Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juni 2004
 

5.12. Narration in Literature and Writing History
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gabriella Hima (Budapest)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Das "Prometheische" als das Verbindende in der deutschen Literatur des 18.-20. Jahrhunderts

Márta Harmat (Szeged)

 

"[...] die Geschichte von Prometheus scheint mir so wenig zu Ende, wie die Geschichte des Menschen"(1) - so Hans-Georg Gadamer im Jahre 1946. Ja, der Prometheus-Mythos mit seiner Traditionsbindung und Zukunftsorientiertheit, mit seiner anthropozentrischen Kulturdeutung kann als eines der wichtigsten "Dokumente" der europäischen Mentalitätsgeschichte und der daraus fortentwickelten historischen Anthropologie betrachtet werden. Die universellen Deutungsebenen des Mythos und selbst die Figur des Prometheus als Grundmythologem mit seinen zahlreichen Konnotationen von Menschenschöpfer und Göttertäuscher, Feuerbringer und Menschheitsverderber, Übermensch und Verbrecher ermöglichen grundverschiedene Interpretationen durch Kunst und Literatur, Philosophie und Politik, bis hinein in die Reklamesprache oder die Problematik der Elektro- und Gentechnologie unserer Zeit.(2)

Weitere Diskursmöglichkeiten öffnen sich für die Interpretation des "Prometheischen", wenn die Figuren von Epimetheus und Pandora als Ergänzungsmythologeme mit einbezogen werden. Neben dem Fortschrittskämpfer, dem "vorausdenkenden" Prometheus (selbst sein Name verweist auf seine Zukunftsorientiertheit) erscheint Epimetheus, sein "nachträglich erkennender"(3), dichtender und liebender Bruder, der das Rachegeschenk von Zeus, die schöne Frau Pandora, aufnimmt und auf solche Weise durch die aus der Büchse Pandoras ausgeschütteten Übel am Menschheitsverderben teilhat.

Bereits der Prometheus der Antike (von Hesiod und Aischylos bis Tertullian)(4) trägt also in sich die Keime der Antinomie von Kulturoptimismus und Zivilisationsskepsis - zugleich auf den Parallelebenen der individuellen Entfaltungsproblematik und der Menschheitsperspektiven. Der neuzeitliche Umgang mit dem "Prometheischen" nützt alle Transformations- und Umgruppierungsmöglichkeiten der mythologischen Elemente aus. In jedem Deutungsversuch spiegelt sich eigentlich das aktuelle Selbstverständnis der europäischen Kultur wider. Im Rahmen dieses Vortrags kann ich mich mit der langen Rezeptionsgeschichte des Mythos nicht beschäftigen.(5) Ich versuche bloß einige Reflexionen der deutschen Kultur über das "Prometheische" (von Goethe bis zum späten 20. Jahrhundert) unter vergleichendem Aspekt zu analysieren. Durch die typologische Untersuchung der Parallelen und Differenzen sollte vor allem die Kontinuität in den europäischen Kulturtraditionen betont werden.

In den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts wird der Prometheus-Diskurs mit seiner ganzen Widersprüchlichkeit vom jungen Goethe aufgegriffen und von ihm auch später in verschiedenen Variationen weitergeführt. Sein Dramenfragment Prometheus (1773) und die in dessen Umkreis entstandene Prometheus-Hymne bringen das Autonomieverlangen eines Sturm-und-Drang-Genies zum Ausdruck. Die Dramavariante kann vielfältig gelesen werden ("als Beitrag zur Religionskritik mit politischen Implikationen, zur zeitgenössischen philosophischen Diskussion, zu den Hypothesen über den Urzustand der menschlichen Existenz und der Menschengemeinschaft, zur Konzeption der künstlerischen Kreativität, zur Veränderung der Vorstellungen von Liebe, Sexualität und Familie")(6). Das Prometheus-Gedicht kann dagegen eindeutig als ein "Anti-Hymnus"(7) verstanden werden. Der "lyrische Held" Prometheus singt keinen "Götterhymnus", er selbst wird zum Adressaten seiner eigenen Rede, die den selbstgeförderten Prozess des Menschwerdens und die daraus resultierenden Menschheitsperspektiven verkündet, aber mit einer offen gelassenen Struktur der Selbstäußerung: mit der Zukunftsorientiertheit des zu sich selbst redenden Prometheus-Ich ("Hier sitz' ich, forme Menschen/ nach meinem Bilde,/ Ein Geschlecht, das mir gleich sei,/ Zu leiden, zu weinen,/ Zu genießen und freuen sich,/ Und dein nicht zu achten,/ Wie ich!")(8), d. h. mit einem imaginären Fragezeichen der möglichen Skepsis. Gelingt es wirklich dem Prometheus "prometheische" Menschen zu schaffen? Und was für eine Zukunft, was für ein Schicksal wartet auf diese Menschheit? ("Hat nicht mich zum Manne geschmiedet/ Die allmächtige Zeit/ Und das ewige Schicksal,/ Meine Herren und deine?")(9)

In Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774)(10) äußert sich wieder das Prometheus-Ich als Kontrapunkt zu den anderen Stimmen des Geniebewusstseins, zum pantheistischen Vereinigungsstreben des Ich mit dem ganzen Weltall und seinem Urquell-Schöpfer ( in Mahomets Gesang und in der Ganymed-Hymne). Der Romanheld Werther, der junge Bürger aus Goethes Zeit, wird als Mensch sowohl durch seine eigenen Sturm-und-Drang-Hoffnungen und die Genie-Erwartungen des Zeitgeistes als auch durch die engstirnigen Philistereien der Gesellschaft stark überfordert. Am Anfang seiner Geschichte kann er noch in der Natur, unter Kindern und einfachen Bauern einen "paradiesischen" Harmoniezustand erfahren und seine Seele für den "Spiegel des unendlichen Gottes" (W 9) halten. In diesem Weltbild ergänzen einander pantheistisches Pathos und messianische Begeisterung der Seele ganz natürlich. Werther spürt hier weder äußere noch innere Grenzen seines Daseins. Seine "allumfassende" Liebe und Freude beginnen aber zu schwinden, sobald ihn seine aufflammende Leidenschaft zu Lotte, zur Braut eines anderen, in eine moralisch fragliche Zwiespaltsituation stellt. Um so mehr, weil dieser andere, Albert, "der beste Mensch unter dem Himmel" (W 45) sei. Er ist ein guter Freund Werthers, dessen "Wahrheit" aber, sein gesunder Rationalismus, nicht nur deshalb unannehmbar für Werther ist, weil er dadurch Lottes empfindsame Seele und sein eigenes Glück gefährdet sieht, sondern auch deshalb, weil Alberts "vernünftige Weisheit" (W 4) für ihn keinen echten Wahrheitswert vertritt. In Werthers Idealvorstellungen erscheint die platonische Trias der Werte (Wahrheit, Schönheit und Güte) in einem "kosmischen Einheitsgefühl", Werthers Sturm-und-Drang-Ich sehnt sich nach vollkommenem "Einswerden" mit dem ganzen Weltall, wie es auch durch den Prometheus des Dramenfragments in einem Dialog ganz ähnlich wie im Werther-Text formuliert wird ("... aus dem innerst tiefsten Grunde/ Du ganz erschüttert alles fühlst/... Und alles klingt an dir und bebt und zittert/ ... und du in inner eigenem Gefühle/ Umfassest eine Welt ...")(11)

