Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. August 2004
 

5.8. Literatur versus Nation
HerausgeberInnen | Editors | Éditeurs: Alessandra Schininà/Giuseppe Dolei (Catania)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Tradition und Zeitkritik in der österreichischen Erzählliteratur nach 1945

Alessandra Schininà (Università di Catania)
[BIO]

 

Das "Österreichische" zu definieren ist ein oft wiederkehrendes Motiv in der Literatur aus Österreich. Nach 1945 war die Bestimmung der österreichischen Identität eine der Grundlagen für die Legitimation der Zweiten unabhängigen Republik. Man bezog sich so auf das geistige Erbe der "besten" habsburgischen Traditionen, und der offizielle Kulturbetrieb verbreitete das Bild eines friedlichen, toleranten, schon immer europäisch ausgerichteten Landes, das sich als Opfer Nazideutschlands deklarierte. Dies führte zu Widersprüchen, zu Fälschungen, zu einem vielen gelegenen Schweigen über die dunklen Phasen der Geschichte Österreichs im XX. Jahrhundert, die Zeit des Austrofaschismus oder die des Anschlusses.

Das lange Fehlen einer offenen Konfrontation mit der Vergangenheit hat einige österreichische AutorInnen dazu bewogen, sich mit der Geschichte und der Gegenwart des eigenen Landes polemisch und mahnend auseinanderzusetzen, um Klarheit zu schaffen, zu verstehen, zu erinnern. Die hier als Beispiel angeführten Werke von Gerhard Fritsch über Hans Lebert, Ingeborg Bachmann, Milo Dor bis Elfriede Jelinek, Thomas Bernhard, Christoph Ransmayr wurden zwischen 1956 und 1995 geschrieben, also in einem Zeitraum von fast 40 Jahren, und doch weisen sie eine Reihe von oft expliziten gegenseitigen Bezügen, Anspielungen und Korrespondenzen auf. Es ist, als ob sich diese an sich sehr unterschiedlichen AutorInnen um ein gemeinsames Zentrum bewegen, von dem sie nicht loskommen, zwischen einem kritischen Bezug zum Themenkomplex des habsburgischen Mythos und der Entlarvung von nazifaschistischen Hinterlassenschaften.

Das Aufdecken von Makeln in der Geschichte Österreichs und die erbarmungslose (Psycho-) Analyse des "homo austriacus" werden zugleich zu einer Überlegung über die Art und Weise, wie dieses Land künstlerisch (und gekünstelt) dargestellt wurde. Die Entlarvung kulturbedingter Gemeinplätze wird von einer mehr oder weniger radikalen Infragestellung traditioneller literarischer Formen begleitet, so wie von einem gewollten Bezug zu österreichischen "Klassikern". Auch in Werken, deren Handlungen sich "jenseits der Geschichte" abspielen, an entlegenen Orten oder in einer imaginären Zukunft, ist die Verbindung zwischen Tradition und Aktualität, zwischen Politik und Kultur stets ausschlaggebend. Die AutorInnen selbst sind keineswegs frei von Widersprüchen und werden oft missverstanden.

Es ist z.B. der Fall von Gerhard Fritsch, dessen 1956 erschienener Roman Moos auf den Steinen(1) vor allem von der konservativen Seite als Elegie der habsburgischen Welt und Lobpreisung des "modo austriaco" gefeiert wurde, während umgekehrt sein nächster Roman Fasching(2) erbarmungslos als Verunglimpfung Österreichs verrissen wurde. Fritsch, 1924 geboren, war bis zu seinem Selbstmord 1969 als Herausgeber literarischer Zeitschriften tätig und erwies sich als ein sensibler und scharfsinniger Beobachter der Entwicklung des Literaturpanoramas in Österreich. So entsteht in seinem Werk der Übergang von einer realistischen und traditionsgebundenen Literatur zu einer immer kritischer werdenden und experimentellen Schreibweise und zugleich die Verabschiedung von einer sentimental-nostalgischen Haltung gegenüber der habsburgischen Vergangenheit. An ihre Stelle tritt sarkastische Kritik gegenüber dem Alltagsfaschismus in der österreichischen Gesellschaft der Nachkriegszeit(3).

Moos auf den Steinen wurde als "Requiem der Schlossgeschichte" bezeichnet, und tatsächlich dreht sich die Handlung um ein zerfallendes barockes Schloß im Marchfeld, ein Grenzgebiet, das sich südöstlich von Wien befindet und Schauplatz wichtiger Ereignisse der österreichischen Geschichte war. Die Figuren zeigen durch ihr Verhältnis zum Schloß und zu den Traditionen, die es verkörpert, die eigene Fähigkeit bzw. Unfähigkeit sich als Österreicher der Nachkriegszeit den neuen Zeiten anzupassen, d. h., die neuen Gesetze einer auf Konsum ausgerichteten Gesellschaft zu akzeptieren oder nunmehr überholten Werten und Verhaltungsformen treu zu bleiben. Der junge Idealist und erfolglose Schriftsteller Petrik ist in seiner Feinfühligkeit, Nachdenklichkeit, Untentschlossenheit und seinem Hang zur Selbstzerstörung ein typischer Vertreter dieser österreichischen literarischen Tradition von "Männern ohne Eigenschaften" oder besser der vielen Möglichkeiten, die sich in der Wirklichkeit nicht behaupten können:

Petrik wußte, daß Mehlmann recht hatte, wenn er ihm vorwarf, daß er sich alles selbst verdarb. Er nahm das Wichtige unwichtig und das Unwichtige wichtig. Er fing vieles an und ließ alles wieder stehen. [...] Abgesehen davon, daß er keine Durchschlagskraft hatte, überlegte er vielleicht zuviel. Er dachte nach, umständlich, altmodisch[...] (S.10f.)

Ganz anders ist sein Freund und Rivale Mehlmann. Der erfolgreiche Literat ist wohlhabend und geschäftstüchtig, auch weil er sich leicht den Zeiten und der Mode anzupassen vermag. Die zwei Männer stoßen gerade auf dem Gebiet ihres Bezugs zur Tradition aufeinander, d. h. in ihren unterschliedlichen Verhältnissen zum Schloß und zu seinen Bewohnern, einem alten und bizarren Baron und seiner Tochter Jutta. Mehlmann will die nicht mehr so junge Frau heiraten, um sich das Schloß anzueignen und es in eine touristischen Attraktion umzubauen; Petrik verliebt sich in Jutta, schafft es aber nicht, aus einer Atmosphäre von melancholischer Dekadenz herauszukommen, und wird schließlich von den modernen Zeiten überrollt, indem er von einem vorbeirasenden Auto überfahren wird.

Der Roman ist in einem einfachen, realistischen, ironisch-melancholischen Stil verfaßt, der an Joseph Roth erinnert, aber dieses oft als elegisch bezeichnete Werk enthält in Wirklichkeit eine subtile und scharfsinnige Zeitkritik, die die Mischung von Konservatismus, Faschismus und sich anbahnendem Konsumismus der 50er Jahre in Österreich enthüllt. Der Schriftsteller und Unternehmer Mehlmann, ein Freund der Amerikaner, ist nicht zufällig Sohn eines Ex-Nazis. In einigen Zeilen und ohne Kommentar resümiert so Fritsch das heikle Thema der Arisierungen und der Kriegsentschädigungen:

Es gelang Mehlmann jedoch bald, die beschlagnahmte Villa seines Vaters zurückzubekommen, eines höheren Staatsbeamten, der während des Zusammenbruches ins Salzkammergut geflüchtet war. Mehlmann war schon damals sehr aktiv. Er ließ seine Eltern zurückkommen und ordnete die Belange seines Vaters. Der alte Herr kam als einer der ersten seiner Schicksalsgenossen in den Genuß einer ganz annehmbaren Pension. (S.10)

Das gleiche gilt für die alte Zimmervermieterin, die Witwe eines höheren Beamten, "die für Juden wenig übrig hatte" und ein "Kreuz um den Hals" trägt, "das sie nicht zurückgehalten hatte", eine Wohnung "seinerzeit [...] zu arisieren". (S. 264)

Auffallend ist die Arroganz und Gemeinheit Mehlmanns, der sich in den Sälen des halbzerfallenden Schlosses zwischen Marmor, Fresken, Stucken und Bildern mit dem Benehmen eines Maklers bewegt, der ein gutes Geschäft wittert und alles und alle als Objekte behandelt. Fritsch bemerkt, wie die Wiederentdeckung der habsburgischen Vergangenheit nicht nur ein Mittel ist, um eine vom Nazismus unbescholtene österreichische Identität herzustellen. Sie wird auch zum wirtschaftlichen und politischen Tauschobjekt in der Zeit des Kalten Kriegs. Fritsch schwankt jedoch noch zwischen einer sentimentalen Anwandlung für die Überreste der glorreichen Vergangenheit und der Feststellung ihres endgültigen Hinscheidens. Für den Architekt, der den Zustand des Schlosses für die geplante Restaurierung überprüft, wirkt das Gebäude wie ein Gespensterschloß. Er findet alles morsch und verfault: "Salzburger Marmor, Schimmel, Salpeterfäule in den Wänden. Schön, schön. Fundament saugt wie ein Schwamm" (S. 136); und weiter: "Die Bilder mit den ausgestochenen Augen, der Modergeruch, die grauwogende Dämmerung, nirgends ein Licht. Der Modergeruch wurde immer stärker. Als stünde die Gruft offen" (S. 184). So steht Schloß Schwarzwasser für melancholische Schönheit und symbolisiert daneben eine dem Verfall preisgegebenen Ruine:

Das also ist dieses Schloß Schwarzwasser. Eine Ruine, einige Fensterhöhlen leer oder mit Brettern notdürftig vernagelt, viele Dachziegel zerbrochen und herabgefallen. Der Dachstuhl über dem höheren Mitteltrakt zeigte seine Sparren wie ein Skelett die Rippen. Verfall. Langsam, melancholisch zerbröckelnde Vergangenheit in weltverlassener Gegend. Die Barockfassade hält alles noch ein wenig zusammen. Auch im Sterben ist Stil das letzte Gesetz. (S. 19)

Während sich der Autor nach dem Stil und der Eleganz einer vergangenen Epoche sehnt, will Mehlmann nur die Fassade, den Schein aufrechterhalten: innen soll alles renoviert werden, um besser auf den Markt zu kommen. Für ihn ist sowieso alles nur Schein: die Religion, seine Liebe zu Jutta, sein angeblicher Selbstmord. Er selbst gesteht:

Ich will zwei Millionen in diese Ruine stecken [...] Ich will etwas natürlich Verfallenes restaurieren, etwas Überholtes gewaltsam zu neuem Leben, zu einem Scheinleben, erwecken. Ich will öffentliche Gelder haben, ich will ein Kulturleben aufziehen. Wochenschau, Presse, Publicity.(S. 158)

Ganz im Sinne der Anfänge der Zeit der Massenmedien und des Massentourismus plant er also eine Großaktion in Rundfunk und Presse unter dem patriotischen Motto: "Rettet dieses herrliche Kleinod österreichischer Baukunst, rettet ein Symbol unserer großen Vergangenheit!"(S. 54)

Während eines Spaziergangs entlang der in der Nähe des Schlosses fließenden Donau erzählt Baron Suchy die Geschichte des Marchfelds. In der Römerzeit lief hier die Grenzlinie zwischen der "zivilisierten" und der "barbarischen" Welt, wie später die Grenze zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten. In der Mitte steht das Schloß, "eine vergessene leere Mitte, wo die Gespenster umgehen", die Mehlmann "neu erfüllen will". In seinem Eifer verbindet er die wirtschaftlichen und politischen Absichten seiner "Mission": "Wir haben hier eine Verpflichtung, gerade hier an den Pforten des Ostens, das milde Licht wahrhaft österreichischer Kultur soll entzündet [...] werden!"(S. 86)

Im Roman spielt man mit den Worten Restauration und Restaurierung, beide aber sind zum Scheitern verurteilt, wie auch das Projekt Kulturwochen im Schloß Schwarzwasser als gewinnbringendes Unternehmen und "geistige Demonstration wahren Österreichertums". Die Feier, die die Verlobung und das Abkommen über die Restaurierung des Schlosses sanktionieren soll, wird zu einer grotesken Maskerade, in der Mehlmann seine unter einer Fassade von Leutseligkeit und Selbstsicherheit verborgene Frustration und Gewalt preisgibt. Wie die weise Jutta bemerkt, kann die Vergangenheit nicht mehr restauriert werden, auch weil zwischen dem Gestern und dem Heute die Erfahrung des Nazismus und des Kriegs steht. Das Schloß selbst war die letzte Zuflucht der SS, die vor dem Eintreffen der sowjetischen Truppen den ganzen umliegenden Hof in die Luft jagten. Nach einem heftigen Gewitter stürzt die Decke des großen Saals mit den barocken Fresken endgültig zusammen. Der Jude Lichtblau, der Raisonneur des Dramas kommentiert:

Was wird man nach der Restaurierung an die Decke klecksen? Lichtblau schauderte bei dem Gedanken an das zeitgemäße Neon-Biedermeier, an das Kino-Barock, das er als geläufigen Stil der Abendland-Restauratoren schon vielfach dokumentiert gefunden hatte.(S 227)

Die Restauration/Restaurierung des Schlosses ist also eine widersprüchliche, wenn nicht dubiöse Aktion, und der Tod Petriks setzt allem ein Ende. Die Tradition wird nicht weitergeführt, sondern erstarrt zur Kulturpose. Selbst die Figur des Barons, als Vertreter des alten Österreichs, erweist sich als eine Karikatur. Herr Baron Franz Joseph Suchy, der eigentlich ein Ex-Major der k.u.k. Armee ist und den Titel angeheiratet hat, versucht vergebens "neben der Zeit, außerhalb dieser Zeit"(S. 29) zu leben. Er durchschaut Mehlmann und dessen Absichten, versucht Zeit zu gewinnen. In Wirklichkeit ist er völlig ohnmächtig. Er setzt den Parolen der neuen Welt alte Werte, Sprüche und Formeln entgegen, die nichts mehr erwirken können ("es bleibt mir nichts erspart"; "nichts ist unmöglich"; "es kommt immer anders als man denkt"). Wie es im Roman heißt, ist "das Zeitalter des Benzins und der Verhetzung [...] unwiderruflich angebrochen" (S. 30); nicht zufällig ist Petrik, gleich nach seiner Ankunft, von den Bohrtürmen, die die Septemberlandschaft unterbrechen, irritiert. Suchy ist sich der Tatsache bewußt, daß er wie eine Figur aus einem Roman Joseph Roths handelt, da er unfähig ist, selbst ein Autor zu sein. Seit dreißig Jahren sammelt er Hunderte von Zetteln für einen großen Roman des "alten Österreichs", vom dem nur der Titel feststeht: Moos auf den Steinen.

Anstatt des vom Baron geplanten tragischen aber zelebrativen Epos entstand ein Werk über die Ambiguität der Habsburger-Nostalgie als Teil der österreichischen Identität in der Nachkriegszeit. So finden wir in Fritsch verschiedene Elemente des habsburgischen Mythos, die Gruft mit den Gräbern der Ahnen, die Figur der treuen Dienerin und des jüdischen Intellektuellen, so wie stete Hinweise auf die österreichische Literatur: auf Grillparzer und seine Ahnfrau, auf Joseph Roth, Robert Musil, Gryphius und das Barock. Alles wird jedoch mit den Ereignissen der nahen Vergangenheit und der Nachkriegsgesellschaft durchmischt. So ist der Jude Lichtblau, der Auschwitz überlebt hat, wohl im "josephinischen Geist", der einzige Freund des Barons, lebt aber mit ständigem Schuldgefühl in einer für ihn gespenstischen Leopoldstadt, wo der Antisemitismus noch präsent ist. So wie das Schloß ist auch das alte jüdische Viertel Wiens ein Friedhof, seit "die Enkel des großen Gryphius den Verehrer ihrer Ahnen [Lichtblau] vertrieben [hatten] und seine Brüder als Asche und Qualm eine teuflische Himmelfahrt antreten [hatten] lassen."(S. 266)

Moos auf den Steinen endet dennoch in einem Ton der Aussöhnung und Hoffnung. Anders der nächste Roman Fritschs, Fasching, der 1967 erschien. Hier bedeutet Restauration die Wiederholung eines gewaltsamen Rituals, das die faschistische Vergangenheit und Mentalität unter dem Deckmantel der Demokratie weiterleben läßt(4). Der Begriff von Tradition, vom "Bleibenden" wird problematisiert, indem die Kontinuität sich als Beharren einer rassistischen und sexistischen Mentalität erweist, die plötzlich zu brutalen Gewaltsausbrüchen führen kann. Die Erzählung bewegt sich auf zwei Ebenen: in einer Gegenwart, in der ein Heimkehrer nach jahrelanger Rußlandhaft ins Dorf zurückkehrt, wo er in den letzten Kriegsmonaten drei Monate lang als Deserteur versteckt war, und in der Vergangenheit, die in der Erinnerung des Protagonisten wieder auflebt. Die melancholische Note wird hier von einem sarkastischen Ton ersetzt. Die Rückkehr Felix Golubs geschieht in einem Klima wachsender Feindlichkeit, die ihn schließlich zum Opfer eines sadistischen Karnevals werden läßt. Er verkörpert mit seiner bloßen Gegenwart das schlechte Gewissen einer Gemeinde, in der die alten Ortsgruppenleiter, Hitlerjugend- und BDM-FührerInnen wiederum führende Stellungen einnehmen. Auch hier finden wir die Figur einer angeheirateten Baronin, die eine typische österreichische Mischung aus konservativem Katholizismus und nazifaschistischer Ideologie verkörpert, so wie Kriegsveteranen, die unter dem Doppeladler vorbeiziehen und unter "Franz Joseph Karl Hitler"(S. 96) gedient haben.

In einer unerträglichen Atmosphäre von Scheinheiligkeit und Bigotterie, unter der sich Korruption und Gewalt verbirgt, enthüllt sich alles als Maskerade, tragikomische Inszenierung. Wie auf den Photos im Studio des alten Dorfphotographen sind alle Bewohner monströse Karikaturen. Zentral ist das Motiv der Verkleidung und Verwandlung, die für den Autor die österreichische Gesellschaft kennzeichnen. Im satyrischen Fragment Katzenmusik(5) vergleicht Fritsch Österreich mit einem Punschkrapfen: Eine rosa Glasur mit einer braunschwarzen Füllung, die auf einem Stück Tortenpapier klebt, wie die Spitzen, "die sich aus Sargfügen spreizen und um die Altäre getan"(S. 15) sind. (Das Fragment setzt sich mit einem anderen Lieblingsmilieu der österreichischen Literatur auseinander, mit der Beschreibung nobler Bade- und Kurorte.)

