrierende Auffassungen aus dem Feld zu schlagen. Man kann dies einen integrativen Zentrismus nennen. Wie bei der erstgenannten Form wird auch in dieser stillschweigend angenommen, dass ihre wesentlichen Inhalte unverändert bleiben, wenn sie sich - möglicherweise global - ausbreiten, eine allerdings trügerische Voraussetzung, weil Ideen und Werte sich in jedem Prozess der Aneignung verändern. Dazu kommt aber noch, dass das Zentrum sich durch seine eigene Anziehungskraft gefährdet sehen kann und die Kontrolle über den Prozess mit Hilfe von Grenzen auszubauen sucht. Hier wie im ersten Ansatz liegt theoretisch die zentrale Schwierigkeit darin, dass die grundlegende Voraussetzung der Allgemeingültigkeit des Eigenen nicht in Frage gestellt werden darf.

Darum kann ein dritter Ansatz verfolgt werden, wenn die allgemeine Durchsetzbarkeit der eigenen Denk- und Bewertungsweise fraglich wird: Die Einen lassen die Anderen theoretisch in Frieden und verlangen lediglich, auch in Frieden gelassen zu werden. Gemeinsam vertretbare Lösungen werden dann nicht angestrebt, die Kritik wird sich vielmehr gegen universalistische Versuche im Allgemeinen richten. Ich nenne das einen separativen Zentrismus. Hier gibt es scheinbar keine Vereinnahmung von Andersdenkenden, außer natürlich gegenüber den Mitgliedern der jeweils eigenen Gruppe, die als möglichst homogen dargestellt wird. Zwischen den unterscheidbaren Gruppen soll Toleranz herrschen. Der Toleranz nach außen entspricht aber keineswegs Toleranz nach innen, und das ist eine Crux dieser Option. Eine andere Crux liegt darin, dass es in der Realität immer inhaltliche Grenzen des Tolerierens von Andersheit gibt.

Diese drei Formen von expansivem, integrativem und separativem Zentrismus treten in realen Prozessen nicht als reine Fälle auf, sie sind nur idealtypisch unterscheidbar. Als solche können wir sie in Konflikten jedoch identifizieren. Denken wir zum Beispiel an die Idee von menschlichen Grundrechten. Eine expansiv zentristische Strategie zu deren Durchsetzung wird darin bestehen, abweichende Traditionen mit verschiedensten Mitteln der Einflussnahme zur eigenen Überzeugung zu bringen, die als allgemein gültig postuliert wird. Eine integrative Strategie in derselben Absicht wird auf aktive Einflussnahme verzichten und darauf vertrauen, dass die eigene Überzeugung, konsequent vorgelebt, attraktiv genug ist, um Alternativen auf Dauer zum Verschwinden zu bringen. Separativer Zentrismus wird den jeweiligen ideologischen, religiösen oder kulturellen Kontext als die letzte Instanz möglicher Rechtfertigung betrachten. Die ersten beiden Strategien sind als Varianten von Universalismus zu betrachten, die dritte als (Kultur-)Relativismus. Alle drei spielen in Debatten der Gegenwart eine Rolle.

PhilosophInnen können sich eigentlich mit keinem dieser drei Ansätze zufrieden geben. Sie können sich weiter auf nichts stützen als auf die Überzeugungskraft ihrer Argumente - und darum dürfen sie nichts außer Frage stellen, wenn sie anderen Überzeugungen begegnen. Sie können zweitens nicht darauf vertrauen, in der eigenen Tradition alles überhaupt Wertvolle schon zu haben - und darum müssen sie nach den Ideen der Anderen fragen und müssen sich mit diesen auf gleicher Ebene in Argumentation einlassen. Sie können sich drittens nicht auf eine ethnisch, kulturell, religiös, national oder wie immer begrenzte Gültigkeit zurückziehen - und darum werden sie der Absicht nach stets universalistisch sein müssen, allerdings im Bewusstsein einer durch die jeweils Anderen kritisierbaren Überzeugung. Ich nenne das einen versuchsweisen oder tentativen Zentrismus. Philosophieren in solcher Einstellung im Umgang mit fremdem, anderem Denken wird nicht vom Anspruch absoluter Gültigkeit der eigenen Auffassung für alle Menschen ausgehen, aber es wird doch im gemeinsamen Gespräch die Aufgabe verfolgen, eine solche Gültigkeit zu erreichen. Es wird darum die eigene Auffassung, den eigenen Standpunkt nicht auf den Kontext reduzieren oder relativieren, wie es dies auch nicht beim Anderen tun wird. Philosophie in diesem Sinn, als polylogisches Verfahren zwischen Gleichen bei inhaltlicher Differenz, kann eine Aufgabe im Orientierungsprozess unter den Bedingungen der Globalisierung sein.

 

Tentativer Zentrismus und die Idee der Menschenrechte - ein Beispiel

Dass es heute im Zusammenhang mit Ideen von Menschenrechten differente Auffassungen gibt, die mit regionalen, religiösen, kulturellen Traditionen oder auch mit politischen Grundhaltungen verbunden sind, ist so offensichtlich, dass dazu nicht viele Belege nötig erscheinen. Der Hinweis auf vergangene und gegenwärtige Debatten über "asiatische Werte" oder auf "islamische Menschenrechtsdeklarationen" sollte genügen. Es wäre ebenso ausreichend, auf die sehr unterschiedlichen Konnotationen hinzuweisen, die das Wort "Menschenrechte" vor 1989 in West- und in Osteuropa hatte - dachten die Einen so gut wie ausschließlich an die bürgerlichen Individualrechte (wie z.B. Religionsfreiheit), so war das Thema für die Anderen mit den sozialen Grundrechten (wie z.B. dem Recht auf Arbeit und Wohnung) verbunden.

Mit dem Eingangsbeispiel dieses Textes, der Feststellung fehlender Laute bei den Küstenbewohnern Brasiliens zu Beginn des 16. Jahrhunderts, hat die Situation gemein, dass auch hier eine wirkliche oder scheinbare Differenz häufig mit einer Defizienz des Anderen gleichgesetzt wird. Und wie in anderen Fällen, kommen auch im Zusammenhang mit Menschenrechtsideen in erster Linie Strategien in den Sinn, wie ich sie als expansiv, integrativ oder separativ zentristisch charakterisiert habe - die eigene Auffassung wird aktiv verbreitet (was bis zu militärischer Intervention gehen kann); sie wird als derart normal und natürlich angesehen, dass eine besondere (argumentative) Aktivität nicht nötig scheint; oder sie wird als Besonderheit der je eigenen Tradition behauptet, die anderen Traditionen gegenüber bewahrt werden, diese aber nicht kritisch in Frage stellen soll. Keine dieser Strategien, so sagte ich, ist für PhilosophInnen zufriedenstellend.

Darin liegt also eine Herausforderung für interkulturell orientierte Philosophie. Ich will im Folgenden zunächst eine These hinterfragen, wonach Menschenrechtsideen zwangsläufig mit einem Konzept von "Mensch" verbunden seien, das exklusiv "okzidental" sei. Daran werde ich anschließen, ob regional entwickelte Normvorstellungen universalisierbar sind.

 

Sind Menschenrechtsnormen nur mit einer bestimmten Idee vom Menschen verträglich, die ausschließlich okzidental ist?