Werthers Erwartungen müssen aber an der gar nicht so vollkommenen, halb bürgerlich, halb feudal und teilweise protestantisch geregelten Realität des deutschen Alltagslebens und auch an der Schwäche seiner eigenen Natur scheitern. Die hoffnungslose (weil nicht "erlaubte" und nicht "legalisierte") Liebe kann ihm keine echte Inspiration mehr geben, er hört auch mit seiner künstlerischen Aktivität auf. Seine Flucht ins Gesellschaftsleben, sein Bestreben, etwas Großartiges (etwas "Prometheisches") im Interesse der Menschheit zu leisten, scheitert an seinem Bürgerdasein: die adelige Gesellschaft stößt ihn aus ihrem Kreis aus. Auch nach seiner Rückkehr zu Lotte kann er keine Rettung mehr finden. Er will die Ruhe der geliebten Frau, die für ihn als Verkörperung aller Werte erscheint, nicht stören. Er erlebt seine Gefühlsausbrüche vor Lotte - trotz einiger ihrer schüchternen Liebesäußerungen, oder eben ihretwegen - als moralische Niederlage. Mit seinem Genie-Bewusstsein will er aber nicht annehmen, dass er als Mensch und Bürger durch die inneren und äußeren Grenzen besiegt werden kann. Da seine individuelle Disharmonie seinem eigenen Idealbild nicht entspricht (seine Existenz hält er nämlich für den störenden Faktor in der großen Harmonie des Universums), fasst er seine letzte Entscheidung im Namen aller Werte, im Namen der Wiederherstellung der ersehnten "kosmischen Ordnung": er begeht Selbstmord. So kann er für seine empfindsamen und geistig revoltierenden Zeitgenossen "ein gekreuzigter Prometheus"(12) werden: ein nachahmungswürdiges Ideal.

Der Werther-Prometheus-Diskurs wird von dem "klassischen" Goethe immer wieder aufgenommen und neu formuliert, mal direkt (wie z. B. im Gedicht An Werther), mal mit der Ablehnung der radikalen Wertherschen Lösung durch den Versöhnungsakt seiner dramatischen und epischen Helden. Mit Goethes Werther-Diskurs setzt sich also der alte Prometheus-Diskurs fort, mit solcher Intensität im Laufe des ganzen 19. Jahrhunderts, dass auch der heutige Europa-Diskurs über innere und äußere Grenzen der individuellen und kollektiven Integrationsmöglichkeiten ohne ihn kaum zu verstehen wäre.(13) In diesem fortlaufenden Prometheus-Diskurs lassen sich solche Töne immer lauter hören, die der Hoffnung auf die Bewahrung des traditionellen Wertesystems entspringen. Während früher der materielle Fortschritt nämlich der menschlichen Kultur diente, tritt jetzt die Technik selbst als Kultur auf - Technik, die ihrem Wesen nach die inneren Werte in Frage stellt.(14) Eben infolge dieser "Zivilisations- und Wertebeschädigung" können sich in der Prometheus-Symbolik ihre ironisch-skeptischen, sentimental-nostalgischen oder demagogisch-propagandistischen Komponenten verstärken. Unter den narrativen Texten des 20. Jahrhunderts, in welchen wesentliche Komponenten des Prometheus-Diskurses zu entdecken sind, kann als interessantes Beispiel Ulrich Plenzdorfs Werk Die neuen Leiden des jungen W. erwähnt werden.(15)