Der Außenseiter Felix, der vergeblich versucht sich anzupassen, wird von den braven Bürgern, wie schon einst, gejagt. Während eines sich zum Alptraum entwickelnden Faschingsfests wird er in eine Falle gelockt. Als Frau verkleidet wird er unter Gelächter gedemütigt, geschlagen und schließlich gezwungen sich in der Grube zu verstecken, wo er schon als Deserteur Zuflucht gefunden hat und wo der Leser ihn am Anfang des Romans findet. Die Perversion der Dorfbewohner zeigt sich in der Episode des Besuchs im Heimatmuseum. Neben dem Rathaus, wo noch die Stelle erkennbar ist, wo sich die Büste Hitlers befunden hat, steht das noch nicht fertiggestellte Heimatmuseum. In einem Durcheinander von historischen Wertobjekten und habsburgischem Kitsch befinden sich auch antike Folterinstrumente, die sozusagen als Scherz an Felix ausprobiert werden. In Wirklichkeit wird dieser psychologisch und auch physisch gefoltert, um eine Erklärung zu unterschreiben, die einige Ex-Nazis von jeder möglichen Anschuldigung bezüglich ihres Verhaltens im Krieg freisprechen soll.

In seiner unbarmherzigen Beschreibung der österreichischen Provinz wurde Fritsch vom Skandal-Roman Die Wolfshaut von Hans Lebert(6) beeinflußt, der 1960 die Reihe der Anti-Heimat-Romane der österreichischen Literatur eröffnete(7). Lebert behandelt hier auf direkte Weise die Problematik der Geschichtsverdrängung(8). Zusammen mit dem Bild eines "unschuldigen" Österreich wird systematisch eine der Komponenten der österreichischen Identität angegriffen: die Unbescholtenheit seiner Landschaft. Nicht nur, daß sich hinter der anmutigen Postkartenlandschaft, nach der Formel "Die Sonne lacht und die Berge grüßen" oder umgekehrt (S. 322), horrende Delikte verbergen, die Landschaft selbst wird unheimlich. Der Heimatroman wird zum Kriminalroman in einem symbolischen Umkehrverfahren aller Gemeinplätze und Wunschvorstellungen. Zugleich wird die auktoriale Erzählweise des Heimatromans durch eine multiperspektivische Erzähltechnik ersetzt.

In einem abwechselnd regnerischen, kalten, windigen, nebligen, verschneiten, immer unwirtlichen Winter geschehen einige schreckliche Mordfälle in einem entlegenen Dorf namens "Schweigen". Die österreichische Landschaft ist nicht mehr der locus amoenus Stifters und Österreich, nicht mehr ein "gottgesegnetes Land". Schweigen und das Nachbardorf Kahldorf befinden sich in einer "gottverlassenen Gegend", wo sich das Böse überall ausbreitet und sich in der Figur des Werwolfs verkörpert. Die Waldkapelle ist leer und verlassen, "der liebe Gott ist fortgezogen, emigriert, ausgewandert"(S. 110). Es herrscht ein "falscher Gottvater"(S. 138), das widerliche Dorfoberhaupt Habergeier mit seinem weißen Bart, der im Nebel steht wie unter einer Tarnkappe, alles vertuscht und in Wirklichkeit ein Mörder ist. Man hat sich aber "daran gewöhnt, wenigstens so zu tun, als sei Gott zugegen."(S. 309)

Die ganze Landschaft um Schweigen ist von Tod und Fäulnis durchdrungen und der Leser erliegt, wie Fritsch in einer Rezension über Die Wolfshaut schrieb, "einer fast unerträglichen Stimmung aus Regen, Lehm, Jauche und Tod"(9). Und tatsächlich atmet man anstelle frischer Bergluft einen Latrinen- und Aasgeruch ein. Im Wald riecht es nach verfaultem Laub, die lieblichen Hänge werden zu Muren, die Wiese besteht aus gelblichem Steppengras, die von einem Blitz gespaltene Eiche ist total verkrüppelt und zur Hälfte abgestorben, "ein schwarzes Gerippe"(S. 45), die skelettartigen Bäume nehmen drohende Formen an, der Waldweg ist "ein fahler Streifen"(S. 26), entlang dessen horrende Delikte geschehen. In Wirklichkeit haben die Kriminalfälle und die Blutspur um das Dorf ihren konkreten Ursprung im Verbrechen, das die Bewohner im letzen Monat des Krieges begangen haben: das Massaker einer Gruppe von sechs Zwangsarbeitern in der Ziegelei des Dorfes, deren Ruine wie "ein rotes Schandmal inmitten der Landschaft" steht.

Lebert wechselt sehr geschickt die zwei Ebenen der Erzählung ab: die auf Fakten basierende, die sich nach den Regeln eines Kriminalromans entwickelt, und die symbolische, wonach die Delikte eine Erscheinung des Bösen sind. Er verwendet die Technik des Leitmotivs, um die verschiedenen Figuren der Dorfgemeinschaft zu charakterisieren. Anderseits werden die Dorfbewohner als eine "Herde" von Rindern, Ochsen, Kühen oder Schafen und zugleich als eine Meute von Verbrechern, Dieben, Mördern abgestempelt, "als harmloses Almvieh getarnt" (S. 136). Die gefährlichsten unter ihnen tragen eine Maske, "durch deren Augenschlitze" (S. 36) das Böse, das Unmenschliche durchschimmert, wie der Photograph Maletta in seiner Photosammlung entdeckt (eine Figur und ein Motiv das Fritsch übernimmt). Maletta und der enttäuschte Heimkehrer, Johann Unfreund, genannt der Matrose, sind die zwei Außenseiter des Dorfes und die Träger der zwei Handlungslinien. Sie stehen in einer Art Dr.Jekill-und-Mr.Hyde-Beziehung zueinander: der eine vertritt die positive und rationelle Seite, versucht die vergangenen und neuen Delikte aufzuklären, der andere verkörpert die obskure, perverse Seite des Menschen, läßt sich vom Bösen mitreißen und wird zum Lykanthropus.

Der Roman enthält eine Reihe von emblematischen Situationen und Symbolen, und wurde zur Fundgrube für spätere SchriftstellerInnen, die sich kritisch mit der österreichischen Identität auseinandersetzten. In Wirklichkeit kommt in Leberts Werk das Wort Österreich nie vor, aber alles deutet auf die Geschichte Österreichs und insbesondere auf eine kulturelle und literarische Tradition hin, die sich auf das Völkische bezieht. Nach der Erfahrung des Nazismus und des Krieges ist es laut Lebert unmöglich völkisch und unbelastet zu sein. Während eines Festes im Gasthaus wird "volkstümlich" getanzt (treu den Statuten des Trachtenvereins), doch bald wechselt man auf Jazzrhythmen, dann auf Polka und Walzer über und schließlich entsteht eine Mischung aus Jodel- und Soldatenliedern:

Nichtsdestoweniger lauerte etwas in ihnen. Unter dem dick aufgetragenen Frohsinn, unter dem Lachen, das ihre Gesichter verzerrte, schwelgte [...] etwas wie ein unterirdisches Feuer, etwas, das jeden Augenblick ausbrechen konnte. Besonders die Älteren [...] die, die den Krieg noch mitgemacht und Menschen getötet (oder gequält) hatten, schauten auf einmal wie unter Stahlhelmen, zeigten gespannte, verkrampfte Gesichter, als kauerten sie noch immer im Graben, bereit, einen Angriff abzuwehren oder selbst (auf ein Zeichen hin) anzugreifen [...] vorzustoßen dorthin, wo jeder des anderen Feind werden mußte. (37f.)

Hinter lachenden Gesichtern verbergen sich also Menschen, die im Krieg getötet und gefoltert haben und es weiter unter dem Deckmantel der Legalität tun. Der Faschismus ist noch präsent in der Schule, in der Gendarmerie, im Häuschen mit dem lieblichen Garten am Rande des Waldes. Jeder trägt eine Maske, die er den verschiedenen Anlässen und politischen Wandlungen gemäß aufsetzt. Das gilt für den chamäleonartigen Jäger Habergeier, der als ehemaliger Gauleiter die Gruppe der Ortsverbrecher 1945 geführt hat und auch jetzt noch tötet. Er paßt sogar sein Aussehen den Zeiten an, indem er seinen Schnurrbart à la Hitler durch einen weißen Patriarchenbart, der sein Gesicht verbirgt, ersetzt, den er schließlich auch wegrasiert, um als moderner Landtagsabgeordneter aufzutreten, der von "Abendland, Freiheit, Demokratie" spricht und seine besten Freunde töten läßt. Sein Motto ist: "Wir bleiben wir! [...] Wir bleiben die alten! [...] Aber [...] man muß den Anschluß finden, man muß mit der Zeit gehen! [...] Die Zeit geht weiter ! Man muß vergessen können" (S. 30).

