Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. August 2004
 

5.11. Das Schreiben in der Migration: Literatur und kulturelle Kontexte in der Romania
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Klaus-Dieter Ertler (Universität Kassel/Graz)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Die doppelte Fremdheit: Literatur italienischer Migrantinnen in Deutschland am Beispiel von Lisa Mazzi

Angela Nägele (Universität Leipzig)

 

Unter dem Titel Unbehagen veröffenlichte der Zambon-Verlag 1998 eine Reihe von Kurzgeschichten von Lisa Mazzi. Die Texte - einige von ihnen waren vormals in Anthologien publiziert worden - sprechen vornehmlich von Fremden. Sie sprechen von Fremdheit in vielerlei Spielart: von fremden Menschen und von fremden Situationen. Sie sprechen von Menschen, die anderen und sich selbst Fremde bleiben oder werden und von Menschen, die sich in Situationen wiederfinden, in denen sich ihre inneren und äußeren Welten bis ins Unerkenntliche verfremden.

Um einige Beispiele zu nennen: da ist die Pendlerin - so auch der Titel der Erzählung - zwischen zwei Städten, die gezwungen ist, am Bahnsteig die eine oder andere zu werden. Ihr Bild ist das Bild der Raupe, sie muss, um überleben zu können, der Raupe gleich eine Abfolge von Verwandlungen durchlaufen - aber als die innere Verwandlung nicht mehr gelingt, verzerren sich Elemente der Außenwelt bis ins Unerkenntliche.

Da ist in "Das Löschpapier" die misshandelte und vereinsamte Ehefrau, die in der altmodischen Bürobranche tätig ist und sich zunehmend in Momenten der Demütigung mit einem Gegenstand ihres Arbeitsplatzes identifiziert - mit Löschpapier - und schließlich aus dieser Vorstellung nicht mehr herausfindet, und dann ganz ausgelöscht wird.

Da ist in "Die Angst der Tania M" auch die Rede von einer Frau, deren Gesicht sich beim Anblick in den Spiegel in eine Fratze verwandelt, und die aus diesen Zuständen der Verwandlung nur mit Mühe am Morgen herausfindet, um am Arbeitsplatz wieder funktionieren zu können.

In der Erzählung "Die Flucht", wird der Protagonist von einem zunehmenden Zwang befallen, in Züge und Garagentore einzusteigen. Die Panik, die diese Situationen in ihm auslösen, ist um so befremdlicher, wo er in einer verwirrenden Verzwickung von verschiedenen Realitäten aus ihnen heraus erwacht wie aus einem Alptraum, nämlich ohne jeden Anhaltspunkt:

"Wenn ich Platz nehme, haben die anderen Fahrgäste bereits ihre Zeitungen entfaltet oder ihren Kopf auf die Schulter geneigt, um sich ein Nickerchen zu gönnen. Freilich falle ich unangenehm auf, wie ein Mensch, der Pünktlichkeit nicht kennt und wahrscheinlich ein fragwürdiges Leben führt. Erschöpft und fast gequält von Schuld- und Schamgefühlen schließe ich die Augen. Der Zug fährt. Ich habe den Eindruck, dass diese Fahrt unendlich lang ist und dass das Land, das wir durchqueren, mir ganz fremd ist. Wenn der Schaffner kommt und mich um die Fahrkarte bittet, werde ich nicht im Stande sein, eine vernünftige Antwort zu geben. Ich habe auch keine Papiere dabei und auch kein Geld. Ich weiß überhaupt nicht, was ich hier tue und was für ein Ziel ich habe. Meine eigene Identität schwindet und ich habe Mühe, mich von dieser überwältigenden Leere zu befreien. Am liebsten möchte ich sofort wieder aussteigen, aber der Zug hat keine Türen und ich muss weiter sitzen bleiben, wer weiß, für wie lange. Wenn dieser Albtraum zu Ende ist, merke ich dass ich mit meinen Füßen noch auf derselben Stelle trete."(1)

Literarisch findet die Fremdheit ihre Umsetzung im Motiv der Verwandlung, in den in dichter und metaphernreicher Sprache beschriebenen Metamorphosen. Man könnte sie unterscheiden: in Beschreibungen kontinuierlicher Verwandlungen der Außenwelt und diskontinuierlichen Metamorphosen der Innenwelt - zweitere erzählen von den psychischen oder physischen Verwandlungen der Protagonisten und Protagonistinnen.