Eine These, aus der eine Kritik an universeller Gültigkeit von Menschenrechten scheinbar gerechtfertigt ist, besagt, dass die diesen zu Grunde liegenden Normvorstellungen lediglich mit einer bestimmten Idee des Menschen verträglich, mit anderen Auffassungen vom Menschen jedoch unverträglich seien und dass diese Idee "okzidental" oder "westlich" sei. Was ist diese behauptete okzidentale Idee vom Menschen?

Mouffe hat unter Berufung auf Panikkar von einem wohlbekannten Set von Aussagen gesprochen, welche alle für okzidentales Denken kennzeichnend seien und die Grundlage für die Idee der Menschenrechte bildeten. Dies sei die Idee, (a) dass es eine universelle menschliche Natur gebe, die mit rationalen Mitteln erkennbar sei; (b) dass die menschliche Natur wesentlich verschieden und höher stehend sei als die gesamte übrige Wirklichkeit; (c) dass das Individuum eine absolute und irreduzible Würde habe, die gegen die Gesellschaft und den Staat verteidigt werden müsse; (d) dass die Autonomie des Individuums die Organisation der Gesellschaft in einer nicht hierarchischen Weise als Summe freier Individuen erfordere.(57)

Hier ergeben sich zu jeder Subthese zwei Fragen:

Gehen wir nun die einzelnen Subthesen (a-d) kurz durch.

ad a) Philosophie, die sich nicht allein auf okzidentale Traditionen bezieht, wird in der ersten Frage einige skeptische Anmerkungen machen müssen. Zumindest konfuzianische und islamische Philosophen können durchaus der Auffassung zustimmen, dass es eine universale Menschennatur gibt, die mit rationalen Mitteln erkannt werden kann. Sofern sie in der Anwendung der Ratio und in den Inhalten nicht übereinstimmen, so sollte das doch nur der Anstoß sein, in gemeinsamer Bemühung weiterzukommen. Wenn aber eine allgemeine Menschennatur, die der Erkenntnis zugänglich ist, nicht angenommen wird, so ist schwer vorstellbar, auf welcher Grundlage allgemeine Menschenrechte gültig sein sollten.

ad b) Ebenso vertreten einige nichtokzidentale Traditionen, wie der Konfuzianismus, die zweite These, dass die menschliche Natur wesentlich über allen anderen Dingen und Lebewesen stehe. Freilich wird man daraus wieder nicht folgern dürfen, dass diese Auffassung in der "chinesischen" Philosophie unbestritten wäre.(58) Es ist nicht eine "östliche" Idee in einem ohnedies fragwürdigen, generalisierenden Sinn, aber sie ist doch auch nicht nur "westlich". Bezüglich der zweiten Frage ist daran zu erinnern, dass die Behauptung von Tierrechten - als Pflichten gegenüber Tieren(59) - zusammen mit Menschenrechten bereits im 18. Jahrhundert gerade aus der Behauptung einer wesentlichen Gleichheit aller Geschöpfe in Europa vertreten wurde.

ad c) Auch die dritte der genannten Auffassungen, die den Anhaltspunkt für eines der meist diskutierten Probleme hinsichtlich der Individualrechte bildet, ist nicht so einfach nur dem Okzident zuzuschreiben. Die simple Frage, wem im Konfliktfall zwischen "Staat" und "Einzelnem" der Vorrang gebührt - manchmal wird die ganze Thematik tatsächlich auf dieses Verhältnis reduziert(60) - müsste zumindest zur Kenntnis nehmen: "Insbesondere 'chinesische Ethiken' formulieren emphatisch Konzepte individueller moralischer Autonomie."(61) Zur zweiten Frage: Auch in Gesellschaften, in deren Selbstverständnis nicht das Individuum, sondern eine Gruppe von Individuen als das "Selbst" oder die "Person" zu verstehen ist(62), wird es Konflikte zwischen diesen "Personen" und übergeordneten Einheiten geben, zu deren Entscheidung bestimmte Grenzen nicht überschritten werden dürfen.

ad d) Somit bleibt uns vielleicht die vierte der angesprochenen Ideen als eine, die rein okzidental verwurzelt sei: die Idee des Menschen als eines autonomen Subjekts, aus der eine bestimmte, nämlich eine nicht hierarchische Ordnung der Gesellschaft und des Staates sich zwingend ergebe.

Behauptet wurde also, dass die Vorstellung von einem autonomen Subjekt, das mit dem Individuum vollkommen zusammenfällt, die leitende oder sogar die ausschließliche Vorstellung des okzidentalen Menschen von sich selbst ist. Autonom ist, wer oder was sich selbst das Gesetz seines Handelns gibt. Bis Kant diese Forderung und Zumutung an den Einzelmenschen richtete, wurde als Subjekt von Autonomie nur der Souverän, nach heutigem Verständnis der Staat gesehen. Das autonome Subjekt, wie Kant es sieht, kann dies nur sein, weil und insofern ihm die Vernunft hinreicht, um sich "im Denken zu orientieren" und nicht an Belohnungen oder Bestrafungen, nicht auf Grund von Hoffnungen oder Ängsten, nicht an Vorbildern oder gegen diese.

Die Idee, wonach der individuelle Mensch das autonome Subjekt in allen Dingen sei, ist wohl nur auf dem Hintergrund einer bestimmten Ausprägung des Christentums verständlich, in dessen Sicht der Einzelmensch, das Individuum eine besondere Stellung hat. Keinerlei Seelenwanderungslehre mindert die Einmaligkeit des christlichen Menschen und jede/r Einzelne wird ausschließlich nach ihren oder seinen Taten und Untaten gerichtet. Auch wenn dieser Hinweis auf den christlichen Hintergrund nicht besagt, dass die moderne Idee der Menschenrechte direkt aus dem Christentum erwachsen wäre - das ist sie gerade nicht -, liegt darin doch eine wichtige Wurzel. Andere Religionen haben den Hintergrund für andere Menschenbilder abgegeben, es gibt keine universelle Gleichheit darin.

Verschiedene Bedingtheiten der Vernunft und des Subjekts sind jedoch durchaus auch Teil des okzidentalen Selbstverständnisses. Ich erwähne nur einige: Dass Autonomie eine Illusion und das Subjekt tot sei, lehrte der Strukturalismus, und Freud hatte erkannt: "Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus."(63) Marx hatte von dem Maulwurf gesprochen, der unsichtbar unterirdisch wühlt und dem "sich mannigfach gebärdenden phänomenologischen Bewußtsein des Subjekts"(64) seine Möglichkeiten vorgibt, und Hegel spricht von "übernächtigen Ephemeren", die der "Geist" zu seinen Zwecken gebraucht: "[...] er hat Nationen und Individuen genug zu dispensieren"(65). Das sind nicht Bilder, in denen sich Autonomie des Subjekts ausdrückt. Auch bei Dialogphilosophen suchen wir das autonome Subjekt vergeblich.