Dasselbe gilt für die sadistische Lehrerin Jakobi, die so wie Habergeier als Nazianhängerin verurteilt worden is und nach einem Jahr ihre Stelle zurückbekommen hat. Sie singt "Lieder von Edelweiß, Heidenrosen und andere Blüten" (S. 273), wechselt aber bald von Wander- zu Marschliedern und verursacht durch ihre Moral der Ertüchtigung (Kraft durch Freude; Freude durch Kraft! 280) und brutale Erziehungsmethoden den Tod eines Schülers. Ähnlich benimmt sich der opportunistische Gendarm Habicht, "der zweimal seine Uniform gewechselt und stets den Mantel nach dem Wind gedreht hat"(305), als "verlorener Sohn" eine "Leidenschaft für lange Bärte" hat, siehe den größeren "Vogel" Habergeier, und die Autoren grauenvoller Delikte deckt. Ihr wahres Gesicht kommt aber doch plötzlich zum Vorschein, z. B. am Stammtisch im Gasthaus, wo man unter Saufen und groben Witzen gelegentlich die Hand zum Hitlergruß hochreckt und die Hacken zusammenschlägt. Besonders aufschlußreich ist die Szene der Treibjagd. Alle Dorfbewohner, bis auf einzelne, die auf eine "schwarze Liste" kommen, nehmen an einer Suchaktion im Wald gegen einen ausgebrochenen Häftling teil. Die "Viehmenschen" des Dorfes erleben die Razzia als ein grausames Fest gegen den Andersartigen, das gehetzte "Zebra", das zum Schluß Sündenbock für die mysteriösen Morde wird. Auch die Suche nach Sündenböcken, der Haß gegen die Außenseiter, gegen den gefolterten Sträfling, den wildernden Hund, den Matrosen, zeigt das Fortleben der faschistischen und rassistischen Mentalität.

Vor den Augen des Matrosen und der Leser spielt sich ein groteskes Bauerntheater ab. Die typische österreichisch-barocke Metapher des theatrum mundi findet im Roman Leberts eine realistische Umsetzung in ein tragisches Versteckspiel von Lügen, Schein und Inszenierungen. Die Welt, auch die "gesunde Bauernwelt" besteht aus Attrappen, und der Versuch in einem Heimatfilm zu spielen, wie für die pathetische Schauspieleraspirantin Herta Binder, endet in einen "Hexensabbath zwischen frostkrachenden Wäldern, Wirtshaus, Jauchengruben und Weiberschenkeln"(10). Nicht nur die Menschen, die Natur ist verseucht, die Luft verpestet. Zwischen untilgbaren Zeichen einer schrecklichen Vergangenheit (die schwarze Runenschrift der Vogelfüße, S. 305) und den neuen Zeiten des Fremdenverkehrs und der Umweltzerstörung (die Bäume, die die frisch gemalenen Häuser und die Neonröhre verdecken, "sind nicht mehr zeitgemäß, müssen weg!" S.542) kann das alte Heimatbild nicht mehr erhalten bleiben.

Denn obgleich das Bauerntheater noch spielte, obgleich die Waldkulissen noch standen und auch noch reichlich Regen fiel - es war das Jahrhundert der Baumfäller, das Jahrhundert des sinkenden Grundwasserspiegels; das Leben war auf dem Rückzug; die Wüste rückte vor (S. 66).

In dieser "sogenannten Heimat"(S. 561), in der alles unheimlich wirkt, die Menschen zu Tieren werden und die Natur zugleich anthropomorphisiert und dämonisiert wird, in der Kälte und Unmenschlichkeit eines narkotisierenden Waldes, inmitten einer Natur, die zur Komplizin des Verbrechens wird ("der Schnee, der von selber fällt, deckt die Blutspuren zu, und bald darauf wird es schon wieder gemütlich", S. 235), wandern die Geister der Vergangenheit und die Toten schreien nach Gerechtigkeit. Es ist für Lebert schwierig das Gleichgewicht zu halten, zwischen einem gewissen Wohlgefallen an Formeln der auf Blut- und Bodendichtung reduzierten Heimatliteratur einerseits und andererseits der Verwendung derselben Mechanismen, in der Absicht die "Diktatur der Gartenzwerge" (S. 563) zu entlarven. In seinem nächsten Roman Der Feuerkreis(11) wird Lebert, der ein Neffe Alban Bergs und ein Wagner-Opernsänger war, Opfer seines Hanges zum Mythischen. Die historische Dimension wird von einer mythischen ersetzt, und der Ursprung des Bösen wird ins Metaphysische gerückt, indem das spezifisch Österreichische an Bedeutung verliert.

Die Wirksamkeit des Romans Die Wolfshaut besteht hingegen in dem grausamen Spiel mit einem literarisch beladenen österreichischen Heimatbegriff. Zum Schluß verläßt der Ex-Matrose Johann Unfreund sein für ihn unerträglich gewordenes Heimatdorf, da er nicht mehr weiter vergebens mit dem Kopf gegen eine "Gummimauer" von Verschwiegenheit und Vertuschung rennen will (S. 563). Er stellt fest: "Wir leben im Land der Anstreichermeister. Hier wird doch dauernd übertüncht und frisch gestrichen" (S. 508) und ersetzt die Liebe zur Heimat mit der Liebe zur Erde, zum Lehm, mit dem er seine Töpfe macht, und nicht zu einer Erde, die wie allzuoft im Roman "zu Scheiße" wird, zu einem "Humus des Vergessens", worunter ein stinkendes Aas vergraben ist. Wie Maletta bemerkt soll die scheinbare Ruhe nicht täuschen: "Unser Land ist augenblicklich eine stille Kammer. Trotzdem nimmt die Sache ihren Fortgang" (S. 383). Die Menschen haben nichts gelernt, der Warn- und Geständnisbrief vom Vater des Matrosen, der sich wegen der Schuldgefühle erhängt hat, endet im Feuer. Bevor der Photograf endgültig den Weg der Selbstauflösung wählt, gesteht er: "Ich habe mich damit abgefunden, daß ich unter Mördern leben muß." (S.515)(12)

Unter Mördern und Irren(13) heißt nicht zufällig eine Erzählung Ingeborg Bachmanns aus dem Jahr 1961 (1956/57 entstanden), in der das Weiterleben eines Alltagsfaschismus dramatisch und "österreichisch" zum Vorschein kommt(14). Die Affinität zu den Werken Fritschs und Leberts begrenzt sich nicht nur auf den Titel und auf die Verwendung eines kollektiven Wir-Erzählers, der an den Ereignissen teilnimmt und sie zugleich distanziert und ironisch beobachtet. Auch hier finden wir im Zentrum des Geschehens den Stammtisch, der vom Landgasthaus in ein Modecafé der Hauptstadt verlagert wird. Der Stammtisch bleibt weiterhin der bevorzugte Sammelplatz für Rassismus und Sexismus, für Gemeinheiten und Intoleranz gegen die Andersartigen, die Schwachen, die Ausländer. Das Wiener Café ist hier nicht mehr der Ort, wo sich weltoffene Intellektuelle treffen, sondern wo die neuen bürgerlichen Intellektuellen der Wohlstandsgesellschaft ihre schlechtesten Seiten zeigen. Bachmann beschreibt eine Reihenfolge von Menschentypen, die auf den ersten Blick aus einem Werk Schnitzlers stammen könnten. Es erscheinen: ein Journalist, ein Universitätsprofessor, ein Arzt, ein Herausgeber und Produzent, ein Schriftsteller, der zugleich, den Zeiten entsprechend, ein Radiokulturpapst ist. Sie alle besitzen dieselben höflichen und gepflegten Manieren der Helden Schnitzlers und sprechen eine ähnliche "leichte, flüchtige, witzige Sprache" (S. 166), indem sie ihre Zigarette rauchen. Aber diese Sprache paßt nicht zu ihrem Aussehen, ihr Rauchen ist nicht elegant sondern das eines nervösen Kettenrauchers und die Zigarette steckt in "riesigen, unschönen, geröteten Händen" (S. 180). Auch ihre Sprache ist schließlich beunruhigend, "deutete, über die Sache hinweg, verzweifelt ins Ungefähre"(S. 166). Wie in einem Theaterstück Schnitzlers spielt jeder seine Rolle, es wird dennoch immer schwieriger, es lässig zu tun, da man eine nazistische Vergangenheit hat, wie der Journalist Bertoni oder der nach einer anfänglichen Entfernung reintegrierte Universitätsprofessor Ranitzky.

Es handelt sich, wie es in den Einführungszeilen steht, um eine Männerwelt, in der zwischen "Rauch und Wahn", Wein und Witze der herrschende Opportunismus, die Misere, die Heuchelei in der Gesellschaft durchscheinen. Um ihre eigenen Interessen zu verteidigen, sitzen Ex-Nazis und Juden am gleichen Tisch, indem sie bewußt und geschickt über die Vergangenheit schweigen. So wurden in der neuen Fassung der "Geschichte Österreichs" von Professor Ranitzky "alle Seiten umgeschrieben, die die neuere Geschichte betrafen."(S. 166) Aber die Vergangenheit kann nicht so einfach beseitigt werden und inmitten von Rauch- und Alkoholdünsten tauchen plötzlich Erinnerungen auf. So genügen die Lieder aus einem Kameradschaftstreffen, die aus dem Nebensaal ertönen, um eine Auseinandersetzung mit tragischen Folgen zu verursachen.