Lisa Mazzi gehört zu einer größeren Gruppe schreibender italienischer Migrantinnen.

Diese Autorinnen migrieren und schreiben in der Zeit der sogenannten Gastarbeiterwellen, aber ihre Migrationsmotive werden sich kaum als Motive einer klassischen Arbeitsmigration darstellen lassen.

Lisa Mazzi schreibt in Deutsch, einige schreiben nur in Italienisch und andere lassen Italienisch, Deutsch und Versatzstücke von Dialekten sich kreuzen und vermischen. Sie alle wählen unterschiedlichste Darstellungsformen und Thematiken. Die thematische Vielfalt, die unterschiedlichen Formen sowie die stark divergierenden Veröffentlichungs- und Rezeptionsbedingungen sind Gründe einer erschwerten Einordnung in bestehende wissenschaftliche Kategorien. In der BRD zeigt sich diese Problematik in der Vielzahl der Bezeichnungen für eine "Literatur der Migration", die eng mit der Vorstellung eines gültigen Kanons verknüpft ist.

Als erste Bezeichnungen finden Gastliteratur, Gastarbeiterliteratur und Ausländerliteratur, die sich auf die Begriffe Autori Gast und Letteratura Gast bezogen. Diese waren Teil der Programmatik des Dibattito (1976-1977) italienischer Autoren und Autorinnen der in Frankfurt erscheinenden Wochenzeitung Il corriere d'Italia.

Eine auf thematische und sozialhistorische Aspekte beschränkte Analyse brachte das "Konzept der Betroffenheit" als literaturwissenschaftliche Kategorie hervor, Migrationsliteratur wurde somit in die Reihe der Literaturen der vom etablierten Kanon ausgeschlossenen Randgruppen wie die der Homosexuellen, der Frauen, der psychisch Kranken etc. eingeordnet.

Relativ rasch vollzogen sich dann eine Reihe unterschiedlicher Betrachtungsweisen, die einer Literatur der Migration ein Existenzrecht zusprach, sofern sie einen Nutzen für die BRD oder deren "Nationalliteratur" brachte: als emotionaler Katalysator der Autoren und Autorinnen, als erkenntnisbietende Widerspiegelung der Gesellschaft, als formale und inhaltliche Bereicherung der zeitgenössischen deutschen Literatur, als Möglichkeit eines Einübens des interkulturellen Zusammenlebens- Vorraussetzung war natürlich, dass in deutscher Sprache geschrieben wurde.

1991 fand im Literaturhaus in Frankfurt eine Tagung unter dem Titel "Letteratura decentrata - Italiener schreiben in der Fremde" statt. Hier wurde der Begriff der "Letteratura de-centrata" sowohl für italienischsprachige als auch für deutschsprachige Werke als angemessener diskutiert. Denn in diesem Begriff finden Merkmale, die für migrantisches Schreiben überhaupt gelten dürften, ihren Ausdruck: die Heterogenität der Autoren und Autorinnen bezüglich ihrer Stoffe und Intentionen, ihres Lebensalters sowie ihrer sozialen Herkunft; ihre Gemeinsamkeit einer Auseinandersetzung mit einem de-zentrierten Alltag, ihre Erfahrung des Fremdseins, ihre Erfahrung mit der Grenze, die Problematik ihrer Verortung.