Und schließlich bedeutet auch für das europäische Christentum in seiner Gesamtheit die Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit des Individuums nicht einfach Autonomie, wie es für die Feudalgesellschaft in Europa nicht galt, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sein sollen. Es ist daher in Erinnerung zu behalten, dass wir die Idee von allgemeinen Menschenrechten "nicht ganz als selbstverständlichen Bestandteil der abendländischen Kultur begreifen dürfen. Vielmehr mussten (und müssen!) Menschenrechte auch im Westen gegen vielfältige Widerstände erkämpft werden."(66)

 

Können regional entwickelte Normen universelle Gültigkeit erlangen?

Gemäß der vierten These ist das Konzept vom Menschen als ein individuelles autonomes Subjekt nicht nur nicht universell entwickelt, es ist auch nicht universalisierbar, weswegen es keine Norm gibt, die darauf beruht und die für alle Menschen verbindlich wäre. Den ersten Teil der These werden wir ohne Bedenken zugestehen können, aber: Diese Idee ist auch im Okzident keineswegs allgemein überzeugend geworden.

Die These besagt jedoch weiter, dass dieses oder ein anderes regional entwickeltes Menschenbild auch nicht universalisierbar ist, indem es etwa von seinem religiösen oder sonstigen regionalen Hintergrund gelöst und als vernunftgemäß oder als einsichtig für alle Menschen aufgewiesen würde. Diese Möglichkeit wird in separativ-zentristischer Weise bestritten, in der Annahme, dass die in bestimmten Gesellschaften oder Traditionen entwickelten Auffassungen und Ideen auch nur für Angehörige dieser Gesellschaften oder nur innerhalb einer bestimmten kulturellen Tradition Gültigkeit haben könnten. Wer so argumentiert, zieht sich allerdings auf eine separatistische Ethnophilosophie zurück, indem bereits die Möglichkeit von Argumentation verneint wird.

Philosophie ist mit Traditionalismus und Dogmatismus zwar ständig konfrontiert, aber sie muss sich nach ihren eigenen Möglichkeiten fragen. Diese liegen in Argumentation und in vielseitiger, polylogischer Auseinandersetzung.

Es ist wenig verwunderlich, wenn dogmatische Anhänger einer Religion eine separatistische Position beziehen. Jedoch gibt es auch bei religiösen Menschen unterschiedliche Grade der Überzeugung von einer exklusiven Gültigkeit ihrer Ansichten. Ich will drei Beispiele dafür aus der islamischen Tradition anführen.

a) Eine Gesprächsverweigerung könnte sich etwa folgendermaßen ausdrücken:

"Die Bezugnahme auf andere Quellen als die des Islam und somit auch auf andere Kulturen, die sich in ihrer Grundlage, Zielsetzung und Vorstellung vom Leben grundsätzlich von der islamischen Kultur unterscheiden, ist unter keinen Umständen erlaubt."(67)

Gegenüber einer solchen Haltung dürften, wenn die Formulierung ernst zu nehmen ist, wohl keinerlei Argumentationen erfolgversprechend sein. Doch hat die Philosophie eben keine heiligen Bücher und darf darum die "Bezugnahme auf andere Quellen" nicht nur nicht ausschließen, sie muss sie vielmehr suchen. Das gilt für alle Seiten. Es gilt auch für westliche Menschenrechtsdiskurse, dass sie das Gespräch verweigern, wenn sie "andere Quellen" als diejenigen der eigenen Tradition nicht zur Kenntnis nehmen.

b) Was das praktisch bedeutet, können wir uns an dem auf den ersten Blick nur als anstößiger Versuch einer Selbstimmunisierung wirkenden Schlussartikel der Kairoer Deklaration der Menschenrechte im Islam(68) verdeutlichen. Art. 25 dieser Deklaration lautet:

"The Islamic Shari'ah is the only source of reference for the explanation or clarification of any of the articles of this Declaration."

Der Artikel scheint eine entscheidende Schwierigkeit für jede Art von Auseinandersetzung darzustellen, nämlich dann, wenn damit der Anspruch erhoben wird, dass nur islamische Gelehrte überhaupt zu Wort kommen können. Eine für philosophische Zugangsweisen unerträgliche Immunisierung läge dann darin, wenn über gründliche Vertrautheit mit der Scharia hinaus auch noch deren fraglose Akzeptanz gefordert wäre. Aber das sollte nicht zwingend angenommen werden. Und es sollte unter PhilosophInnen auch nicht zugestanden werden.

Es könnte allerdings auch die Aufforderung darin enthalten sein, sich in der Weise auf den Diskurs einzulassen, dass der geistige Hintergrund der Deklaration, also die Scharia, jedenfalls als Bezugsrahmen allen denjenigen vertraut sein muss, die über einen darin enthaltenen Artikel diskutieren wollen.(69)

Dies ist dann eine durchaus legitime Forderung nach Kenntnis, die allerdings, wenn sie erfüllt ist, auch anerkannt werden muss.

c) Ein drittes Beispiel, von einem schiitischen Autor genommen, kann illustrieren, dass auch in menschenrechtlichen Fragen ganz schlicht bestreitbare Argumente vorgebracht werden. Im Zusammenhang mit der Ungleichstellung von Männern und Frauen in Bezug auf das Scheidungsrecht schreibt Musawi Lari:

Weil das Ziel des Islam feste Ehen sind, werden im Interesse dieser Zielsetzung bestimmte Freiheiten ausgeschlossen. Außer in ganz außergewöhnlichen Fällen erhält der Mann allein das Scheidungsrecht. Das geschieht, um die wohlverstandenen Interessen der Frau zu schützen und sie davor zu bewahren Opfer ihrer Leidenschaft zu werden. [...] In Anbetracht der geistigen Anfälligkeit der Frau wird ihr nicht die Vollmacht gewährt, ein gemeinsames Leben zu beenden.

Und er gibt die Begründung: "Bei Entscheidungen der Männer hat der Kopf Vorrang, bei der Frau das Herz."(70)

Eine derartige Begründung ist, wie immer die Sache selbst gesehen werden mag, nicht ein dogmatisch-religiöses Argument, sondern eine Tatsachenbehauptung, die präzisiert und somit überprüfbar gemacht werden kann. Sie steht zwar in einer bestimmten Tradition, aber das macht sie an sich weder richtig noch falsch. "Keine Tradition", schreibt Paul, "kann aufgrund ihrer selbst bzw. aufgrund traditionseigener Merkmale etc. gerechtfertigt werden."(71)

Jede Tradition, so ist hinzuzufügen, ist jedoch ernst zu nehmen in dem Sinn, dass sie kritischer Prüfung ausgesetzt und weder einfach abgelehnt noch unkritisch bestehen gelassen wird. Der Weg zum Aufweis universeller Gültigkeit oder Anerkennung auch von Menschenrechten führt über Dialoge oder Polyloge(72) und hat daher eigentlich nur eine Voraussetzung - dass Menschen einander als Argumentierende ernst nehmen.

© Franz Martin Wimmer (Wien)


ANMERKUNGEN

(1) Pêro de Magalhães Gandavo schreibt 1576: "Carece de três letras, convém a saber não se acha nela f, nem l, nem r, coisa digna de espanto, porque assim não têm Fé, nem Lei, nem Rei; e desta maneira vivem desordenadamente sem terem além disto conta nem peso, nem medida". Zit. nach. Martins, Wilson: Historia da Inteligência Brasileira. Vol.I (1550-1794). São Paulo: Queiroz 1992, S. 57. Ich danke Mag. Adalberto Mikosz für den Hinweis auf diese Literatur.