Wie bei Fritsch und Lebert kehrt das Motiv des wahren Gesichts hinter der Maske, der Tarnkappe zurück. Es ist noch immer die "doppelte Moral" der Literatur der Jahrhundertwende. Sie beschränkt sich jedoch nicht mehr in erster Linie auf das sexuelle Gebiet, bezieht sich viel direkter auf die politische Haltung: das demokratische und soziale Ich birgt unterdrückte Haß- und Vergeltungsgefühle, nicht offen eingestandene Nostalgien und Enttäuschungen. In der Diskussion der Tischgäste versucht man zu unterscheiden zwischen den wahren Kriminellen und den Mitläufern, zwischen den aktiven Nazis und denen, die aus verschiedenen Gründen nur mitgemacht haben. Auf das Verhalten einzelner Menschen wird so die Frage über die Schuldlosigkeit Österreichs übertragen: war das Land wirklich nur ein Opfer oder hatte es aktiv Mitschuld an den Greueltaten? Zwiespältig ist auch die Lage der drei "übriggebliebenen" Juden, die durch gegenseitige Gefälligkeiten mit den "arischen Kollegen" vernetzt sind. Einer von ihnen befragt sich über die Art und Weise, wie man nunmehr über die KZ-Opfer redet:

"So viele Opfer [...] damit man heute endlich draufkommt, schon den Kindern zu sagen, daß sie Menschen sind? [...] Wer weiß denn hier nicht, daß man nicht töten soll?! Das ist doch schon zweitausend Jahre bekannt. Ist darüber noch ein Wort zu verlieren? Oh, aber in Haderers letzter Rede, da wird noch viel darüber geredet, da wird das geradezu erst entdeckt, da knäuelt er in seinem Mund Humanität, bietet Zitate aus den Klassikern auf, bietet die Kirchenväter auf und die neuesten metaphysischen Platitüden. Das ist doch irrsinnig. [...] Das ist ganz und gar schwachsinnig oder gemein" (S.177/78)

Die humanistische und katholisch-barocke Tradition, auf die sich Österreich beruft, wird somit hinterfragt. Der Kulturpapst Haderer hält seinen jüdischen Tischgenossen ihre mangelhaften Griechisch- und Lateinkenntnisse vor, aber gerade Leute wie er haben verhindert, daß die Vertriebenen und Verfolgten studieren konnten. Durch seine Kompromittierung durch den Nazismus hat er die Regeln der humanistischen Kultur, die er jetzt zu vertreten behauptet, betrogen.

In einer Welt der Kompromisse und des opportunen Vergessens lebt auch Mladen Raikow, der Protagonist des 1969 erschienenen Romans Die weiße Stadt von Milo Dor(15). Milo Dor (Pseudonym für Milutin Doroslovac), der 1923 in Budapest geboren wurde, in Belgrad aufwuchs, als Zwangsarbeiter nach Wien kam um dort zu bleiben, ist der typische Vertreter eines mitteleuropäischen Grenzgängertums, der überall und nirgends zuhause ist, ein Kosmopolit wie J oseph Roth oder Stefan Zweig und ein Sprachtalent wie Elias Canetti. Das gilt auch für den Protagonisten seiner Romantrilogie, Mladen Raikow, der im Wien der Nachkriegszeit seinen Weg zu finden sucht. In einer Welt wo jeder eine Rolle spielt, in einem "erweiterten" polyzentrischen Österreich/Europa, das sich von Hamburg bis Belgrad erstreckt, bewegt er sich als würdiger Nachkomme des habsburgischen Untertans zwischen Cafés, Theatern, Restaurants, aber auch historisch beladenen, monumentenreichen Kirch- und Hauptplätzen. Der ironische, menschenfreundliche Ton, in dem die Geschichte Mladens von ihm selbst und von anderen erzählt wird, soll aber nicht täuschen. Überall tauchen plötzlich und unerwartet Spuren der nazifaschistischen Vergangenheit auf, die untilgbar sind, wie die Folternarben am Körper Mladens. Nicht nur weil man immer wieder auf Ex-Nazis stößt, wie im Falle des schmierigen Polizisten oder des Chefredakteurs oder weil man in den Lokalen noch SS-Lieder hören kann, sondern auch wegen der obsessiven Erinnerungen des Protagonisten(16).

Mladen Raikow ist unfähig in der Gegenwart zu leben, scheitert als Schriftsteller und Antiquitätenhändler, weil jede Person, jeder Ort, jedes Objekt ihn (und mit ihm den Leser) in die Vergangenheit zurückversetzt. Bei Lebert oder Fritsch versuchen fast alle Figuren zu vergessen, sogar die Vergangenheit zu verneinen. Bei Dor geschieht das Gegenteil: die Erinnerung wirkt paralysierend. Mladen Raikow bleibt so ein Möglichkeitsmensch, wie die verschiedenen vom Autor zur Wahl gestellten möglichen Ausgänge seiner Geschichte andeuten. Der Roman selbst weist keine Entwicklung auf, wie das Buch "Die weiße Stadt" (die weiße Stadt ist Belgrad, aber auch die Utopie einer besseren Welt), das Mladen nie zu Ende bringt. Der Autor zeigt selbstironisch die Immobilität und den Konservatismus einer Kultur, der er selbst angehört. Typisch für die Wiener ist gemäß dem Ministerialrat Mrkwitschka ihr Anpassungswille und Domestikengeist, der aus der Zeit stammt, in der aus allen Teilen der Monarchie Leute nach Wien kamen, um den Kaiser und dem Adel zu dienen:

Wir scharwenzeln um unsere Herrschaften herum und tun ihnen schön ins Gesicht, hinter ihrem Rücken schimpfen wir aber ein bißchen über sie, um über unsere Anpassung hinwegzutäuschen. Das Raunzen des Wieners, so bissig es sein mag, ist nur ein Deckmantel für seine Untertänigkeit. (S. 240/41)

Die Liebenswürdigkeit verbirgt in Wahrheit Desinteresse. Wer die doppelte Moral aufgezeigt hat, ist nicht besonders beliebt, so wie Freud oder Karl Kraus, und die Schlußfolgerung ist:

Dabei waren wir keine Nazis aus Überzeugung, sondern aus Anpassung. Daß wir in unserem Eifer, den neuen Herren genehm zu sein, übertrieben und oft mehr Unheil angerichtet haben als sie, spielt keine Rolle. Unser Gewissen ist rein, wir haben nur unsere Domestikenpflicht getan. [...] Unsere Entschuldigung für unser Kriechertum ist die Überzeugung, daß wir alles nicht wirklich, sondern nur zum Schein tun. Alles nicht wahr, alles nicht wahr. (S. 242)

Es kehrt also die Metapher des Theaters zurück, des Scheins, die sich hier als ein willkommenes Alibi enthüllt, um die eigene Mitschuldigkeit zu mindern. In Wirklichkeit, und in der Wirklichkeit sind, wie es ein paar Zeilen weiter heißt, "von den dreihunderttausend Juden, die vor dem Krieg in Wien gelebt haben, [...] kaum zehntausend noch da." (S. 242). Mladen Raikow selbst bleibt immer ein Fremder, ein "Toter auf Urlaub", wie der Titel des ersten Romans Dors lautet, ein Zeuge der Geschichte, der die anderen in ihrer Gemütlichkeit stört:

Du warst von jeher und bist noch immer ein Fremder, ein Feind jeder etablierten Ordnung, ein Freund der Toten, unter denen du lebst [...] warum verpestetest du die Luft, warum störst du mit deiner krächzenden Stimme die wunderbare Ruhe jener Menschen, die vergessen können, die ohne Gedächtnis und ohne Vergangenheit leben, die nur dem Jetzt und dem Heute verschworen und mit ihrem Dasein zufrieden sind? Warum schreckst du sie mit deinen bösen Träumen auf?(S. 275)

Jemand der sich nicht scheut, die eigenen Landsleute zu erschrecken, ist Elfriede Jelinek. Ihre Auseinandersetzung mit Österreich und seiner kulturellen Tradition fand einen besonders aggressiven und ikonoklastischen Ausdruck im Roman Die Kinder der Toten(17) aus dem Jahr 1995. Die Autorin bezieht sich direkt auf Die Wolfshaut, indem sie als ein Leitmotiv ihres Werkes das vom "Hunger der Toten" (S. 517) verwendet, so wie das des Rollenaustauschs zwischen Lebendigen und Toten. Aber sie geht einen Schritt weiter: aus dem Heimatroman als Kriminalroman wird ein Gruselroman. Lebert begnügte sich, die Gegenwart des Bösen in der Bergwelt anzudeuten, Jelinek schont niemand und nichts in der zerstörerischen Wut ihrer Bilder und ihrer Sprache. Der Mechanismus, der die 660 Seiten des Romans charakterisiert, ähnelt dem der "enttäuschten Erwartung" von Heinrich Heine. Jeder Abschnitt und Satz fängt konventionell an, endet aber mit einem physischen und moralischen Greuel(18). Schon im Prolog ist Österreich gleich als Handlungsort erkennbar. Die Schönheit der Landschaft und der Kult der toten Berühmtheiten als Teil der österreichischen Identität werden herbeizitiert, gleichzeitig aber verzerrt. Die Natur "verwendet" die Menschen und "wirft sie weg" (S. 7), die Namen der großen Musiker und Herrscher werden entstellt (Karl Schubert, Franz Mozart, Otto Hayden, Fritz Eugen Letzter Hauch, Zita Zitter, Maria Theresiana, S.7). Der Fremdenverkehr wird zum Objekt eines politikbeladenen Sprachspiels, in dem Österreich als Ort "des Handels und des Verwandelns" (S. 7) erscheint. Es ist nur der Anfang einer Vielzahl von ergötzenden und zugleich entlarvenden Sprachspielen, Neologismen, in einer Mischung aus literarischer Sprache, Alltagssprache, Jargon (fast im Sinne des Horváthschen Bildungsjargons), aus Schlagworten, übernommen aus Medien und Werbung.

