Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. August 2004
 

4.10. Kultur und Sozium und Kultur. Probleme der Globalisierung
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Mikhail Blumenkrantz (Charkow)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Der Wind des Exils. Das Glück, fremd zu sein

Boris Chasanow (München)
[BIO]

 

  Der Schriftsteller im Exil bleibt seiner Heimat treu und ist doch grenzenlos frei - Nicht Nostalgie, sondern das Gedächtnis bewegt sein Schreiben

Seitdem es die Zivilisation gibt, existiert die Emigration, seitdem es Landesgrenzen gibt, existiert das Ausland. Als Begründer der russischen literarischen Verstreuung können wir den Fürsten Andrej Kurbski betrachten, den Verfasser flammender Anklagebriefe an Iwan den Schrecklichen, doch die Genealogie des verbannten Dichters ist viel älter. Der literarische Emigrant darf auf sein uraltes Los wahrlich stolz sein; die Kette seiner Vorfahren und Vorgänger verliert sich in unvorstellbarer Ferne. Er wärmt sich am Gestade des Pontus Euxinus neben dem Schatten Nasos am Feuer. Und ist nicht er es, der - in Abwesenheit zum Tode verurteilt - gemeinsam mit Dante im fremden Ravenna Papst Bonifaz voll grimmiger Freude in die Hölle stößt? Die Jahrhunderte haben wenig an seinem Schicksal geändert. Was ist das Vaterland? Der Ort, an dem man nicht begraben wird. Alexander Herzen ruht dreitausend Werst weit von Moskau entfernt auf dem Friedhof Père-Lachaise. Am Rande von Oakland auf der Nordinsel Neuseelands liegt der deutsche Dichter Karl Wolfskehl unter einem Stein mit der lateinischen Inschrift: Exsul poeta.

"Doch ewig dauert mich der Emigrant, als ein Gefangener und Kranker. Wanderer, dein Weg ist dunkel, nach Wermut schmeckt das fremde Brot." Diese Zeilen von Anna Achmatowa sind eine Reminiszenz an Dante, er spricht vom bitteren Brot der Fremde (lî pane altrui). Das Brot daheim, sollte man meinen, schmeckt also süß. Weit gefehlt. Anna Achmatowa konnte sich nur nicht eingestehen; dass sie eine Emigrantin im eigenen Hause war.

Das Wort exsilium, das in die neuen Sprachen eingegangen ist, findet sich bei den Autoren des ersten Jahrhunderts und bedeutet nach zwei Jahrtausenden immer noch dasselbe. Jemanden verbannen heißt, ihn endgültig und für immer vertreiben, damit er sich ja nicht wieder blicken lässt. Der Verbannte stirbt für die, die da bleiben. So war es auch bei uns. Indes, wir leben noch. Die Jahre sind vergangen, manches hat sich verändert, und man hat sich in unserer früheren Heimat an uns erinnert, um uns feierlich zu erklären, dass wir, Flüchtige und Entlaufene, der Vergangenheit angehören: Die Grenze ist durchlässig geworden, die Emigration entbehrt ihrer Grundlage.

Aber Verbannung ist ein lebenslanges Brandmal, vielleicht sogar eine existenzielle Kategorie. Man kann die Verbannung für ungültig erklären, sie unwirklich zu machen ist unmöglich. Ein byzantinisches Sprichwort lautet: Wenn der Wolf alt geworden ist, erlässt er Gesetze. Sind wir etwa keine Byzantiner? Wir kennen dieses Land nur allzu gut. In neuer Gestalt zeigt der Wolf uns wie früher die Zähne.

Wir lebten im Zeitalter der Polizeizivilisation. Ihre Denkmäler bedrängen jeden, der nach Moskau kommt. Nur die Denkmäler? Selbst wenn man die riesige Geschwulst im Herzen der Stadt herausgeschnitten hätte, selbst wenn man mitsamt dem Gebäudekomplex der Geheimpolizei den vielstöckigen Bau der Korruption und Willkür abgerissen hätte, wäre die Rückkehr für den Verbannten eine neue Emigration.

Natürlich ist er ein Mensch der Vergangenheit. Alle Uhren sind am Tag seiner Ausreise stehen geblieben. Wie das Gesicht einer verstorbenen Frau auf einem Foto steht ihm die Heimat so vor Augen, wie er sie zum letzten Mal gesehen hat. Er kann nicht glauben, dass sie tatsächlich lebt, wieder geheiratet und Kinder bekommen hat, ja, dass sie es sogar zu etwas im Leben gebracht hat.