(2) Vgl. Gabriel Soares de Sousa: Tratado Descritivo do Brasil, Kap. CL (1587), zit. bei Martins op.cit., S. 58. Ich weiß nicht und konnte bislang nicht in Erfahrung bringen, ob der oft konstatierte Sachverhalt, dass Chinesen und Japanern die Unterscheidung von "L" und "R" schwer falle, jemals etwa in der Weise interpretiert worden ist, dass in deren Gesellschaften eine Gleichsetzung von König oder Herrscher und Gesetz gleichsam inhärent sei.

(3) Seit Ciceros Formulierung eines "consensus gentium" in Bezug auf den Glauben an Götter oder Gott gab es immer wieder eine Debatte in Europa über die Frage, ob ein Volk ohne Religion existiere. Als Vico in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts an seiner "Neuen Wissenschaft" schreibt, wendet er sich ausdrücklich gegen die "modernen Reisenden": "... sie erzählen nämlich, es gäbe in Brasilien, bei den Kaffern und anderen Gegenden der neuen Welt Völker, die in Gesellschaft leben ohne irgend welche Gotteskenntnis ... Das sind Märchen von Reisenden, die ihren Büchern durch abenteuerliche Berichte größeren Absatz verschaffen wollen. Denn es glauben alle Völker an eine vorsehende Gottheit ..." (Vico, Giambattista: Die neue Wissenschaft von der gemeinschaftlichen Natur der Völker (1744) München: Allgem. Verlagsanstalt 1924, S. 126f.)

(4) Ich gehe nicht auf die hier naheliegende Denkfigur des "edlen Wilden" ein, der eine Projektion aus dem Unbehagen in der eigenen Kultur darstellt, wofür es zahlreiche Beispiele gibt. Einen für Akademiker besonders unangenehmen Vergleich hat beispielsweise Herder gezogen: "Der Weltweise Europens kann keine einzige Seelenkraft nennen, die ihm eigen sei; ja selbst im Verhältnis der Kräfte und ihrer Übung erstattet die Natur reichlich. Bei manchen Wilden z.B. ist das Gedächtnis, die Einbildungskraft, praktische Klugheit, schneller Entschluß, richtiges Urteil, lebhafter Ausdruck in einer Blüte, die bei der künstlichen Vernunft europäischer Gelehrter selten gedeihet. Diese hingegen rechnen mit Wortbegriffen und Ziffern, freilich unendlich feine und künstliche Kombinationen, an die der Naturmensch nicht denket; eine sitzende Rechenmaschine aber, wäre sie das Urbild aller menschlichen Vollkommenheit, Glückseligkeit und Stärke?" (Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit (1784-91) Wiesbaden: Fourier 1985, S. 233) Die "sitzende Rechenmaschine" ist eine von mehreren Anspielungen Herders an dieser Stelle auf die ratio (raison etc.) der Aufklärer, die er für oberflächlich, mechanisch und maßlos hielt (Vgl. meine Vorlesung "Geschichte der Geschichtsphilosophie. Teil 1" Wien: WUV 1991).

Ich gehe auf das Thema darum hier nicht weiter ein, weil mir insgesamt das Urteil vieler Autoren zutreffend erscheint, dass es sich bei den Bildern von "edlen" Wilden lediglich um eine Projektion und Selbstbeschwichtigung handelt. Vgl. z.B.: Bosse, Hans: Diebe, Lügner, Faulenzer. Zur Ethnohermeneutik von Abhängigkeit und Verweigerung in der Dritten Welt. Frankfurt/M.: Syndikat 1981; Monegal, Emir Rodríguez (Hg.): Die Neue Welt. Chroniken Lateinamerikas von Kolumbus bis zu den Unabhängigkeitskriegen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982; Stein, Gerd (Hg.): Die edlen Wilden. Die Verklärung von Indianern, Negern und Südseeinsulanern auf dem Hintergrund der kolonialen Greuel. Vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (=Lesebücher, Bd. 1) Frankfurt/M.: Fischer 1984.

(5) Corneille de Pauw, der am Hofe Friedrichs II. gelebt hatte, wurde zu einer der Autoritäten in dieser Frage. Klar verwerflich scheint für ihn die überseeische Kolonisation. Er hält sie, wie übrigens auch Voltaire, für "widernatürlich": Nicht nur, dass die spanischen Kolonisten dort korrumpiert und entartet seien, auch die geringe Lebenserwartung und mangelnde Fruchtbarkeit der europäischen Siedler auf dem Nordkontinent bringt de Pauw zu der Befürchtung, dieser Weltteil könnte die Existenz der zivilisierten Menschheit in Frage stellen. Eine "zweite Entdeckung" von der Art der Entdeckung Amerikas mit all ihren Folgen würde das Ende der kultivierten Menschheit bedeuten. Wirtschaftlich habe der Kontinent in den nunmehr drei Jahrhunderten nichts gebracht: Was von dort kam, war nutzlos wie das inflationstreibende Gold, oder gefährlich wie das Suchtmittel Tabak. Hingegen seien nützliche Dinge und Menschen den umgekehrten Weg gegangen - englisches Tuch und 500.000 Deutsche seien nutzlos in den dortigen Wäldern verschwunden. Vgl. Gerbi, Antonello: The Dispute of the New World. The History of a Polemic, 1750-1900. Pittsburgh: UP Press 1973, S. 52ff. Gerbi zitiert z.B. de Pauws Beschreibung einer "sort of university" in Cuzco, "where certain titled ignoramuses who could neither read nor write taught philosophy to other ignoramuses who could not speak." (S. 57)

(6) Herder, et. al.: Ideen, S. 194f.

(7) Gürses, Hakan: Der andere Schauspieler. Kritische Bemerkungen zum Kulturbegriff. In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren. Nr. 2, 1998, S.62.

(8) Reinprecht, Christoph: Zivilisationstheorien und Multikulturalität. In: Moderne und Zivilisierung der Gesellschaft (= Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, Wien) 1994, Nr.3.

(9) Darwin, Charles: Reise eines Naturforschers um die Welt. Nördlingen: Greno 1988, S. 139. Diese "Patagonier" oder "Feuerländer" sind neben den "Neuholländern" (= den Aborigines Australiens) diejenige Variante von Menschen, bei der selbst Kant in Zweifel geriet, ob ihre Existenz einen Selbstwert beanspruchen könne. Frage man sich, "warum es denn nötig sei, daß Menschen existieren", so sei dies eine Frage, die, "wenn man etwa die Neuholländer oder Feuerländer in Gedanken hat, so leicht nicht zu beantworten sein möchte" (Kant, Kritik der Urteilskraft, B 300). Kants Zeitgenosse Herder beschreibt " die patagonischen Tehuelhets oder das große südliche Volk, sechs Fuß hoch, groß und stark" und fährt dann fort: "hinter ihnen ist nichts mehr übrig als der arme kalte Rand der Erde, das Feuerland und in ihm die Pescherähs, vielleicht die niedrigste Gattung der Menschen. ... Gut, daß die schonende Natur gegen den Südpol die Erde hier schon aufhören ließ; tiefer hinab, welche armselige Bilder der Menschheit hätten ihr Leben im gefühlraubenden Frost dahingeträumet!" (Herder, Ideen, ed.cit., S. 175.)