In Plenzdorfs Roman, wo das "Werthersche" mit dem "Prometheischen" bravourös verbunden ist, wird die alte Diskussion über Individuum und Gesellschaft bzw. über Wertevorstellungen und Wirklichkeitserfahrungen des Menschen zweihundert Jahre nach der Geburt der Werther-Figur, in den 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts, ganz originell weitergeführt: Im Kontext der DDR-Realität erscheinen die brillant montierten (integrierten und parodierten) Werther-Zitate und Allusionen.(16) Plenzdorfs Held, Edgar Wibeau, ist keine bloße Kopie von Goethes Werther, er ist eher ein Anti-Werther: mit seinem Tod beginnt das Werk. Im Vergleich zu Werther wählt der zuerst musterhafte, später aber durch die Perspektivelosigkeit schwer enttäuschte junge ostdeutsche Bürger nicht freiwillig den Tod. Er will sich nicht aufopfern, er will kein Prometheus sein, nicht nur, weil er diese ganze "olle Geschichte" wahrscheinlich nicht kennt, sondern weil "das Feuer", d. h. jede Menge von hohen technischen Errungenschaften der Zivilisation, die Elektroartikel sowie die "echten Blue Jeans", nicht mehr nur für die Westbürger drüben, sondern auch diesseits im Osten (wenn auch ein bisschen schwieriger und nicht immer von derselben Qualität) zu erreichen sind. Sein Tod ist die Ironie des Schicksals (oder logische Folge der geschichtlichen Situation?): "der Arbeitscheue, der Halbmaler, der Spinner"(17), "ein verkanntes Genie" - wie Edgar Wibeau sich nennt (NL 25 und 74), ist ein Gegenpol des Prometheus, er will aber - wie der mythische Held - nach eigenen Plänen, aus eigener Kraft, isoliert von seinem Arbeiterkollektiv (von den Kleingöttern des DDR-Olymps?) etwas Originelles leisten und den elektrischen Strom für sein "nebelloses Farbspritzgerät" besorgen. Er wird infolge dieser "prometheischen" Tätigkeit, eigentlich Basteleien ohne jegliche "Voraussicht", durch einen elektrischen "Blitzschlag" ins Jenseits geschickt. Von dort kommentiert er Vergangenes und Gegenwärtiges mit Ironie und Selbstironie - jetzt schon ganz frei von aller Beschränktheit. Jenseits der irdischen (gesellschaftlich-politischen) Grenzen erreicht er ganz unbewusst den Höhepunkt seines "Bildungsprozesses", dort ist er zum einheitlichen Individuum geworden. Ganz zufällig wird er also zum Repräsentanten eines Daseinzustands, nach dem Werther, Goethes junger Bürger, ganz bewusst und ohne Erfolg strebte und in dessen Namen er freiwillig lieber den Tod wählte.

Die vom Jenseits geäußerte Persönlichkeitsentfaltung, dieses Plenzdorfsche Paradoxon, kann aber von uns als Metapher des widerspruchsvollen DDR-Daseins interpretiert werden. Im Staat, wo Edgar Wibeau zum "mündigen Bürger" heranwachsen sollte, wird im "Jugendgesetz" vorgeschrieben, wie die Jugendlichen zu "sozialistischen Persönlichkeiten" herangebildet werden sollen. Sogar ihre Freizeit muss, wie es in der DDR-Verfassung heißt, "durch gesellschaftliche Erfordernisse beeinflußt und begrenzt"(18) werden. Kein Wunder, dass Edgar, der kluge und empfindliche, aber durch die "gesellschaftlichen Erfordernisse" frustrierte junge DDR-Bürger, ganz unerwartet zu rebellieren beginnt und die Flucht wählt. Er flieht nicht in die "freie Natur" wie Werther, sondern in die Großstadt Berlin (Ostberlin) vor der Bevormundung der Mutter, einer emanzipierten "Karrierefrau". Er flieht ebenso vor dem grenzenlosen autoritären Geist seiner Fachschule, wo das technische Niveau unerträglich begrenzt ist. Edgars Autonomiebestrebungen können aber auch in Berlin nicht verwirklicht werden. Hier lebt er aus Protest (oder als einzige Möglichkeit?) in einem verwüsteten "Paradiesgarten", nicht in einer selbst gebauten Hütte - wie Goethes Prometheus, sondern in einer ihm überlassenen, zum Abbruch bestimmten Bude. Auch hier in Berlin begegnet er zahlreichen Formen der Bevormundung sowohl im Privatleben, in der Liebe als auch in der Malerbrigade. Seine künstlerischen "Ausbruchsversuche" bleiben ebenso ohne Erfolg: die Kunstakademie gibt ihm, dem "verkannten Genie", keine Möglichkeit, sein Talent beweisen zu können und seine Suche nach Vater Wibeau, nach einem zerlumpten, alten Künstler mit aristokratischem Familiennamen und adeligem Hugenottenblut - so lebt er in den Fantasievorstellungen des Sohnes - scheitert an der Realität: Während eines geheimen Besuchs bei seinem Vater begegnet Edgar einem "normalen" Bürger in einem Wohnblock ohne jegliche Spuren der künstlerischen Tätigkeit. (Hier dürfen wir uns Zeus-Assoziationen erlauben: mit dem Anti-Schöpfer Zeus in Goethes Hymne, dem Schlafenden und Nichts-Hörenden, der den Prometheus in Stich lässt.) So bietet sich für Edgar auch beim Vater, der ihn sogar nicht erkennt, keine Identifikationsmöglichkeit. Eben deshalb liebt und verehrt er den alten Arbeiterkollegen Zaremba - vielleicht als eine Art "Ersatzvater", der durch ihn "wie durch Glas" sieht (NL 97) und mit seiner natürlichen Menschlichkeit, Weisheit und Vitalität für ihn etwas Wertvolles verkörpert. So kann man Edgars halb (selb)ironische, halb pathetische Reaktion auf die ihn lobende "Grabrede" verstehen: "Ich und ein wertvoller Mensch. Schiller und Goethe und die, das waren vielleicht wertvolle Menschen. Oder Zaremba." (NL 87)