Sein ganzes Wesen, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht, sträubt sich gegen die Vermutung, dass "die" irgend etwas auf die Beine stellen könnten. Das ließ sich leicht bei den Emigranten der ersten Fluchtbewegung nach der Revolution feststellen: Die Zukunft, in die sie so hartnäckig ihre Hoffnungen setzten, war nichts anderes als die Vergangenheit. Sie träumten von einem Land, das es in Wirklichkeit längst nicht mehr gab; jenes Land aber, das weiterhin bestand, erschien ihnen als hoffnungslos. "Ein im Gefecht verwundeter Soldat hält es stets für verloren", sagt Tolstoi. Die Emigration zuckt die Achseln, wenn sie von Erfolgen des Vaterlandes hört, aber nicht, weil sie ihm Böses wünscht, sondern weil sie so beschaffen ist, weil ihr die Erinnerung aufgebürdet ist und sie für diese Erinnerung lebt.

Gegen die Verbannung ist nichts zu machen, die Verbannung ist ein Abschied für immer. Eine geglückte Flucht. Man ist über Bord gesprungen, auf der anderen Seite des Palisadenzauns, der Wachtürme mit den Scheinwerfern, des Todesstreifens und des Stacheldrahtverhaus aus dem heimlich gegrabenen Tunnel gekrochen: hinaus in die jenseitige Welt oder, besser gesagt, aus dem jenseitigen Leben in die große, weite Weit, aus dem versklavten, vergitterten Land in die Freiheit hinaus.

Für diesen Erfolg musste man zahlen. Im Grunde musste man mit dem ganzen gelebten Leben dafür zahlen. Der Staat, der den Flüchtling mit einem Tritt in den Hintern bedachte, anstatt mit ihm abzurechnen, wie er es mit jedem tat, bei dem er auch nur einen Schatten des Dissenses argwöhnte, gab sich nicht damit zufrieden, ihn bis aufs Hemd auszuplündern, sondern beraubte ihn auch seiner Rechte, seiner Würde und seines Eigentums. Seine Vergangenheit musste vernichtet werden, alles, was er geschaffen hatte, musste getilgt und jede Erinnerung d àran ausgekratzt werden. Von nun an w ürde man seinen Namen nie mehr aussprechen. Alles, was er geschrieben hatte, wurde beschlagnahmt und vernichtet. Es gab ihn nicht nur nicht, es hatte ihn auch niemals gegeben.

Dafür sollte sein dick aufgequollenes Dossier mit dem Vermerk "Zur ewigen Aufbewahrung" nie verschwinden oder verloren gehen. Der Rachen mit den scharfen Zähnen sollte die Erinnerung an die entwischte Beute ewig speichern. Vielleicht würde es ihm doch noch einmal gelingen, sie zu packen.

Unterdessen nahm der Verbannte statt seiner Habe und seiner "Wurzeln" etwas Unschätzbares mit hinaus. In der Leibesvisitationskabine des Flughafens Scheremetjewo 2 musste er sich in den letzten Minuten nackt ausziehen, aber das Wichtigste fand man nicht. Das Wolfsmaul schnappte ins Leere. Die unsichtbaren Devisen, derer man nicht habhaft wurde, die er aber dennoch mitnahm, sie waren seine Sprache.

Seine Sprache, der unveräußerliche Reichtum, die Flügel, die dem vom Fels Gestürzten auf dem Rücken wachsen! Die Sprache, nicht von ungefähr Wohnstatt des Seins genannt, sie, die in jedem von uns aufersteht und uns alle überlebt, die Lebenden und die Toten, und uns über den Kopf der Zeitgenossen und Regenten hinweg mit der Tradition verbindet. Heine nannte die Bibel das tragbare Vaterland des ewig wandernden Volkes. Die Sprache: Sie ist das einzige, ewige und unausrottbare Vaterland, das der Verbannte mitgenommen hat.