Erst der Ethnologe und Missionar Martin Gusinde, der jahrelang unter Feuerländern lebte, berichtet Anderes von den Völkern Feuerlands und konnte sich beim Erlernen der Sprache des am weitesten südlich lebenden Volks der Yamana auf das Wörterbuch (ca. 30.000 Wörter) eines englischen Missionars (1879) stützen, das 1930 erschienen war. Daraus ersieht man, dass diese mit "Präzision ... Geschehnisse in der Umwelt als Metaphern für eigene Gefühle" zu erfassen erlaubte, indem beispielsweise für "Depression" das Wort verwendet wurde, das "die empfindlichste Phase im Jahreszyklus der Krabbe beschrieb, die Zeit zwischen dem Abwurf der alten Schale und dem Nachwachsen einer neuen". (Wolfers, Andreas: Das Vermächtnis der Schnee-Indianer. In: GEO 1995, Nr.3, S.151; vgl. auch Gusinde, Martin: Urmenschen im Feuerland. Berlin: Zsolnay 1946.)

(10) Nachdem durch Berichte und Übersetzungen von Jesuiten die geistige Tradition Chinas, insbesondere der Konfuzianismus, in Europa bekannt geworden waren, gab es gewichtige Stimmen, die besonders die hochstehende Ethik und praktische Philosophie hervorheben. Das Zitat von Leibniz findet sich im Vorwort zu seinen "Novissima Sinica", wobei er fortsetzt: ",... wenn wir sie nicht gerade in einer Hinsicht, die aber freilich außerhalb menschlicher Möglichkeiten liegt, überträfen, nämlich durch das göttliche Geschenk der christlichen Religion." (Zit. nach: Hsia, Adrian (Hg.): Deutsche Denker über China. Frankfurt/M.: Insel 1985, S. 17) Leibniz stellte noch einen anderen Unterschied fest, nämlich die Überlegenheit des Abendlandes auf dem Gebiet der Metaphysik und der Mathematik, weshalb er von einer Komplementarität der beiden Kulturen am östlichen und am westlichen Rand Eurasiens ausging und vorschlug, diese sollten sich gegenseitig Missionare senden, also europäische Mathematiker und Metaphysiker nach China, chinesische Ethiker und Politiker nach Europa.

(11) Voltaire schreibt: "Fragt man, warum die Chinesen immer auf der Stufe geblieben, auf der sie in grauer Vorzeit standen; warum die Sternenkunde bei ihnen so alt und so beschränkt ist; warum sie in der Tonkunst nicht einmal die halben Töne kennen? so scheint es die Natur hat diesen von unserer Gattung so verschiedenen Menschen taugliche Werkzeuge gegeben, das Bedürfnis des Augenblicks schnell zu finden, unvermögend aber weiter zu gehen." (Voltaire: Geschichte der Völker. In: Hartmann, C. H. F. (Hg.): Voltaires und Rousseaus auserlesene Werke, Bd. 33, Leipzig 1828, S. 17f) Diese Stagnationsthese über China findet sich häufig. Hegel vermutet, dass bei den Chinesen "ihr geistiges Vermögen überhaupt statarisch" geworden sei und Max Weber konstatiert für die Agrarpolitik Chinas lediglich eine Reihe von Veränderungen, "die mit 'innerer Entwicklung' keinerlei Verwandtschaft hat, seitdem der Feudalismus zerschlagen war" (zit. nach Elkin, Mark: Warum hat das vormoderne China keinen industriellen Kapitalismus entwickelt? Eine Auseinandersetzung mit Max Webers Ansatz. In: Schluchter, Wolfgang (Hg.): Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus. Interpretation und Kritik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 117) Zu wechselnden Chinabildern vgl. auch meine Zusammenstellung im Internet: http://mailbox.univie.ac.at/Franz.Martin.Wimmer/skriptphg1chinabild.html

(12) Herder, Ideen, ed. cit. S. 316: "Das Volk Gottes ... ist Jahrtausende her, ja fast seit seiner Entstehung eine parasitische Pflanze auf den Stämmen anderer Nationen; ein Geschlecht schlauer Unterhändler beinah auf der ganzen Erde, das trotz aller Unterdrückung nirgend sich nach eigner Ehre und Wohnung, nirgend nach einem Vaterlande sehnt."

(13) Hegel kennzeichnet in seinen "Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte" (Werke, Bd. 12, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970) die Völker des Altertums gemäß deren ersten überlieferten Verfassungen, die er bei den Nachfahren dieser Völker bis heute wirksam sieht. Zu Judäa führt er S.aus: "Das Geistige sagt sich hier vom Sinnlichen unmittelbar los, und die Natur wird zu einem Äußerlichen und Ungöttlichen herabgesetzt. ... Die Juden haben, was sie sind, durch den Einen, dadurch hat das Subjekt keine Freiheit für sich selbst. ... Der Staat aber ist das dem jüdischen Prinzip Unangemessene und der Gesetzgebung Mosis fremd."

(14) Wingenroth, Carl G.: Des weißen Mannes Bürde. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1961, S.322.

(15) Im 19. Jahrhundert war eine heute seltsam anmutende Unterscheidung zwischen "weiblichen" und "männlichen Völkern" geläufig, wobei es geradezu selbstverständlich war, unter den außereuropäischen Völkern das chinesische als typisch "weiblich" zu betrachten. Noch 1962 ist bei Amanry de Riencourt, Die Seele Chinas (Frankfurt/M.: S. Fischer 1962), 107 zu lesen: "Das Wesen des chinesischen Geistes erschließt sich in seiner synthetischen und konkreten, beinahe weiblichen Erfassung der Realität und dem gewollten Ausweichen vor jeder analytischen Form des Überlegens."

Die Unterscheidung von "männlichen" und "weiblichen" Völkern Europas findet sich etwa bei Bismarck, wie Yorck von Wartenburg belegt: "Es ist ... wohl zu unterscheiden zwischen aktiven und passiven Völkern, oder, wie es auch Bismarck in Versailles gelegentlich einmal, den Unterschied zwischen Germanen und anderseits Kelten und Slawen hervorhebend, bezeichnete, männlichen und weiblichen Volksindividualitäten. Die ersteren sind die, welche das Land sich bilden, die letzteren unterliegen dem Einflusse der Landesnatur. Der stärkste Vertreter des ersten Typus sind die Germanen, welche jetzt die verbreitetsten Träger der herrschenden und allein Zukunft habenden christlichen Kultur sind." (Paul Graf von Yorck von Wartenburg, Weltgeschichte in Umrissen. Federzeichnungen eines Deutschen, (32. Auflage Berlin: Mitter und Sohn 1933) S. 5.