Und obwohl die Migrationsbetroffenheit von Frauen ständig anstieg, obwohl Frauen zunehmend bei Arbeitsmigration und Flüchtlingsbewegungen überrepräsentiert waren und sind, war die Migrationsforschung lange Zeit auf ihrem gender-Auge blind.

Einmal entdeckt wurden relativ rasch einige stereotype Bilder der Migrantin entworfen und fixiert.

Nicht-Beachtung und Stereotypisierung erfuhr auch die Literatur von Migrantinnen, die ihrerseits schon früh ein geschärftes Bewusstsein über erschwerte Produktionsbedingungen als schreibende fremde Frauen und als Folge davon eine Unterrepräsentation im literarischen Feld erkannten.

Diese Erfahrungen führen zwangsläufig zu einer kritisch gewordenen Frage nach der eigenen Identität.

Für die Marginalisierten bedeutet dies eine Präsenz die von sozialer Überwachung, psychischer Verleugnung sowie Überdetermination durch Stereotypen und Projektionen gekennzeichnet ist. Der Versuch der Tarnung mittels eines antagonistischen und assimilatorischen Prozesses ist die Reaktion der Migrantin auf das Dilemma der Identität, d.h. - "mit der Repräsentation, die ihrerseits ein Prozess der Verleugnung ist."(2) Diese Erfahrungen rücken den Begriff der Grenze in den Mittelpunkt, der sich in der Beschäftigung mit der Prozesshaftigkeit von Geschlechterrollen, Identitäten, Gruppen abhebt. Alltagspraktiken im Umgang mit Grenzen zeugen von der Traumatisierung von Grenzgängerinnen, die unablässig auf ihren Status festgeschrieben werden. Sie müssen Grenzen als soziale, kulturelle und psychische Trennlinien erfahren. Zentral werden dann im Umgang mit der Grenze die Fragen: "Wie wird eine Grenze reguliert und bewacht? Wer wird draußen gehalten und warum? Mit welchen Realitäten sind diejenigen konfrontiert, die als unerwünschte GrenzübertreterInnen stigmatisiert werden?"(3)

Und: vor dieser konkreten Bedeutung des Fremdseins der Migrantin schreiben die Autorinnen von einer anderen, zuerst erlebten Fremdheit: von der Fremdheit der Frau in der eigenen Kultur. Fremdheit, die sich durch die Geschichte der Frauen wie ein roter Faden zieht, ist Resultat der Erfahrung eines massiven Ausschluss des weiblichen Denkens, des weiblichen Körpers, der weiblichen Geschichte und Erfahrung aus der männlichen und einzigen Welt. Greifbar wird sie im weiblichen Verstummen, im Verlust der körperlichen Integrität und der Entfremdung von der eigenen Sexualität.

Verschiedene Reaktionen auf dieses Fremdsein sind gekennzeichnet von der Suche nach einem Schutzmechanismus, der, wenn schon nicht das eigengewollte und ersehnte Leben so wenigstens ein Überleben sichern sollte. Ein Mechanismus, als Schutz gedacht, ist der Rückzug in sich selbst, und gleichzeitig das Erschaffen einer zweiten unverletzlichen Haut, einer Maske. Dieses Tarnspiel der Masken birgt die Gefahr des Fremdwerdens vor sich selbst. Das eigene Begehren und das eigene Denken wurden zu lange als überflüssig angesehen, das Stummsein hat schon zu lange gedauert.

Die Entscheidung, mit Hilfe eines anderen Werkes von Lisa Mazzi, mit Hilfe ihrer Erzählung Der Kern und die Schale Kontexte zu erstellen, die Ursache für die doppelte Fremdheit der Frau - Fremde in der Kultur, Fremde vor sich selbst - sein können, begründet sich in mehreren Überlegungen.