Doch dort, wo er seinen Anker geworfen hat, heißt alles anders, und selbst wenn ihm die Sprache des Landes, das ihm Zuflucht gewährt, nicht ganz fremd ist, wird er sogleich bemerken, dass man hier auch anders denkt. Seine Sprache ist unübersetzbar. Der Segen des emigrierten Schriftstellers, seine Muttersprache, ist zugleich auch sein Gefängnis. Es dämmert ihm nicht sofort, dass er seinen eigenen Käfig mitgeschleppt hat. Jede Sprache bildet eine in sich geschlossene Kontur des Denkens, doch der russische Verbannte ist zudem aus einem abgeriegelten Land gekommen, aus einer gigantischen Provinz: Der Stoff seiner Sprache riecht selbst nach Muff und Unfreiheit. Die Macht der mitgebrachten Erinnerungen, Gewohnheiten und Marotten hindert ihn daran, ruhig und würdevoll die neue Weit zu betreten: das, was man den Kulturschock nennt, ist der psychologische beziehungsweise psychopathologische Komplex aus Verwirrung, Unsicherheit und Angst, sich selbst einzugestehen, dass man nicht begreift, wohin man geraten ist. Das Glück der erlangten Freiheit hat sich in Enttäuschung verkehrt. Die seelische Inkompatibilität wird zur Ursache komischer und trauriger Mißverständnisse.

Eine Vorstellung davon können die ersten Proben aus der Feder in der Fremde geben, der Bericht des Neubürgers über das Leben im anderen Land: Die ersten Eindrücke sind entgegen der landläufigen Meinung falsch. Neun Zehntel dessen, was russische Flüchtlinge kurz nach ihrer Ankunft in Westeuropa oder Amerika geschrieben haben, bestätigen diese Behauptung. Der "frische Blick" sieht die Oberfläche, ohne zu wissen, was d àrunter ist, er kann sich nicht von Stereotypen lösen, von Illusionen und Vorurteilen, er beobachtet weniger, sondern sucht eher in dem, was er sieht, die Bestätigung für etwas, das immer wieder behauptet worden ist, das er irgendwann einmal gehört oder irgendwo gelesen hat, der frische Blick ist in Wirklichkeit gar nicht so frisch und verzerrt unwillkürlich die Proportionen, übersteigert die Bedeutung von Zweitrangigem und Nebensächlichem und bemerkt die Hauptsache nicht.

Die Kenntnis einer Sprache beschränkt sich nicht darauf, dass man verstehen kann, worüber gesprochen wird, man beherrscht sie vielmehr erst dann, wenn man versteht, worüber geschwiegen wird. Die Kenntnis einer Sprache ist die Kenntnis des Subtextes des Lebens. Das Unvermögen, die Mensch en um sich herum zu verstehen, und noch mehr das Nichtverstehen dessen, worüber sie nicht sprechen, was sich von selbst versteht, verwandeln den Neuling in einen Invaliden. Aus Mitleid behandelt man ihn unwillkürlich wie einen Begriffsstutzigen. Die einfachen Leute halten ihn gar für schwachsinnig. Weh dem Sprachlosen! Er ist wie ein Taubstummer inmitten einer lärmenden Menschenmenge, wie ein Kinobesucher, der einen Film anschaut, dessen Ton abgeschaltet ist. Was geschieht? Die Personen zanken, lachen und gestikulieren. Er strengt sich an, den Sinn aus vereinzelten, mühsam erhaschten Worten zusammenzusetz åï wie einen Brief aus Papierfetzen. Und selbst wenn er allmählich die Mundart der Einheimischen erlernt, so bleibt ihm doch vieles, oh so vieles unverständlich und verschlossen. Zwar kann er jetzt den Text des Lebens einigermaßen lesen, aber er kennt den Kontext nicht.

Indes, er ist Schriftsteller und erinnert sich daran, dass sich die Kunst erheblich mehr für das Verdrängte interessiert als für das Erlaubte, mehr für das Verborgene als für das Offenliegende, mehr für das Mitgedachte als für das Ausgesprochene. Er ist Schriftsteller und kann nur über das schreiben, was er gründlich kennt. Diese Kenntnis muss er sich nicht erwerben. Er besitzt ein offenes Konto bei der Bank des Gedächtnisses, und er kann davon abheben, soviel er will. Das ist der Grund, weshalb die Literatur der Verbannten der Vergangenheit zugewandt ist, dem, was sie hinter der Absperrung zurückgelassen haben.