(16) So schreibt MacDougall in seiner Analyse von Ursprungsmythen in der englischen Geschichtsschreibung: "Bis ins 20. Jahrhundert wurde die Angemessenheit der Verwendung eines Rassebegriffs mit Bezug auf die verschiedenen europäischen Völker kaum in Zweifel gezogen. Wenn heute auch anerkannt ist, dass es bei der Anwendung des Kriteriums des gemeinsamen genetischen Ursprungs keine deutsche, englische, irische, arische oder jüdische Rasse gibt - die Wanderungen der Völker und die Heiraten zwischen ihnen schließen eine solche Möglichkeit aus -, teilten frühere Generationen diese Auffassung kaum." Vgl. Hugh A. MacDougall: Racial Myth in English History. Montreal: Harvest House 1982, Einleitung (Übers. FMW). Zu rassistischen Traditionen in der deutschen Kulturphilosophie vgl. meinen Aufsatz "Rassismus und Kulturphilosophie" in: Heiß, Gernot (Hg.): Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938-1945. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1989, S. 89-114.

(17) MacDougall schreibt im selben Zusammenhang über den "Anglo-Saxonism, Teutonism" oder "Gothicism", er beruhe in erster Linie auf der These: "Die germanischen Völker sind aufgrund ihrer unvermischten Herkunft und ihrer universellen Zivilisierungsmission aus sich heraus allen anderen Völkern überlegen, sowohl in ihrem individuellen Charakter, als in ihren Institutionen." (a.a.O., übers. FMW)

(18) Vgl.: Weule, Karl: Die Kultur der Kulturlosen. Stuttgart: Kosmos 1910.

(19) Vgl.: Towa, Marcien: Die Aktualität der afrikanischen Philosophie. In: Wimmer, Franz Martin (Hg.): Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika. Wien: Passagen 1988, S. 59: "Die jüngste Entwicklung der Philosophie in Afrika ist von einer rigorosen Entlarvung der theoretischen Doppeldeutigkeiten der Ethnophilosophie, und von darauf folgenden heftigen Polemiken gekennzeichnet. Nun sind aber die Ansichten, wie sie HOUNTONDJI, einer der Wortführer dieser Entlarvung, entwickelt hat, ihrerseits nicht frei von Doppeldeutigkeiten. HOUNTONDJI wirft den Ethnophilosophen vor allem vor, sie hätten dem traditionellen Afrika Begriffsentwicklungen zugeschrieben, die einzig und allein von ihnen selbst stammten. Da die Philosophie nach seiner Auffassung nichts anderes ist, als eine Theorie der Theorie, ein Kommentar zur Wissenschaft, hat Afrika einen solchen Diskurs nicht hervorbringen können, da es die Wissenschaft nicht kannte. Diese ist in der Tat nicht vorstellbar ohne die Schrift, argumentiert HOUNTONDJI. Nun hat aber Afrika die Schrift nicht gekannt."

Vgl. auch Hountondji, Paulin: Afrikanische Philosophie. Mythos und Realität. Berlin: Dietz 1993, S. 30: "Bisher war afrikanische Philosophie nur wenig mehr als eine Ethnophilosophie, die eingebildete Suche nach einer unwandelbaren, kollektiven Philosophie, gemeinsam allen Afrikanern, wenn auch in unbewußter Form."

(20) Kirchner, Friedrich: Geschichte der Philosophie von Thales bis zur Gegenwart. 3. Aufl., Leipzig: Weber 1896, S. 13f. Der Text fährt fort: "Die Juden waren ohne philosophische Anlage. Zoroasters Zend-Avesta enthält neben der dualistischen Idee nur religiöse und physikalische Lehren, was darin Philosophisches ist, stammt von späteren, griechischen Einflüssen her. Von der bei den Griechen viel gerühmten ägyptischen Weisheit wissen wir heute nicht mehr als damals, denn sie gehört ins Reich der Sage. Kongfutse und Laotse haben den Chinesen nur praktische Moral und eine symbolische Mythologie über Himmel und Erde gebracht.

Ja, selbst die höchste dieser orientalischen Spekulationen, die indische, bietet unter grotesken, oft abenteuerlichen Sagen nur den einen großen Gedanken, daß alles aus der einen Naturkraft hervorgehe und in dieselbe zurückkehre ..."

Das Kriterium gesellschaftlich-politischer Bedingungen, auch innerhalb der okzidentalen Geistesgeschichte anwendbar, findet sich im Zusammenhang mit der Ausscheidung der mittelalterlich-scholastischen Philosophie sehr deutlich bei Autoren der Aufklärung. Vgl. Heumann, Christoph August: Acta philosophorum, das ist gründliche Nachrichten aus der historia philosophica, Bd. 1, Halle 1715: "... die Closter-Philosophie führet diesen Nahmen nur abusive, und heisset eben so viel, als Virgo deflorata. Denn gleichwie die Philosophi barbarici ihren Verstand nur brauchten, die Abgötterey im Flor zu erhalten; also war auch die Philosophie der Münche zu nichts anders abgesehen, als das greuliche Pabstthum bey Ehren zu erhalten, und demselben eine Stütze nach der andern unterzusetzen."

Heumann gibt noch eine Reihe anderer Faktoren - z.B. ein gemäßigtes Klima - an, die vorhanden sein müssen, damit Philosophie entsteht oder gedeiht. Vgl. dazu meine Vorlesung zur Geschichte der Philosophiehistorie (5. Vorlesung), im Internet: http://mailbox.univie.ac.at/Franz.Martin.Wimmer/phhistvl5.html

(21) Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Leipzig: Reclam 1982, Bd. 1, S.136f.

(22) Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts, 2 Bde., zitiert nach der `Volksausgabe' München: Bruckmann. 1906, S.707.

(23) Schingnitz, Werner und Joachim Schondorff: Philosophisches Wörterbuch. 10. völlig neu bearbeitete Aufl., Stuttgart: Kröner 1943, Art.: "jüdische Philosophie", S. 291; vgl. auch z.B. die Artikel zu Bergson, Cassirer, Cohen, Husserl usw.

(24) Vgl. Tanck de Estrada, Dorothy: La ilustración y la educación en la Nueva España. México: Consejo Nacional de Fomento Educativo 1985, S. 41, Anm.: "Cornelio de Paw [sic!] y otros europeos escribieron que el náhuatl era inadequado para expresar conceptos filosóficos y teológicos."

(25) Höllhuber, Ivo: Geschichte der Philosophie im spanischen Kulturbereich. München: Reinhardt 1967, S. 9. Wie in vielen Fällen in Aussagen über kulturelle Sachverhalte fällt auch hier zunächst die gedankenlose Allaussage des zitierten Philosophen ("toutes les langues") auf, die ja gewiss ohnehin nicht ernst gemeint war, sondern sich nur auf eine Handvoll europäische Sprachen unter Voraussetzung des scheinbar plausiblen Vorurteils bezog, dass andere von vornherein irrelevant seien. Warum aber eigentlich eine Einschätzung wie bei Delbos zustande kommen konnte, also die Zuschreibung oder Vermutung eines philosophisch relevanten Kompetenzmangels der spanischen Sprache, v.a. auf Grund der Unterscheidung von "ser" und "estar" für das deutsche Verb "sein", diskutiert Ilse Schütz-Buenaventura in ihrer Innsbrucker Dissertation: "Globalismus contra Existentia. Das Recht des ursprünglich Realen vor dem Machtanspruch der Bewußtseinsphilosophie: Die hispanoamerikanische Daseinssemantik" (Wien: Passagen 2000).

(26) Gruppelaar, Jacob A.G.: Die politische Gesellschaft 'gegenüber' dem Multikulturalismus. In: Wils, Jean-Pierre und Hans-Peter Mahnke (Hg.): Multikulturalität. Traum - Alptraum - Wirklichkeit. Edition ethik kontrovers 6. Frankfurt/M.: Diesterweg 1998, S.20.