Zaremba ist übrigens der einzige Mensch, den Edgar mit seinen Werther-Zitaten "nicht aus dem Sattel warf" (NL 99). Diese Werther-Lektüre findet Edgar als Klopapier auf dem Plumpsklo seiner Laube und zitiert daraus ständig, nicht ahnend, dass er den in der DDR "totgefeierten" Klassiker Goethe zitiert. Mit diesem Text, mit seiner "schärfsten Waffe" (NL 82) wollte Edgar zunächst einen schockierenden Effekt erzielen und mit diesem "unmöglichen Stil" (NL 19), mit diesem "Althochdeutsch" (NL 99) - ähnlich wie mit seinem Jugendjargon oder mit seinen "echten Blue Jeans" - die "ordentlichen" DDR-Bürger verblüffen. Erst auf einer späteren Stufe seines "Reifeprozesses", in seinen Kommentaren vom Jenseits, beginnt er sich ganz spontan mit der Werther-Rolle zu identifizieren. Vom "Reclamheft [...] auf dem ollen Klo" (NL 19), das "wirklich kein Schwein lesen konnte" (NL 36), führt aber ein langer Weg über einige positive Äußerungen Edgars zu seiner Schlussfolgerung, d. h. zu seiner inneren Identifikation mit Werther: "Ich war jedenfalls so weit, daß ich Old Werther verstand" (NL 147).

Die gemeinsame Tragödie von Goethes Werther und Plenzdorfs Edgar Wibeau - eine moderne Prometheus-Erfahrung des europäischen Individuums seit der Aufklärungszeit bis zum heutigen Tag - besteht darin, dass ihr Versuch, die Grenzen des menschlichen Daseins überschreiten oder aufheben und dadurch den Sinn des Lebens finden zu können, an bestimmten Hindernissen scheitert. Aber während der Sturm-und-Drang-Werther die alten Idealvorstellungen noch kennt und für die Rettung dieser Werte nicht besiegt werden will, sondern lieber den Tod wählt, lebt der arme, "verspätete" Idealist Wibeau in einer Welt, die dem Talmiglanz von Quasiwerten huldigt, seien sie "das sozialistisches Erziehungsprogramm" oder "echte Blue Jeans". Wenn wir die Prometheus-Analogien weiterführen wollen: Während Goethes Prometheus, ein Sturm-und-Drang-Titan, das Feuer nicht mehr zu rauben braucht, da er es im Herd seiner selbst gebauten Hütte innehat und während er als Menschenschöpfer seine Geschöpfe nach eigenem Bild formt, kann Werther, ein gescheiterter Prometheus, mit seiner Tat nur ein "Werther-Fieber" entflammen und mit seinem blauen Frack bloß eine "Werther-Mode" schaffen. Was Plenzdorfs Held betrifft, nicht ihm folgen die anderen, sondern er folgt mit seinen Blue Jeans der Mode. Er kann sogar sein eigenes Selbst nicht "schöpfen" und eben während seines erbitterten letzten Selbstverwirklichungsversuchs, für sein "nebelloses Farbspritzgerät" die Elektrizität zu holen, wird er wegen seines "unsachgemäßen Umgangs mit elektrischem Strom" - wie seine Todesanzeige am Anfang des Romans mitteilt - des Lebens beraubt und ins Jenseits geschickt. So wird er ganz zufällig zum Allwissenden - wie ein Gott -, kann aber mit seiner Omnipotenz den Menschen nicht helfen, kann mit ihnen in keinen Dialog treten, kann sie nicht "formen". Die Grenzüberschreitung vom Jenseits zum Diesseits gelingt ihm also nicht. Obwohl wir Leser, die von ihm sehr oft als Gesprächspartner ("Leute!") angeredet werden und ihn bereits verstehen können, bleibt er für seine DDR-Welt ein isoliertes, "verkanntes Genie".