In der Bilder- und Gegenbilderflut des Romans werden Schein und Wirklichkeit unmittelbar vernetzt. So entpuppt sich der angeblich touristische Ort im Zentrum des Romans als Randgebiet; die Berge sind hoch, aber nicht die höchsten; der Fluß ist klar, aber oft treiben darauf erstickte Forellen; der Gasthof ist malerisch aber nur über eine Art Hühnersteig erreichbar. Es fehlt nicht das Schlößchen irgendeines Erzherzogs der Habsburger, der das Gebiet ruiniert hat, um Erz für seine Kanonen zu gewinnen und so fort: die Jäger erschießen sich gegenseitig, der Ausflugsbus stürzt in eine Schlucht, der Zug entgleist, die Skifahrer brechen sich das Genick, die Mountainbiker die Beine, Vögel und Kriechtiere werden von den Autos gemetzelt, das Obst fällt wegen einer Insekteninvasion faul von den Bäumen herunter, bei den Kälbern gibt es Mißgeburten, der Regional-Sender ist permanent gestört, schließlich kommt eine Wasserflut, eine riesige Mure, die das Hotel und die Touristen mitreißt.

Das ganze bäuerliche Milieu enthüllt sich als Attrappe, die Landschaft ist "zum Fernsehen geworden", sie ist nicht sie selbst, sondern das Bild der Hobbyphotographen, wird mit dem Reiseführer verglichen und muß "Rechenschaft ablegen" (S. 82). Anstelle von Heimatliebe finden wir Menschen, die "ihre Heimat verkaufen" (S. 148), und Touristen, die ebenfalls nicht hinter die Lügenfassade schauen wollen, die auf dem Gras skilaufen, aus dem die Köpfe der Toten auftauchen. Der Schein wird von Jelinek als Lüge stigmatisiert, nicht als "schöner Schein". Zum Thema des Todes gesellt sich das der Erstarrung. Neben der Natur als Organismus, der die Menschen verschluckt und wieder ausspuckt, bietet der Roman ein makabres Stilleben aus einbalsamierten Tieren und Fossilien. Auch die Pension Alpenrose, wie das Schloß Fritschs und das Dorf Leberts Teil der österreichischen Identität, steht auf einem Friedhof (bei den Bergungsarbeiten am Ende des Romans findet man Reste von alten und neuen Toten), ja ist selbst ein Friedhof. Das ganze Land, die Heimat ist in seiner Bilderbuchwelt und Verlogenheit erstarrt:

Dies Land ist eine falsche Mutter, eine Frau, deren Haut schon lang kalt geworden ist und deren Blut unbeweglich, gestockt ist (sogar heute ist dies Land noch so verstockt, seine Fehler nicht zugeben zu wollen!). Dieses nette, häuselige, baumpuschelige Land mit den runden Pompons auf vielen seiner Kirchen, es hat sich, ein spielfreudiges Tier, auf den Rücken gewälzt, nur damit es den Stahl in sich fahren fühlen kann, das Rohe und den Schrecken. (S. 228)

Unzählig sind im Roman die Bezüge auf Österreich: vom Barock bis zum Austropop, von berühmten Kriminalfällen zu Fernsehstars, von Zitaten aus Literatur und Geschichte zu aktuellen Schicksalen von Ski- und Rennweltmeistern . Allgegenwärtig ist der Tod. Es handelt sich aber keineswegs um einen "schönen", romantischen Tod, um ein melancholisches Hinscheiden wie in der österreichischen dekadenten Tradition, sondern um einen gewaltsamen, blutigen, grauenhaften Tod. Die Autorin präsentiert dem Leser sarkastisch eine ganze Sammlung von Unfällen, Lust- und Selbstmorden, von zerfleischten Kadavern mit schauerlichen Details. Nekrophilie, Vampirismus, Kannibalismus im Sinne einer österreichischen Tradition von Galgenhumor, der bis zum Ekelerregenden getrieben wird. Das ganze scheint ein erfundenes Grand-Guignol zu sein; die beschriebenen Mord- und Todesfälle haben sich jedoch im scheinbar so friedlichen Österreich tatsächlich ereignet, wie im Falle der Mannequinschülerin, die in den 50ern vergewaltigt und ermordet wurde, oder im Falle der Krankenschwester, die Menschen im Altersheim tötete.

Eine wiederholte Metapher ist, wie erwähnt, die der Menschen als Speise. Auf einem Werbeplakat der beschriebenen Region steht: "Unser Geschmack heißt Österreich" (S. 49) und das wird symbolisch und buchstäblich in Bilder umgesetzt. So entsteht eine Orgie, ein Bacchanal aus Trinken, Essen, Blut und Fleisch. Nicht nur die Toten haben Hunger, auch die Lebenden verschlingen im realen und metaphorischen Sinn Speisen, Landschaft, Kulturobjekte (Wien wird z.B. "heißgemacht für Touristen", S. 243) und umgekehrt verschlingen auch Natur und Dinge Menschen. (siehe das Fernsehen, das "pro Sekunde ein paar hundert Personen verschlingen kann", S. 606).

Die auf die Erdoberfläche zurückgekehrten Toten, die den Roman bevölkern, benehmen sich jedoch, wenigstens am Anfang, sehr diskret. Ihre Vorboten, der sportlich aussehende, tödlich verunglückte Skifahrer und die ruhige Studentin, die Selbstmord begangen hat, fallen nicht besonders auf unter den Gästen der Pension Alpenrose; sie spüren jedoch die Gegenwart anderer Toter und beschwören diese herauf. So sind die drei Wanderer, Parzen, die aus den Bergen heruntersteigen, drei tote Juden, deren Geschäfte enteignet und deren Häuser ausgeplündert wurden. Die in der Heimatlandschaft auftauchenden Zombies sind keine beliebigen Toten. Sie kehren zurück, um "Sichtbarkeit" gegen den täglichen "österreichischen Nachrichtenfluß des Vergessens" (S. 486) zu erlangen. Jelinek verwandelt den Heimatroman in eine Gruselerzählung, um vergangene und aktuelle Greueltaten gegen Menschen und Natur, die sich hinter einer Fassade von Reinlichkeit, Ordnung, Gastfreundschaft verstecken, aufzuzeigen. Der liebliche österreichische Touristenort scheitert schließlich als solcher, weil hier Hunderte von Menschen, unter den Augen einer aktiv teilnehmenden oder gleichgültigen Bevölkerung verfolgt und getötet worden sind. Die braven Bürger glauben die eigenen Schuldgefühle losgeworden zu sein, in Wirklichkeit "implodieren" sie in ihre "Schuld hinein." (S. 456)

Auf einmal ist die Vergangenheit wieder da. Wieso jetzt? fragt sich die Autorin. Es ist kein Zufall, und der Roman ist voll von Hinweisen auf die österreichische und internationale politische Aktualität, auf die neuen Führergestalten, auf neue Kriege (zur Zeit der Entstehung des Romans gab es Krieg im früheren Jugoslawien), auf die Fremdenfeindlichkeit, die in Österreich zu Sprengstoffanschlägen und Briefbomben gegen Asylanten führte. Es gab schon immer einen obskuren Kern, der heute wieder an die Oberfläche kommen könnte. Der Wohlstand, der Konsum haben ihn kaschiert, aber die Fäulnis ist geblieben, man riecht sie, wie bei Lebert, in der Luft, in den Wäldern(19), entlang der Straßen und Eisenbahnlinien, die die Menschentransporte gesehen haben, in den arisierten Häusern. Eine der eindrucksvollsten Szenen des Romans ist die endlose Prozession von altmodisch gekleideten Figuren mit Pappkoffern, die im Gasthof eintreffen. Es sind jüdische Männer, Frauen, Kinder auf der Flucht, die selbst einst Gäste der Pension waren und sich jetzt in die Halle drängen, gegen die Türen des Speisezimmers prallen, wo man unter den Klängen der Volksmusik feiert.

Die Verdrängung bezieht sich nicht nur auf die Vergangenheit. Man hat ein fiktives Paradies auf Kosten anderer geschaffen:"Das Paradies wird für verwirklicht erklärt, während woanders nur davon geträumt wurde, in Ländern, die zum Schweigen gebracht worden sind" (S. 22). Österreich als vermeintliche "Insel der Seligen" (S. 555)(20) gestaltet sich wiederum als riesige Theaterkulisse. Eine Naturbühne, auf der Laien und Geister auftreten. Es ist ein Theater ständig im Stress herumtreibender Urlauber, schließlich ein primitives und tragisch endendes Theater. Im Fernsehen dagegen präsentiert man die Tragödie als Show, um eine hohe Einschaltquote zu erreichen.