(27) Ähnliche Allaussagen finden sich auch als Kritik am Neokolonialismus. Vgl. Goldschmidt, Dietrich: Schwarzafrika auf dem Weg zur eigenen Identität? Eine Didaktik der kulturellen Transformation. In: Huber, Paul, Dieter Munz und Christoph Wild (Hg.): Notwendige Bücher. München: Kösel 1974, S. 107: "Schwarzafrika wird gegenwärtig - wo und wie immer die politischen Verhältnisse es zulassen - zum Tummelplatz von wirtschaftlichen Ausbeutern, politischen Doktrinären und weltverbessernden Schwärmern aus aller Welt. Sie alle sind Neokolonialisten - von rechts bis links, von Weiß bis Schwarz. Jeder sagt 'Partner' und sucht Beute ..."

(28) Antônio Vieira SJ: Sermão do Bom Ladrão, zit. nach Martins, Wilson: História da Inteligência Brasileira, Volume I (1550-1794). São Paulo: T.A.Queiroz, 4. Aufl. 1992, S.(Übers.: FMW).

(29) Antônio Vieira SJ: Historia do Futuro, zit. nach Chaui, Marilena: Brasilien: Gründungsmythos und autoritäre Gesellschaft. In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Nr. 10/11 (im Druck; Übers.: FMW; auch für diesen Hinweis danke ich Mag. Adalberto Mikosz).

(30) Neben der Vertreibung der portugiesischen Missionare aus Japan zu Beginn des Jahrhunderts und einer ähnlichen Maßnahme im Mogulreich 1632 ist das Vordringen der niederländischen und englischen Handelsgesellschaften in zuvor portugiesisch dominierte Gebiete nicht zu übersehen.

(31) Beide Zitate nach Flexner, Stuart Berg: I hear America talking. An Illustrated History of American Words and Phrases. New York: Simon and Schuster, 1979, S.144.

(32) So sagt Daya Krishna im Zusammenhang mit "vergleichender Philosophie": "Comparative philosophy ... has been bogged down from the very beginning with the question of whether there is anything that can be called "philosophy" outside the western tradition. It took a fairly long time for scholars to realize that the so-called histories of philosophy they were writing about were mainly histories of western philosophy and not of philosophy outside the western hemisphere. Bertrand Russell was the first person to acknowledge explicitly, in the very title of his work relating to the history of philosophy, that it was a history of western philosophy and not of philosophy in general." Krishna, Daya: Comparative Philosophy: What It Is and What It Ought to Be. In: Larson, Gerald James und Eliot Deutsch (Hg.): Interpreting Across Boundaries. New Essays in Comparative Philosophy. Delhi: Motilal Banarsidass 1989, S.73.

(33) Unter den Philosophiehistorikern Europas hat sich diese Ansicht erst im 18. Jahrhundert durchgesetzt. Zuvor spielt die "philosophia barbarica" eine wichtige Rolle. Darunter hatten europäische Historiker der Philosophie Denktraditionen verstanden, die sie der griechischen gegenüber und zuweilen im Rang über diese stellten: die "chaldäische", ägyptische, hebräische, aber auch keltische, "hyperboräische" und andere mehr. Die "philosophia barbarica" wurde deshalb hoch geschätzt, weil sie angeblich auf eine ursprüngliche, göttlich inspirierte Weisheit der Zeit vor der Sintflut zurückging.

(34) Vgl. Rorty, Richard: Wahrheit und Fortschritt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000.

(35) Frauwallner, Erich: "Die Bedeutung der indischen Philosophie" in: Hans-Heinrich Schaeder (Hg.): Der Orient in deutscher Forschung. Vorträge der Berliner Orientalistentagung Herbst 1942. Leipzig: Harrassowitz 1944, S.168f.

(36) Chatterjee, Margaret: Philosophie in Indien heute. In: Wimmer, Franz M. (Übers., Hg.): Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Amerika. Wien: Passagen 1988, S.67.

(37) Mall, Ram Adhar: "Andersverstehen ist nicht Falschverstehen", in: Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich (Hg.): Verstehen und Verständigung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S.275.

(38) Vgl. Tempels, Placide: Bantu-Philosophie. Ontologie und Ethik. Heidelberg: Rothe 1956 [1945].

(39) Tempels, Placide: Mélanges de philosophie africaine. (Hg. P. Smet) Kinshasa: Faculté de theologie catholique, 1978, S.(dt. von FMW).

(40) Lorenz, Kuno: Indische Denker. München: Beck 1998, S. dies gilt etwa ganz explizit auch für Tempels' "Bantu-Philosophie".

(41) Lamprecht, Karl: Europäische Expansion. In: Pflughk-Harttung, J. von (Hg.): Weltgeschichte. Neuzeit seit 1815. Berlin: Ullstein 1910, S. 599-625; hier: S.617.

(42) Six, Clemens: Hindu-Nationalismus und Globalisierung. Die zwei Gesichter Indiens: Symbole der Identität und des Anderen. Frankfurt/M.: Brandes&Apsel / Südwind. 2001, S.22.

(43) Vgl. Huntington, Samuel P.: The Clash of Civilizations. In: Foreign Affairs 1993, Summer, S. 22-49.

(44) Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Bd. 1. München: dtv 1975, S. 34.

(45) Forstner, Martin: Das Feindbild haben immer die Anderen. Der Konflikt der Kulturen aus arabisch-islamischer Sicht. In: Dostal, Walter, Helmuth Niederle und Karl R. Wernhart (Hg.): Wir und die Anderen. Islam, Literatur und Migration. Wien: WUV 1999, S. 81-98; hier S. 97.

(46) Holenstein, Elmar: Kulturphilosophische Perspektiven. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998. S. 257.

(47) Moller Okin, Susan: Is Multiculturalism Bad for Women? Princeton: Princeton UP 1999.

(48) Clauß, Ludwig Ferdinand: Rasse und Seele. Eine Einführung in die Gegenwart. München: Lehman 1939. S.16.

(49) Vgl. Wimmer, Franz Martin: Rassismus und Kulturphilosophie. In: Heiß, Gernot (Hg.): Willfährige Wissenschaft. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1989, S. 89-114. Im Internet: http://mailbox.univie.ac.at/Franz.Martin.Wimmer/rassismus89.html

(50) Clauß op.cit. S.178.

(51) Vgl.: Senghor, Léopold Sédar: The Foundations of "Africanité" or "Négritude" and "Arabité" Paris: Presence Africaine 1971; ders.: "L'esprit de la civilisation ou les lois de la culture négro-africaine". In: Premiers Jalons pour une politique de la culture. Paris: Présence Africaine 1968, S. 11-25; ders.: "Pourquoi une idéologie négro-africaine?". In: Présence Africaine, vol. 82, 1972, S. 11-38.

(52) Krautz, Wolfgang: Nachwort. In: Peter Abailard: Gespräch eines Philosophen, eines Juden und eines Christen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 328. Vgl. auch: Weiße, Wolfram: Das Christentum und die Nachbarreligionen. Eine Frage der Toleranz? Anstöße für die Religionspädagogik durch ökumenische Dialogerfahrungen. In: Broer, Ingo und Richard Schlüter (Hg.): Christentum und Toleranz. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, S. 175; Margull, Hans-Jochen: Zeugnis und Dialog. Ausgewählte Schriften. Ammersbeck bei Hamburg 1992.