Zunächst kündigt Lisa Mazzi sowohl mit dem Untertitel Italienische Frauen in der BRD als auch durch das Vorwort, einen autobiografischen und biografischen Text an, und spricht ihm damit einen nicht unbeträchlichten nicht-fiktionalen Gehalt zu.

Darüber hinaus ermöglichen die Erkenntnisse der cultural studies in ihrem neuen Blickwinkel die Kontextualisierung eines jeden Textes als eine Art Spurenlesung eines Begriffs von Kultur des Alltags im Text. Der Kern und die Schale spricht von sechs Frauen, zwei ihrer Geschichten sind in interviewähnlichem Stil gehalten.

Die Frauen - die Protagonistinnen und die Autorin - verbindet ihre gemeinsame Herkunft - Italien - und ein mehrjähriger Aufenthalt in der Bundesrepublik. Diese gemeinsame Erfahrung führt in der Geschichte der Protagonistinnen zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit der eigene Identität und der eigene Fremdheit. Dabei rücken Italien und Deutschland als ausschließende Systeme in den Vordergrund, die diesen Ausschluss mit geschlechtlichen und kulturellen Differenzen begründen, die ununterbrochen in Alltagspraktiken und Diskursen konstruiert und repliziert werden.

So werden Frauen in ihren eigenen Kulturen marginalisiert aufgrund ihres Geschlechts, Migrantinnen werden aufgrund ihrer sogenannten kulturellen Andersartigkeit in den Dominanzkulturen der Zielländer ein weiteres Mal diskriminiert.

Wenn in einem ersten Schritt die Fremdheit in der eigenen Kultur am Beispiel Italiens in Bezug auf die Biografien untersucht wird, dann kreist die Problematik in einer von Katholizismus und Patriarchat gekennzeichneten Lebenswelt unter anderem um Weiblichkeitsmodelle, Abtreibung, Scheidung, Arbeit, Sexualität und Homosexualität.

In der Geschichte Italiens hat die katholische Kirche als Institution seit jeher eine tragende Rolle. Spätestens seit den Kirchenvätern, im Besonderen durch Thomas von Aquin, wurde die Minderwertigkeit der Frau in der Dichotomie Hure / Madonna zur verbindlichen Doktrin der Kirche. Mit dieser Ideologie hat die katholische Kirche Frauen aus allen gesellschaftlich relevanten Sphären ausgeschlossen, in dem sie sie in den privaten Bereich der Familie verwiesen hat. Dieselbe Ideologie beeinflusst auch die Praxis der Ehe und der Scheidung. Lange Zeit galt die Ehe als Pflicht und Lebensaufgabe der Frau, wurde die Frau, die in irgendeiner Form sich ihr verweigerte oder in irgendeiner Form aus ihr herausbrach gesellschaftlich sanktioniert - erst 1970 wurde die Scheidung gesetzlich legitimiert.

Mit dieser Thematik setzt sich Vera im Interview auseinander:

"Ich wollte weggehen, um frei und für mich selbst leben zu können. Ich hatte genug, mich den Normen einer Gesellschaft fügen zu müssen, die ich nicht mehr als die meinige ansah. Ich, eine erwachsene Person, die zu Hause nicht erwachsen sein durfte. (...) Es gehört sich, da zu bleiben, wie einst Mutter und Großmutter und die Erwartungen zu erfüllen: Heiraten, Kinder gebären, sich um die Alten kümmern."(4)

Dieses Ungleichgewicht von Mann und Frau vor dem Gesetz und in der Gesellschaft verschärft sich noch in der Frage nach der Autonomie des eigenen Körpers. Bis 1978 war die Abtreibung gesetzlich verboten, waren Frauen damit gezwungen, heimlich abzutreiben. Damit zwang man sie in einen illegalen Raum, setzte sie gesundheitlichen Risiken aus, und machte ihre Entscheidung extrem von finanzieller Situation abhängig.