Auch die Religion wird auf reine Äußerlichkeiten reduziert. Die leere und verlassene Waldkappelle Leberts wird restauriert. Sie soll als Tourismusattraktion Massen von Pilgern auf die Berge locken. Hier greift Jelinek die Scheinheiligkeit eines erzkatholischen Landes wie Österreich an - die heilige Allianz zwischen "Jesus und Habsburg" (S. 372), der Doppeladler im Tabernakel - das sich als korrupt und fremdenfeindlich erweist: "Diejenigen, welche hier zu Gott und Seiner Mutter singen und sich beherzigen und bekreuzigen, die gehen bald wieder nach Hause, und dort spielen sie dann eine hervorragende Rolle, wenn ein Zigeuner verbrannt werden soll" (S. 372)

Die Autorin ist im ganzen Roman stark anwesend. Sie kommentiert, vergleicht, vermischt Vergangenes und Aktuelles, indem sie eine Art Panoptikum Österreichs schafft(21). So werden Menschen, Orte, Situationen aus den Massenmedien, der Politik, der Tourismus- und Sportindustrie, der Mode- und Schönheitsfabrik mit Erinnerungen an Lager, Folterungen, Arisierungen, Gaskammern, Krematorien, Lagerhalden von Kleidern, Brillen, Haaren, Knochen assoziiert. Um ihr Antiepos über Geschichte und Geschichtsverdrängung zu gestalten schöpft Jelinek aus dem Repertoire des habsburgischen Mythos und der österreichischen Literatur: von Grillparzer kommt das Motiv des Doppelgängers auf der Brücke und die Figur, die sich selber als Schauspieler eines Stückes sieht; von Nestroy der Lumpazivagabundus; von Hofmannsthal die bleichen ephebischen Selbstmordkandidaten; von Trakl die "ungeborenen Enkel"(die Kinder der Toten); von Celan die schwarze Milch und das Motiv der Asche und der Haare.

In dieser makabren und äußerst kritischen Anthologie der Geschichte und der Chronik Österreichs, in diesem hyperösterreichischen Roman, gewinnt das Land eine exemplarische Rolle, wird zum Symbol eines konsumbesessenen und scheinheiligen Westens mit faschistischen Zügen, das anstatt aus der Geschichte gelernt zu haben in Richtung Selbstzerstörung rennt. Der Zynismus der Autorin ist Teil einer apokalyptischen österreichischen literarischen Tradition, die eine unbarmherzige Analyse der Gesellschaft mit phantastischen Visionen kombiniert.

Das Motiv des Weltuntergangs, das in der österreichischen Literatur, vom Barock bis zur Gegenwart, stark anwesend ist, kennt im Werk Thomas Bernhards eine seiner hoffnungslosesten Varianten. Bernhards Roman Frost(22) aus dem Jahr 1963 richtet sich in erster Linie gegen den Topos der heilbringenden Natur. Die Landschaft bietet dem neurotischen Städter kein Refugium mehr. Nicht nur, daß sie fremd und kalt wirkt, sie selbst ist krank, morbid, zum Tode verurteilt. Ort der Handlung ist Weng, ein düsteres, häßliches und verwunschenes Dorf. "Alles ist gänzlich ausgestorben" (S. 14), stellt schon am Anfang der nervenkranke Maler Strauch fest, der sich vergebens auf der Suche nach Heilung aufs Land zurückgezogen hat. Er wird von einem jungen Medizinstudenten "beobachtet", den der besorgte Bruder des Malers geschickt hat, um ein Bild über den realen Zustand Strauchs zu erhalten. Der Student gerät aber bald unter den Bann des depressiven Malers und erlebt eine Art Erziehung zum Pessimismus. Im Roman gibt es keine objektive Beschreibung, das meiste wird durch die in den Aufzeichnungen des Studenten wiedergegebenen Monologe Strauchs wahrgenommen. So werden sowohl der Neuankömmling als auch der Leser in einen Sog von Trostlosigkeit hineingezogen. Das Dorfleben wirkt unheimlich und zugleich widerwärtig: die Luft ist verpestet, das Gasthaus ist schmutzig und unaufgeräumt, die Kinder sind kränklich und verkrüppelt, die Eltern versoffen und kriminell veranlagt. In den Worten des Malers war das Bild einer glücklichen Landbevölkerung schon immer lediglich Kolportage. Die Natur selbst schweigt und resigniert vor dem allmächtigen Frost. Der Wasenmeister ist nicht zufällig auch Totengräber: Tiere und Menschen sind im selben traurigen Schicksal vereint. Der Krieg hat schreckliche Erinnerungen hinterlassen, sowohl materielle(23) als seelische(24). Aber auch die Gegenwart bringt nichts Gutes: Das große Kraftwerk und der Stausee, die im Bau sind, verunstalten definitiv die Landschaft und haben schon viele tragische Arbeitsunfälle provoziert, während die Zellulosefabrik mit ihren Abwässern die Verbreitung der Tuberkulose begünstigt. So wie in den Gedichten Trakls sind die Mauern morsch und rissig:

Die Rosenmuster in meinem Zimmer sind von Rissen unterbrochen, die von oben bis unten und von noch viel weiter oben bis in die Tiefe hinunter gehen. Von großen nassen Flecken [...] Und Tag und Nacht arbeitet der Holzwurm [...] Im Keller unten sei ein Riß, von einem Erdbeben zurückgelassen (S. 167)

Die freundliche Wirtin wird durch die Bemerkungen der beiden Gäste auch für die LeserInnen zu einer widerlichen Figur, die ihren Mann im Gefängnis landen ließ und den Gästen gelegentlich Hunde- und Pferdefleisch verkocht. Es ist, als ob sich das schlechte Gewissen eines ganzen Hauses, eines ganzen Dorfs in die Architektur und in die Natur projiziert. Allmählich erweitert sich die negative Beschreibung des Dorfes auf das ganze "Land", in einer Zweideutigkeit, die sowohl auf die beschriebene Gegend als auf Österreich und die ganze Welt hindeutet. Bernhard schont niemanden und nichts: die Schule ist veraltet, das "ganze Land voller Verbrecher. Voller Mörder und Brandstifter" (S. 187), alle Wege sind voll Blut und der Schnee deckt die Verbrechen. Auch die Religion bietet keinen Trost mehr und dem gesegneten Land widmet Strauch ein "umgekehrtes" Vaterunser (S. 208).

Obwohl der Autor im allgemeinen politische Angriffe und historische Bezüge vermeidet, findet an einer Stelle der Hinweis auf Österreich als staatliche Einrichtung einen direkten, sarkastischen Ton:

Was unseren Staat betreffe, so handle es sich [...] um so etwas Lächerliches wie einen "kleinen piepsenden Rhesusaffen in einem großen zoologischen Garten", in welchem Garten naturgemäß nur die schönen gutgenährten Exemplare von Leoparden und Tigern und Löwen Interesse erweckten: die Fauchenden! Nur das Fauchen zähle, das Piepsen sei lächerlich [...] Die Demokratie, "unsere Demokratie", sei der größte Schwindel! [...] Selbst "unser Tanz ist tot, unser Tanzen und Singen ist tot! Alles pseudo! Alles ist nur mehr ein Firlefanz [...] Das Nationale Nationalschande! [...] Unser Staat ist ein Hotel der Zweideutigkeit, das Bordell Europas, mit einem ausgezeichneten überseeischen Ruf. (S. 266)

In Bernhards Roman steht also das typisch österreichische Motiv des Scheins mit einem offenen Bezug zum Tod. Laut Strauch gibt es keine Menschen mehr, nur "Totenmasken von wirklichen Menschen" (S.2 48). Diese führen "ein Scheinleben, das zu keinem wirklichen Leben mehr fähig ist. Städte, die längst tot sind, Gebirge auch, die längst tot sind, Vieh, Geflügel, selbst Wasser und die Lebewesen in diesem Wasser Spiegelungen unserer Totenmasken. Ein Totenmaskenball." (S. 248)

Wie sich (Anti)Heimatliteratur und apokalyptische Visionen vereinen lassen, zeigt auch Christoph Ransmayr mit seinem 1995 erschienen Roman Morbus Kitahara(25). Hier wird die Berg- und Seelandschaft Österreichs zu einem Alptraum. Anders als Lebert oder Jelinek und noch radikaler als Bernhard versetzt Ransmayr die Handlung auf eine mythische Ebene, außerhalb der Geschichte. Nach einem verlorenen Krieg ist das entlegene, sich inmitten der Berge befindende Dorf namens Moor seit Jahren von Truppen der Sieger besetzt. Die Anspielungen auf den Zweiten Weltkrieg, auf die USA, auf den Steinbruch Mauthausens sind jedoch evident. Die Nachkriegszeit wird im Roman sozusagen endlos verlängert. Im düsteren Moor ist das Problem nicht so sehr das Vergessen, im Gegenteil: Die Besatzer organisieren regelmäßig "Rituale der Erinnerungen", die der Bevölkerung ihre Schuld (in der Nähe des Dorfes gab es einen Steinbruch, wo Internierte bis zur Erschöpfung arbeiten mußten) dauernd vor Augen stellen soll. Erinnern heißt aber nicht zugleich verstehen, und der an einer progressiven Blindheit leidende Dorfschmied Bering fängt besser zu "sehen" an, als er entdeckt, daß die Stadtbewohner in Luxus und Hedonismus leben und daß der Marmor aus Moor keineswegs für den Bau von "Tempeln der Erinnerung" dient, sondern für die Ausstattung von Vergnügungspalästen.