Der Emigrant ist übervoll von seiner Vergangenheit. Er muss sie verdauen. Die Verdauung beginnt, wenn das "Essen" im eigentlichen Sinne beendet ist - wenn das frühere Leben aufgehört hat: in der Verbannung. Die Exilliteratur sucht meist nicht nach neuen Themen. Und wenn sie "heimkehrt", erscheint sie vielen in der Heimat veraltet. Dabei lässt man außer Acht, dass sie etwas geschaffen und sich angeeignet hat, was vielleicht wichtiger ist - eine neue Sehweise. Menschen, die von Vorurteilen geblendet oder von der Propaganda genasführt sind, glauben, die Verbannung schlage den Schreibenden mit Stummheit. Die Macht, die den Schriftsteller in Acht und Bann gelegt hat, glaubte, doppelt gewon nån zu haben, als sie ihm in der Heimat den Mund gestopft und ihn in die Fremde verstoßen hatte. Jetzt würde er endgültig ersticken. Wer k önnte dort etwas mit ihm anfangen? Herausgerissen aus der Heimaterde, hängt er in der Luft. So glaubt die Macht. Und reibt sich frohgemut die Hände. Die schmutzigen, behaarten Hände, unter deren Nägeln das Blut getrocknet ist.

Indessen sind alle diese Metaphern mehr oder weniger falsch. Weil die Literatur ihr eigener Boden ist. Die Literatur lebt weniger von den Säften des Lebens, sondern mehr von den Erinnerungen: Das Gedächtnis ist ihr nährender Humus. Die Kunst ist unbehaust und übernachtet im unterirdischen Gewölbe des Gedächtnisses.

Bilden Arbeit und Talent die beiden Hälften des künstlerischen Schaffens, so ist das Gedächtnis seine dritte Hälfte. Wenn Unabhängigkeit Strafe nach sich zieht, wenn Schriftstellerei zum Staatsverbrechen erklärt wird, wenn die Heimat und nicht die Fremde den Schriftsteller zum Schweigen verurteilt und ihn vor die Wahl stellt, sich selbst oder "die Heimat zu verraten", dann erscheint ihm die Emigration als die einzige Möglichkeit, seine Würde zu bewahren und der Literatur treu zu bleiben. Der Emigrant - und auch das gehört zur Tradition - ist maßlos von sich selbst überzeugt. Mit ungeheurer Arroganz wiederholt er den Satz, der einem anderen Verbannten zugeschrieben wird, nämlich Thomas Mann: Wo ich bin, ist der deutsche Geist.

Wo ich bin, so denkt er, triumphiert das freie Wort. Dort sind die russische Sprache und die russische Kultur: Er ist davon überzeugt, dass die echte Literatur nicht unter der Entfernung leidet, eher im Gegenteil. Die Literatur lebt nicht von dem, was man aus seinem Fenster sieht, sondern von dem, was dem Schreibenden vor seinem inneren Auge steht. Die Literatur nährt sich nicht vom Gegenwärtigen, sondern vom Erlebten, sie ist nichts anderes als das Praesens praeteriti, das heutige Leben dessen, was schon vorbei ist. Die Literatur ist eine langsame Angelegenheit: ein Baum inmitten des Unterholzes der Publizistik. Die Literatur, sagt sich der Schreibende, erscheint spät und gewissermaßen aus der Ferne.

Wir machen keine neue Entdeckung, wenn wir das Hauptparadoxon des translozierten Schrifttums aufzeigen. Es ist ein künstlerisches Schaffen unter bisweilen schlimmsten Bedingungen, sodass man sich nur wundert, wie es überhaupt fortgesetzt werden kann. Die Existenz der Exilliteratur selbst ist Nonsens. Man muss verrückt sein, um sich jahrelang dieser Beschäftigung hinzugeben, man muss ägyptische Langmut und einen fantastischen Glauben an die eigene Sache besitzen, um immer noch zu schreiben - unbekannt und verlassen, ohne Leser, ohne einen Kreis gewogener Menschen, inmitten allgemeiner Taubheit, in einem verdünnten Raum. In der Umgebung des Verbannten kennt niemand die Sprache, in der er schreibt. Erweckt auch sein Land in seinem Umfeld Interesse, so ist dieses doch zumeist politisch und keines, das die schöne Literatur befriedigen kann; gewöhnlich erwartet man von diesem Autor nur die Bestätigung dessen, was man schon aus der Presse und dem Fernsehen weiß. Zugleich aber - ja, zugleich - ist es eine Schriftstellerei, der das Leben im fremden Land eine neue, unerwartete Chance bietet.

Als der Schriftsteller das Los des politischen Flüchtlings und Abtrünnigen wählte, gab er alles auf. Und das war gut so! Jetzt ist er einsam und frei. Mag er sich auch nicht dazu durchringen, die Welt zu beschreiben, in der er nun ist und die er sich zu eigen machen muss, vielleicht für den Rest seines Lebens.