Der Kampf um ein Gesetz, das die Abtreibung erlaubte, rückte die Beziehung zwischen Mann und Frau in den Vordergrund der Analyse und der öffentlichen Debatte. Denn weibliche Sexualität wurde jahrhundertlang unterdrückt und mit Scham verhüllt, sie sollte damit der reinen Reproduktion und nicht der Lust dienen, so die Ideologie der Kirche, die darüber hinaus Sexualität nur zwischen Mann und Frau und nur zum Zweck der Fortpflanzung erlaubt.

Homosexualität wurde generell massiv tabuisiert und ausgegrenzt, vor allem aber bei der Frau als erschreckend erfahren, weil sie als Verweigerung der sexuellen Herrschaft des Mannes wahrgenommen wird. In ihrem Nachdenken über ihre Sexualität erinnert sich Graziella an:

"Eine Zeit, in der ich mit der zärtlichen Komplizenschaft meiner Kusine angefangen hatte, meinen und ihren Körper zu erforschen. Ein kurzes Erlebnis - abgebrochen aus Angst vor Mutter und Tante, die uns unermüdlich wiederholten, die wertvollen Schätze unseres Körpers für den richtigen Augenblick und für den richtigen Mann aufzubewahren."(5)

Eine Analyse des Arbeitsmarktes spricht von einem klaren Missverhältnis zwischen Männern und Frauen. Wo Frauen beruflich tätig waren, zeichnete sich das Arbeitsverhältnis durch minderwertigste Arbeit und krasseste Unterbezahlung aus.

Viele dieser berufstätigen Frauen leisteten gleichzeitig ein immenses Pensum an zusätzlicher Hausarbeit. Wer "nur" im Haushalt tätig war, leistete und leistet unbezahlte Arbeit, die keinerlei Anerkennung und Erweiterung von Handlungsspielräumen mit sich brachte; aber Isolierung und Frustration.

In einem weiteren Schritt kann Fremdheit im fremden Land analysiert werden. Es geht also um die BRD als ausschließendes System.

Dabei können Ausschlussverfahren aufgezeigt werden, die Fremde in ihrem Status als Fremde fixieren. Hier bedingen sich struktureller und gesellschaftlich-sozialer Rassismus gegenseitig. Ich verwende den Begriff Rassismus als eine Möglichkeit, Zusammenhänge zwischen der Situation ausländischer Einwohner und den Verbrechen an Kolonialisierten und Juden auszudrücken. Obwohl die BRD historisch wie aktuell von Rassismus gekennzeichnet ist, steht eine systematische historische und soziologische Analyse der Thematik noch aus. Vielfach liegen den aktuellen rassistischen Äußerungen neue Formen von Rassismen zugrunde, die die Differenzen zwischen Menschen betonen, und propagieren, dass ihre Natur, ihre ethnische Eigenart /ihre Kultur ein Zusammenleben verschiedener Kulturen ausschließe, und nationaler Separatismus natürlich und unumgänglich sei. Ausdruck einer solchen Haltung sind die unreflektierten und spontanen, feindseligen und diskriminierenden Handlungen ebenso wie die organisierten, neonazistischen Kampagnen und Versuche, rassistische Politik wissenschaftlich zu rechtfertigen. Dabei müssen erschreckende Phänomene, wie der erhöhte Ausländerhass in den neuen Bundesländern, nur als an der Oberfläche von der Haltung der alten Bundesländer different erkannt werden. Beide sind Ausdruck ein und desselben Konsenses zwischen parlamentarischer Politik und der Haltung einer Vielzahl von Bürgern.

Die einzelnen Phasen in der BRD lassen sich an den Veränderungen der Begrifflichkeiten nachvollziehen. Dabei kam es wiederholt zu einer bloßen Ersetzung von Begriffen durch politisch korrektere, ohne dass eine Veränderung der politisch fragwürdigen Realitäten ernsthaft gewollt worden wäre.