Eine utopischere Umdeutung des "Prometheischen" präsentiert uns die DDR-Literatur mit Volker Brauns Prometheus-Gedicht (1967)(19). Dieser Text greift mit seinen Strukturelementen ganz eindeutig auf Goethes Prometheus-Hymne zurück ("Dunst", "Herd", "Feuer", "Himmel", "Erde", "Zeit", "Hoffnung", "Vertrauen" u.a.), das "Prometheische" verlässt hier aber die mythischen Traditionen, wird transformiert ins "Menschliche": Die Menschen tragen hier das Feuer in den Himmel, um "bedroht, aber nicht gedrillt" nicht nur die "blinde Hoffnung", sondern auch das "Widerstrahlen des Tages" erfahren zu können.

Zum Schluss werden wir noch zwei Gedichte von den zahlreichen Reflexionen des späten 20. Jahrhunderts über Prometheus auswählen, die wieder auf Goethes Hymne reagieren, skeptisch und ironisch, von Goethes aufklärerischen Ideen völlig distanziert. Das Gemeinsame in Hans-Ulrich Treichels Prometheus (1986)(20) und Thomas Wolbers An Prometheus (1990)(21) besteht darin, dass beide Gedichte - den Traditionen gegenüber - die große Diskrepanz zwischen Prometheus und Menschen formulieren, aber unter ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten der lyrischen Subjekte. In Treichels Text äußert sich das Prometheus-Ich von oben, aus der Ferne, aus einer frei gewählten Selbstisolation von "menschlichen Geschäften" als kritischer und leidender Beobachter "blutroter Landschaften" auf der Erde. Wolbers Gedicht An Prometheus dagegen enthält einen gegen die prometheische Leistung revoltierenden Monolog ("Ich dich ehren? Wofür?"), eine apokalyptische Vision des Menschen, dessen Frieden durch die Tat des Prometheus geraubt worden ist und auf dessen Erde "der alles versengende Weltenbrand" wartet.

Dass das "Prometheische" als "Verbindendes" in der europäischen Kultur seine Aktualität bis heute bewahrt hat, brauchen wir in unseren Tagen mit weiteren literarischen Beispielen nicht mehr zu beweisen. Zum Schluss also erlauben Sie mir zu Gadamers Gedanken (1946) zurückzukehren: "[...] die Geschichte von Prometheus scheint mir so wenig zu Ende, wie die Geschichte des Menschen. [...] Auch die Erfahrung der heutigen Menschheit beginnt die Grenzen des modernen menschlichen Selbstbewußtseins zu fühlen."(22)

© Márta Harmat (Szeged)


ANMERKUNGEN

(1) Hans-Georg Gadamer: Prometheus und die Tragödie der Kultur. In: Gadamer: Kleine Schriften. Tübingen 1967-1977, Bd. 2, S. 73.

(2) Vgl. Edgar Pankow/Günter Peters (Hrsg.): Prometheus. Mythos der Kultur. München: Wilhelm Fink Verlag 1999, 248 S.

(3) Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur, 7. Auflage. Stuttgart: Kröner Verlag 1988, S. 622.

(4) Ebenda S. 622-623.

(5) Ebenda S. 622-627 siehe eine reichhaltige Aufzählung der Stoffbearbeitungen des Prometheus-Mythos mit Interpretationen.

(6) Renate Böschenstein: Poetische Sprache als psychohistorisches Dokument. In: Edgar Pankow/Günter Peters (Hrsg.): Prometheus. Mythos der Kultur. München: Wilhelm Fink Verlag 1999, S. 85-86.