Während jedoch der Autor auf geschichtlich-politischer Ebene eher unkritisch bleibt und alles auf einen Zyklus des "ewig Rückkehrenden" zurückführt, erweist sich der Bezug auf ewig waltende Naturgesetze auf kulturell-literarischer Ebene problematisch. Typische Figuren der Heimatliteratur wie der Jäger, der Sammler, die Bergfrau, und herkömmliche Situationen, wie der Gang durch Schnee und Eis, das Volksfest oder die Seefahrt wirken entfremdend, wenn auch ohne die Brutalität Jelineks, doch in einer neuen Form von cupio dissolvi. Die Welt Moors ist zum Verschwinden verurteilt, sie ist schon verschwunden, vergessen. (Moor war einst ein mondäner Badeort, der jetzt ganz verödet ist.) Es gibt nicht mehr den Stifterschen Einklang zwischen Mensch und Natur. Die Tiermenschen des Dorfes vernichten sich gegenseitig, und auch das Leitmotiv des Steines bekommt einen negativen Nachklang. Die Steine stehen nicht mehr für Sicherheit und Solidität, die ganze Landschaft besteht vielmehr aus Kieseln und Staub aus einem ausgebeuteten Steinbruch, in dem die Namen der toten Zwangsarbeiter eingemeißelt sind. Auch der besessene Steinesammler Ambras schafft es nicht, seine chaotische Sammlung, wie sein ganzes Leben, in Ordnung zu bringen. Sein Wohnsitz, die große Villa Flora, ist das exakte Gegenteil vom Schloß im Nachsommer Stifters. In Stifters Utopie hatten Menschen, Tier- und Pflanzenwelt, Natur und Kultur ein perfektes Gleichgewicht erreicht, hier ist dieses Gleichgewicht verloren gegangen. Ambras, der Ex-Internierte, der mit Protektion der Alliierten über Moor herrscht, lebt hier isoliert, in einem schmutzigen und äußerst ungeordneten Haushalt, umgeben von kaputten Möbeln, schimmeligen Tapeten und zerfetzten Vorhängen. Die Bibliothek ist ausgeplündert, der Garten verwahrlost, und seine einzigen Gefährten, außer Bering und Lili, zwei andere Außenseiter des Dorfes, sind einige extrem scharfe Hunde.

In den angeführten Beispielen werden also die Heimat des Heimatromans so wie die Landschaft der Naturidylle - Themen und Gattungen der "klassischen" österreichischen Literatur - zu einer Anti-Heimat, zu einer häßlichen und bedrohenden Natur, in der die Spuren vergangener Missetaten noch verhängnisvoll vorhanden sind. Auch typische Figuren der habsburgisch-literarischen Ikonographie, wie der Aristokrat, der Journalist, der Jude, der Literat, der Professor, der Heimkehrer, der Künstler bleiben weiterhin Protagonisten. Sie werden aber nicht oder nur teilweise in einem nostalgischen und "allgemeinmenschlichen" Ton gezeichnet, vielmehr in Situationen gestellt, in denen jegliche Scheinidylle der Vergangenheit und der Gegenwart aufgehoben wird. Eine ähnlich politische Aktualisierung erfahren die Schauplätze der traditionellen österreichischen Literatur: das Schloß, das Café, das Gasthaus, das Hotel. Sie werden entweder als verfallende Stätten und/oder als Hintergrund für brutale Vorfälle beschrieben. Es überleben die Metapher des "theatrum mundi", das Motiv der Maske, des Rollenspiels, so wie das der Allgegenwart des Todes. Diese Motive sind aber geschichtlich gebettet und mit Themen wie Krieg, Konzentrationslager, Menschenverfolgung, Arisierung, so wie mit aktuellen Fragen wie Umweltverschmutzung, Konsumismus, Migration in Verbindung gesetzt.

Diese dramatische, manchmal grausam-sarkastische, manchmal leidende, manchmal ironische Auseinandersetzung mit der geschichtlichen und kulturellen Vergangenheit, diese "Verfremdung des Tradierten", enthält nicht zuletzt Überlegungen über die eigene Identität und Funktion als Staatsbürger und Schriftsteller. Die vielen direkten und indirekten politischen Stellungnahmen dieser oft als "NestbeschmutzerInnen" gestempelten SchriftstellerInnen zeigen in Wirklichkeit einen ständigen Bezug, eine widerspruchsvolle Haß-Liebe-Beziehung zur Literatur aus Österreich und zum Österreich-Bild in der Literatur als Teil der eigenen und kollektiven Identität.

© Alessandra Schininà (Università di Catania)


ANMERKUNGEN

(1) Gerhard Fritsch: Moos auf den Steinen, Salzburg 1956.

(2) Gerhard Fritsch: Fasching, Reinbek bei Hamburg 1967.

(3) Über die Rezeptionsgeschichte der Werke Fritschs siehe: Dossier. Gerhart Fritsch, in "Literatur und Kritik", 1994; Robert Menasse: Die Ohnmacht des Machers im Literaturbetrieb. Zu Tod und Werk von Gerhard Fritsch, in R.Menasse: Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik. Essays zum österreichischen Geist, Wien 1990.

(4) Über die literarische Auseinandersetzung österreichischer SchriftstellerInnen mit dem Nazifaschismus vgl Marion Hussong: Der Nationalsozialismus im österreichischen Roman 1945-1969, Tübingen 2000.

(5) Gerhard Fritsch: Katzenmusik, Salzburg 1974.

(6) Zitate aus Hans Lebert: Die Wolfshaut, Wien 1962.

(7) Darüber Andrea Kunne: Heimat im Roman: Last oder Lust? Transformationen eines Genres in der österreichischen Nachkriegsliteratur, Amsterdam 1991.

(8) Darüber Konstanze Fliedl, Karl Wagner: Tote Zeit. Zum Problem der Darstellung von Geschichtserfahrung in den Romanen Erich Frieds und Hans Leberts, in F.Aspetsberger (Hrsg.): Literatur der Nachkriegszeit und der fünfziger Jahre in Österreich, Wien 1984.

(9) Gerhard Fritsch: Dahintreibend in den Meeren des Herbstes. Zur Dichtung Hans Leberts, in "Wort und Zeit", VII, H.3, 1961, S.11.

(10) Gerhart Fritsch: Dahintreibend in den Meeren des Herbstes. Zur Dichtung Hans Leberts, in "Wort und Zeit", VII, H.3, 1961, S.12.

(11) Hans Lebert: Der Feuerkreis, Salzburg 1971.

(12) Vgl.:"Doch mit der Zeit gewöhnt man sich an alles, sogar an den prickelnden Reiz, unter Mördern zu leben." (S. 235)

(13) Zitate aus Ingeborg Bachmann: Unter Mördern und Irren, in I.Bachmann: Werke II, München 1978.

(14) Über den zeitkritischen Inhalt dieser Erzählung vgl. Wendelin Schmidt-Dengler: Bruchlinien, Salzburg und Wien 1995, S.111-121.

(15) Zitate aus Milo Dor: Die weisse Stadt, Salzburg-Wien 1994.

(16) In ihrer Analyse des Romans spricht Marion Hussong von einem "verinnerlichten Widerstand". Vgl. Marion Hussong, a.a.O., S.130-137.

(17) Zitate aus Elfriede Jelinek: Die Kinder der Toten, Reinbek bei Hamburg 2000 (1997).

(18) Vgl. dazu Sabine Treude: Die Kinder der Toten oder: Eine Verwicklung der Geschichten mit einer Geschichte, die fehlt, in Elfriede Jelinek, Text + Kritik 1999, S.

(19) "Der Gestank legt sich wie eine Zierdecke über Haus, Garten, Wald," (S.438)

(20) Der Meldezettel oder die Aufenthaltsbewilligung werden zum Genußschein, vgl. S.451

(21) Materialien über das komplexe Verhältnis zwischen der Schriftstellerin und ihrem Land bietet Pia Janke (Hrsg.): Die Nestbeschmutzerin. Jelinek & Österreich, Salzburg und Wien 2002.

(22) Zitate aus Thomas Bernhard: Frost, Frankfurt am Main 2003 (1972).

(23) "Grausige Spuren habe der Krieg im ganzen Tal hinterlassen" (S. 138)

(24) "Alle diese Leute haben ihre Komplexe [...]. Und lauter Kriegserlebnisse, wissen Sie, alles, was die Leute erzählen, handelt vom Krieg." (S.54)

(25) Zitate aus Christoph Ransmayr: Morbus Kitahara, Frankfurt am Main 1997 (1995)


5.8. Literatur versus Nation

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For quotation purposes:
Alessandra Schininà (Università di Catania): Tradition und Zeitkritik in der österreichischen Erzählliteratur nach 1945. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_08/schinina

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