(53) Vgl. Küng, Hans: Projekt Weltethos. München: Piper 1990; ders.: Das Humanum als ökumenisches Grundkriterium, in: Südwind, Wien, Juni 1993, Nr. 6, S. 38-39.

(54) Vgl. Klien, Susanne: Rethinking Japan's Identity and International Role. An Intercultural Perspective. London: Routledge 2002.

(55) Vgl. Galtung, Johan: Kultur, Struktur und intellektueller Stil. In: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft. Jg. 11, 1983, Nr. 2, S. 303-338.

(56) Die hier unterschiedenen Typen von Zentrismen werden näher ausgeführt in meinem Aufsatz: Kulturalität und Zentrismen im Kontext interkultureller Philosophie. In: Cesana, Andreas und Dietrich Eggers (Hg.): Thematischer Teil II: Zur Theoriebildung und Philosophie des Interkulturellen (= Wierlacher, Alois, Hg.: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, Bd.: 26) München: iudicium Verlag 2000, S. 413-434.

(57) Mouffe, Chantal: Democratic Values, Human Rights and Pluralism. Konferenzbeitrag zu: Diversity, Justice, and Democracy, Wien 2003 (erscheint 2004): "Panikkar convincingly argues that the concept of human rights relies on a well known set of presuppositions, all of which are distinctively Western namely: there is a universal human nature that can be known by rational means; human nature is essentially different from and higher than the rest of reality; the individual has an absolute and irreducible dignity that must be defended against society and the state; the autonomy of that individual requires that society be organized in a nonhierarchical way, as a sum of free individuals." Vgl. Panikkar, Raimundo: Is the notion of Human Rights a Western Concept? In: Diogenes Nr. 120. 1982.

(58) Dem würden zentrale Aussagen des frühen Daoismus widersprechen. So heißt es im Daodejing (Kap. 25): "Der Mensch nimmt zum Gesetz die Erde", was auch übersetzt werden kann mit "Mensch folgt Erde". Die Interpretation dieser Stelle zusammen mit den anderen dort genannten Relationen legt die Auffassung nahe, dass "der Mensch" eben nicht in wesentlicher Weise von Naturdingen verschieden ist.

(59) Vgl. Dietler, Wilhelm: Gerechtigkeit gegen Thiere. Bad Nauheim: ASKU-Presse. 1997 [1787] S. 24: "[...] weiter will man ja nichts behaupten, wenn man sagt: die Thiere haben Rechte, als daß der Mensch Pflichten gegen dieselben habe."

(60) Vgl. Levinson, David und Melvin Ember (Hg.): Encyclopedia of Cultural Anthropology. New York 1996, Artikel: Human Rights and Advocacy Anthropology.: "Human rights are usually framed as the rights of the individual in relation to state [...]." (Zit. nach Thaler, Mathias: Antworten auf den Kulturrelativismus. Eine philosophische Untersuchung aktueller Debatten zur Universalität der Menschenrechte. Diplomarbeit, Universität Wien 2002, S. 2) Im Internet: http://mailbox.univie.ac.at/Franz.Martin.Wimmer/diplthaler.pdf

(61) Paul, Gregor: Philosophie der Menschenrechte. Ergebnisse eines Projekts. In: polylog. Forum für interkulturelles Philosophieren 2, Abs. 1-19, 2001. Im Internet: http://www.polylog.org/agd/2/prs3-de.htm [Abruf: 13. August 2003]. Abs. 18.

(62)2 Mouffe 2003 op.cit.: "[...] there is no necessary overlap between the idea of the 'person' and the idea of the 'individual'. The 'individual' is the specific way in which Western liberal discourse formulates the concept of the self, however other cultures envisage the self in different ways."

(63) Freud, Sigmund: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. In: Gesammelte Werke. Bd. XII. Frankfurt/M.: Fischer 1966 [1917]. S. 11.

(64) Marx zit. nach Irrlitz, Gerd (Hg.): Marx und Engels über Geschichte der Philosophie . Leipzig: Reclam 1983. S. 53.

(65) Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Bd.1. Hg. von Gerd Irrlitz. Leipzig: Reclam 1982 [1833] S. 41.

(66) Bielefeldt, Heiner: Auf dem Wege zum interkulturellen Menschenrechtskonsens. In: Keim, Wolfgang (Hg.): Pädagogik in multikulturellen Gesellschaften (= Jahrbuch für Pädagogik). Frankfurt/M. 1996. S. 37.

(67) Redaktion: Islam oder Menschenrechte. In: explizit. Das politische Magazin für ein islamisches Bewusstsein, Bd. 6, 1998, Nr. 21. S. 14.

(68) Quelle im Internet: Islamic Human Rights Documents: http://www.religlaw.org/interdocs/docs/cairohrislam1990.htm

(69) Ein Vergleich der zitierten Kairoer Deklaration mit der "Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten" des Europarats (1950) macht z.B. deutlich, dass einschränkende Klauseln in beiden Fällen zu praktisch jedem Grundrecht vorkommen. Im einen Fall werden sie auf die "Scharia" bezogen, im anderen Fall auf die "demokratische Gesellschaft". So sichert der Art.der "Konvention" das Recht auf Leben zu, nimmt davon aber Fälle aus wie den, "um im Rahmen der Gesetze einen Aufruhr oder Aufstand zu unterdrücken"; die Artikel 8-11 der Konvention, in denen Individualrechte wie Achtung der Privatsphäre; Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; das Recht auf freie Meinungsäußerung; die Versammlungs- und Vereinsfreiheit garantiert werden, enthalten jeweils Klauseln wie diejenige zur Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit: es seien solche Beschränkungen zulässig, "die in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind." - Es ist für eine wirkliche Auseinandersetzung mit einer islamischen Deklaration wie derjenigen von Kairo notwendig, sich zumindest der Parallelen bezüglich von faktischen und expliziten Einschränkungen allgemeiner Grundrechte durch Konzepte wie "demokratische Gesellschaft" oder auch durch geltendes staatliches Recht und nicht nur - im anderen Fall - durch "Scharia" bewusst zu sein.

(70) Musawi Lari, Sayid Mujtaba: Westliche Zivilisation und Islam. Muslimische Kritik und Selbstkritik. Qom: Musavi Lari Foundation of Islamic C.P.W. (ca. 1997) S. 136.

(71) Paul 2001 op.cit.: Abs. 10. Er fährt fort: "Andernfalls könnten alle Traditionen dasselbe Maß an Gültigkeit beanspruchen. Das heißt, dass die Kriterien für den Wert einer Tradition externer Art sein müssen."

(72) Zum Konzept des Polylogs in der Philosophie vgl. Wimmer, Franz Martin: Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung. Wien: WUV 2004, S.61ff.


4.8. Das Unbehagen in der Kultur - ein verbindendes Element in der Welt von heute ?

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For quotation purposes:
Franz Martin Wimmer (Wien): Differenz als Defizienz oder als Chance. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/04_08/wimmer15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 21.5.2004     INST