Seit Anfang der 1950er fühlte man sich aufgrund der begrenzten Aufenthaltsdauer der Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen und ihrem sozialen Status berechtigt, von Gastarbeitern zu sprechen. Seit Anfang der 70er, hauptsächlich aufgrund des Aufnahmestops, wurde der Begriff des Gastarbeiters als ungeeignet empfunden.

Von amtlicher Seite ersetzte man ihn durch den Begriff des ausländischen Arbeitnehmers und umgangsprachlich sprach man von Ausländern. Der verstärkte Ausländerhass in den 1980ern, der sich in den Parolen im Sinne von "Ausländer raus" fassen lässt, hatte die negative Konnotation des Begriffs noch verstärkt und ihn für die offizielle Nutzung ausgeschlossen.

In der Folgezeit ging man dazu über, von Migranten und Migrantinnen zu sprechen, von Einwandern und Einwanderinnen; diese Begriffe vertuschen, dass die BRD rechtlich und politisch kein Einwanderungsland ist.

Die Problematik, die auf der Oberfläche der Begrifflichkeiten angeklungen ist, hat Tiefe: Seit 1955 begann die BRD unter ausschließlich arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten "Gastarbeiterpolitik" zu betreiben, wobei der Staat bei der Organisierung der Anwerbemaschinerie einerseits auf ein System zurückgriff, welches von der Nazi-Kriegswirtschaft für den Einsatz ausländischer Arbeitskräfte entwickelt worden war, und orientierte sich andrerseits an den Erfahrungen der anderen westeuropäischen Ländern.

Von Beginn der Arbeitsmigration an war die Ausgangslage der staatlichen Politik die Prämisse, dass der Arbeitsmigrant eine zeitlich begrenzte und mobile Arbeitseinheit darstellte, die man nach Belieben anwerben, einsetzen und zurückschicken konnte. Dementsprechend war der juristische Rahmen des Gastarbeitersystems. Die Bestimmungen sahen keinerlei Rechte für Migranten und Migrantinnen vor, nur denjenigen wurde Aufenthalt gewährt, "die aufgrund ihrer Persönlichkeit und des Zwecks ihres Aufenthaltes im Reichsgebiet die Gewähr dafür bieten, dass sie der ihnen gewährten Gastfreundschaft würdig sind."(6)

Daran änderte das neue Ausländergesetz von 1965 nichts: "Die Aufenthaltsgenehmigung kann erteilt werden, wenn die Anwesenheit des Ausländers die Belange der Bundesrepublik nicht beeinträchtigt. (...) Ausländer genießen alle Grundrechte mit Ausnahme der Grundrechte der Versammlungsfreiheit, der Vereinsfreiheit, der Freizügigkeit, der freien Wahl auf Beruf, Arbeitsplatz, und Ausbildungsstätte sowie Schutz vor Auslieferung an das Ausland."(7)

Damit baute der Staat ein System der institutionellen Diskriminierung auf. Dessen Kehrseite sind bestehende Diskurse und Alltagspraktiken, ist der Rassismus als gesellschaftlicher Konsens, der sich in der BRD in einer Mischung aus irrationalem Glauben an eine kulturelle Überlegenheit Deutschlands und der Deutschen, einem irrationalen Glauben an die Existenz national oder ethnisch begründeter Unterschiede zwischen den Menschen sowie eines als Nationalchauvinismus zu bezeichnender Nationalstolz in einer sich als normal manifestierenden fremdenfeindlichen Grundhaltung zeigt.

Eine besondere Charakteristik zeigt dabei die Wahrnehmung der fremden Frau. Hier sind vor allem zwei Blickwinkel aufzuzeigen - beide schreiben dabei die Migrantin als Exotin in einem Opferstatus fest.