Dafür lebt er in einer Welt, die unabhängig davon, ob er sich in sie eingelebt hat oder nicht, seiner inneren Welt eine ganze Dimension neu hinzufügt. Nein, ich glaube nicht, dass das Zeitalter der nationalen Literaturen vorbei ist wie das Zeitalter der nationalen Musik oder der nationalen Malerei. Aber die vom "Nationalen" abgezogene Literatur hat keine Zukunft, sie ist eine Literatur der Krähwinkel und Dorfidyllen. Das Leben in der Fremde verdammt den Schriftsteller zum Einsiedlertum - was macht es? Dafür sieht er die Welt. Der Wind vom Atlantik zaust sein Haar. Dafür befruchtet dieses Leben seine Einbildungskraft mit neuem Wissen, verleiht ihm neues Sehen und neue, unerhörte Erfahrung. Von dieser neuen Lebenserfahrung haben jene keine Ahnung, die "dageblieben" sind. Nicht von ungefähr hat er nach Besuchen seiner Landsleute das Gefühl, mit Menschen gesprochen zu haben, denen ein Auge zu fehlen scheint.

Die Entfernung hat ihre Vorzüge, das wussten bereits unsere Klassiker. Gogol musste nach Rom reisen, um an den "Toten Seelen " arbeiten zu können, Turgenjew schrieb fast alle seine Bücher im Ausland, Dostojewskij verfasste in Dresden seinen vielleicht besten Roman. Dem Blick aus schöner Ferne eröffnet sich bis heute ein ungeahnter Horizont.

Die Handlung des "Ulysses" spielt an einem Junitag des Jahres 1904; das Buch aber wird während des Ersten Weltkriegs geschrieben und erst danach gedruckt. Ein gewaltiger historischer Kataklysmus erschüttert Europa, doch der Sonderling brütet über einem Roman, dessen Handlung in beinahe vorsintflutlicher Zeit abläuft. "Der Mann ohne Eigenschaften" entstand in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen und während des Zweiten Weltkrieges, doch in dem riesigen Roman ist noch nicht einmal der Erste Weltkrieg angebrochen, die Handlung spielt in einem Staat, den es auf der Karte längst nicht mehr gibt. Thomas Mann beginnt die Lebensgeschichte Adrian Leverkühns am 23. Mai 1943, Bomben hageln auf Deutschland herab, doch der Roman und sein Held, die übrigen Personen, die Gespräche und Ereignisse - all das gehört nicht einmal mehr dem Gestern, sondern dem Vorgestern an. Nichts vom alten Russland existiert mehr, über das Bunin schreibt - er schreibt wie in einem Dämmerzustand, ohne etwas um sich herum zu gewahren. Die Exilprosa ist wie Lots Weib, das den Blick nicht von der Vergangenheit lösen kann.

Hat der Schriftsteller das böse Vaterland verlassen, so hält er ihm in seinen Werken die Treue, aber nicht Nostalgie, sondern sein Gedächtnis lenkt ihm die Feder. Ja, er ist dem Vaterland treu, doch es ist ein Vaterland, das es nicht mehr gibt. Das ist im Grunde die einfache Erklärung dafür, wieso Emigranten gewöhnlich als "Ehemalige" aufgefasst werden. Die Verbannten machen den Eindruck von Invaliden der Geschichte. So ist es auch. Nur schreiten diese Invaliden manchmal forscher als die anderen vorwärts. Jedenfalls trifft sie der Vorwurf, sie hätten "sich losgerissen", vollkommen zu Recht. Der in der Emigration gestorbene Dichter und Publizist Ilja Rubin schrieb: "Der Himmel über uns, ein blauer Buckel / das Gedächtnis hinter uns, eine Salzsäule. / Von der Flamme erfasst, brennt Sodom, unser geliebtes Vaterhaus."

Es ist gut, ein Niemand zu sein, es ist gut, ein Fremder zu sein. Zu sterben im Wissen, dass niemand dir dort nachweinen wird. Das Haus ist abgebrannt, es gibt keinen Ort, an den man zurückkehren könnte, es sei denn, in jene ewige Herberge, wo für uns alle Platz ist - in die russische Literatur.

© Boris Chasanow (München)

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For quotation purposes:
Boris Chasanow: Der Wind des Exils. Das Glück, fremd zu sein. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/04_10/chasanow15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 5.8.2004     INST