(7) David E. Wellbery: Die Form der Autonomie. Goethes Prometheus-Ode. In: Ebenda S. 109-123.

(8) Johann Wolfgang Goethe: Prometheus. In: Goethes Werke in zwei Bänden, Erster Band. München: Droemersche Verlagsanstalt 1953, S. 114-115.

(9) Ebenda S. 115.

(10) Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther. 11. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1991. - Künftig wird mit der Sigle W und Seitenzahl zitiert.

(11) Zitiert nach Renate Böschenstein, a.a.O. S. 99.

(12) So nennt ihn Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792). - Vgl. Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts. Zweiter Band: Interpretation und Dokumentation. München: Wilhelm Fink Verlag 1979, S. 313.

(13) Vgl. Márta Harmat: Neue Grenzen des Daseins in der Mitte Europas. Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. In: Wulf Segebrecht.... (Hrsg.): Europa in den europäischen Literaturen der Gegenwart. Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften 2003, S. 357-365.

(14) Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. München/Wien 1977; Kurt Möser: Zwischen Begeisterung und Verweigerung. Zur Verarbeitung von Technik und Industrie in der deutschen Literatur. LTA-Forschung. Mannheim 1994; Márta Harmat: Eisenbahnen - Zivilisationskritik und Kulturskepsis in Anna Karenina und Effi Briest. In: Wulf Segebrecht (Hrsg.): Europavisionen im 19. Jahrhundert. Vorstellungen von Europa in Literatur und Kunst, Geschichte und Philosophie. Würzburg: Ergon Verlag 1999, S. 190-198.

(15) In der Fachliteratur habe ich keine Berufungen auf Plenzdorfs Werk im Kontext des Prometheus-Mythos gefunden.

(16) Siehe auch Márta Harmat: Neue Grenzen des Daseins in der Mitte Europas. Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. In: Wulf Segebrecht...(Hrsg.): Europa in den europäischen Literaturen der Gegenwart. Peter Lang Europäischer Verlag der Wissenschaften 2003, S. 357-365.

(17) Ulrich Plenzdorf: Die neuen Leiden des jungen W. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1973, S. 71. - Künftig wird mit der Sigle NL und Seitenzahl zitiert.

(18) Zitiert nach Manfred Eisenbeis: Lektürehilfen Ulrich Plenzdorf "Die neuen Leiden des jungen W.". 6. Auflage. Stuttgart Düsseldorf Leipzig: Ernst Klett Verlag 1997, S. 60.

(19) Volker Braun: Prometheus 8. In: Lyrik der DDR. Zusammengestellt von Uwe Berger und Günther Deicke. Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag 1984, S. 341-342.

(20) Hans-Ulrich Treichel: Prometheus. In: Liebe Not. Gedichte. Frankfurt/M. 1986, S.77. - Zur Interpretation des Gedichts siehe Winfried Freund: Deutsche Lyrik. Interpretationen vom Barock bis zur Gegenwart. München: Fink 1990, S. 210-216.

(21) Thomas Wolber: An Prometheus. In: Deutschsprachige Autoren in Nordamerika. Gedichte, gesammelt und eingeleitet von Lisa Kahn. Freeman: Pine Hill Press 1990, S. 53. - Siehe dazu: Werner Biechele: Umfang und grenzen der Vernunft. Vom Spiel mit dem Prometheus-Mythos in der neueren deutschsprachigen Literatur. In: Wolfgang Stellmacher/László Tarnói (Hrsg.): Goethe. Vorgaben. Zugänge. Wirkungen. Frankfurt am Main: Peter Lang 2000, S. 410-411.

(22) Hans-Georg Gadamer: Prometheus und die Tragödie der Kultur. In: Gadamer: Kleine Schriften. Tübingen 1967-1977, Bd. 2, S. 73.


5.12. Narration in Literature and Writing History

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For quotation purposes:
Márta Harmat (Szeged): Das "Prometheische" als das Verbindende in der deutschen Literatur des 18.-20. Jahrhunderts. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_12/harmat15.htm

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