Da ist zunächst der Blick, der die Migrantin als reines Sexualobjekt wahrnimmt. Textstellen beschreiben das große Interesse an der Sexualität der südländischen Frau (und dies gilt natürlich auch für muslimische, afrikanische, asiatische und andere Frauen). Besonders deutlich wird das in der Exotisierung ausländischer Frauen in den Medien und im Tourismus. Das Bild der Sexualität der fremden Frau scheint dabei aus einem Konglomerat unterschiedlichster Projektionen und Phantasien zu bestehen: der koloniale Blick impliziert die typische Doppelstruktur von Faszination und Verachtung. Die fremde Frau wird in einem solchen Blickwinkel einerseits als "unterentwickelt", "zurückgeblieben", "unzivilisiert", "gefügig" verachtet, andrerseits wird ihre Sexualität als "natürlich", "potent", "unverdorben", "tierisch" und "urwüchsig" begehrt.

Mit dieser Doppelbödigkeit wird die Ausbeutung von Sexualität in den Medien und den realen Situationen gerechtfertigt.

Ein zweiter Blickwinkel bringt der Migrantin als Opfer hauptsächlich Mitleid entgegen.

Die Situation der Migrantinnen wird dabei durch die eigene kulturelle Brille gesehen und beurteilt. Die dominante Kultur verfügt über die Definitionen und schreibt Migratinnen in einer Reduktion auf den Opferstatus fest. Hier wirken Prozesse der Verschiebung. Das Mitleid mit der "unterdrückten fremden Frau" profitiert von einem Gefühl der Überlegenheit, das die Zugehörigkeit zum westlichen Fortschrittsprojekt zeigt:

"Zu schnell macht sie sich ein Bild von mir: Vera eine "Südländerin", die unfähig ist, sich als Einzelperson zu behaupten. (...) Nach drei Jahren Deutschland habe ich erst begriffen, was mir im Alltag entgangen war. Dass ich trotz der Betrachtung der äußerlichen Regeln, der scheinbar gelungenen Integration, sogar durch die Ehe besiegelt, anders bin. Das macht nicht das Aussehen, nicht die Aussprache, sondern mein inneres Leben. Aber die Zeit in Deutschland ist auch nicht spurlos an mir vorübergegangen. Ich habe mich verändert und dort, in Italien, bin ich auch anders als die, die geblieben sind. (...) eine "Deutsche" in Italien, eine Italienerin in Deutschland. Hier wie dort stelle ich eine Welt dar, die meine eigene und doch nicht meine eigene ist."(8)

© Angela Nägele (Universität Leipzig)


ANMERKUNGEN

(1) Lisa Mazzi: Unbehagen, S. 28

(2) Homi Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 128

(3) Avtar Brah: Grenze und transnationale Identitäten, S. 38

(4) Lisa Mazzi: Der Kern und die Schale, S. 23

(5) Lisa Mazzi: Der Kern und die Schale, S. 52

(6) zitiert nach Stephen Castles: Migration und Rassismus, S. 74

(7) ebenda, S. 75

(8)  Lisa Mazzi: Der Kern und die Schale, S. 20


ZITIERTE LITERATUR

Mazzi, Lisa: Der Kern und die Schale. Frankfurt/M: Zambon, 1986

Mazzi, Lisa: Unbehagen. Frankfurt/M: Zambon, 1998

Bhabha, Homi: Die Verortung der Kultur. Tübingen. Stauffenburg, 2000

Brah, Avtar: Diaspora, Grenze und transnationale Identitäten, in: Ursula Biemann: been there and back to nowhere. Geschlecht in transnationalen Orten. Berlin: b_book, 2000

Castles, Stephen: Migration und Rassismus in Westeuropa. Berlin: Express Edition, 1987


5.11. Das Schreiben in der Migration: Literatur und kulturelle Kontexte in der Romania

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For quotation purposes:
Angela Nägele (Universität Leipzig): Die doppelte Fremdheit: Literatur italienischer Migrantinnen in Deutschland am Beispiel von Lisa Mazzi. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_11/naegele15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 31.8.2004     INST