Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. September 2004
 

5.13. Geschlecht und Nation: Narrative kollektiver Identitäten
Andrea Horváth (Debrecen / Ungarn) / Eszter Pabis (Debrecen)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Inszenierte Weiblichkeit in Wedekinds Lulu

Orsolya Graf (Universität Debrecen/Ungarn)

 

Abstract

Frank Wedekinds Werk Lulu ist ein Meisterwerk des 20. Jahrhunderts. In den Lulu-Dramen sind die Mythen des Weiblichen verarbeitet. Lulu bezeichnet den Sprung des Mythos in die Zivilisation. Nach dem Willen des Autors soll Lulu "natürlich" und "ursprünglich" sein. Selbstverständlichkeit, Ursprünglichkeit, Kindlichkeit hatten mir bei der Zeichnung der weiblichen Hauptfigur als maßgebliche Begriffe vorgeschwebt. Und was hatte ich vor den Augen? Lulu war raffiniert. Die Mode von 1904, Lulu war Salome. - schreibt Wedekind. Lulu wird einerseits zum Mythos dessen, was die männlichen Figuren in ihr sehen, andererseits ist sie konstituiert als eine Gestalt, die diese Bilder immer wieder zerstört, indem sie die eigene Imago abwirft, um eine neue anzunehmen. Lulu wird als eine Frau gezeigt, die schließlich zur Prostituierten wird. Sie wird das Opfer eines Lustmörders. Damit ist des Autors Ideal einer ursprünglichen Weiblichkeit gebrochen.

 

Zu der Zeit, da Karl Scheffler, Georg Simmel und Max Scheler ihre "Diskussion ums Weib führten, erscheint eine Kunstfigur auf der Bühne. Das ist Lulu. Sie bezeichnet den Sprung des Mythos in die Zivilisation. Sie ist ein Findelkind des 20. Jahrhunderts. Nach dem Willen des Autors soll Lulu "natürlich" und "ursprünglich" sein. Sie soll Beispiel dafür sein, wie ein Weib aussehen soll. Ein Kunstgriff des Autors ist, dass im Stück außer Schigolch niemand weiß, woher Lulu gekommen ist, bevor sie von der Straße auflesen wird. Schigolch wahrt aber das Geheimnis.

Lulus ursprüngliche Weiblichkeit soll sich gegen die kulturellen Bilder des Weiblichen durchsetzen, obwohl sie es gleichzeitig repräsentiert. Lulu ist nicht nur Figur, sondern auch Figurträgerin. Wenn sie ihre "Pandora-Büchse" öffnet, stürzen sich die bedrohlichen Ausgeburten männlicher Weiblichkeitsphantasien auf das Publikum und auf die Männer im Stück.(1)

Mit der Substantialisierung des Weiblichen zu einem Natürlichen und Ursprünglichen entstehen für den Dramatiker Probleme: Nicht nur, dass nun etwas ganz Geschichtsloses und Undifferenziertes, aller kulturellen Bildtradition Beraubtes die Bühne betritt, dort sprechen und agieren soll, sondern gerade aufgrund der Abstraktheit und Allgemeinheit solcher Bestimmungen kann die Figur jede Interpretation auf sich aufnehmen.

Selbstverständlichkeit, Ursprünglichkeit, Kindlichkeit hatten mir bei der Zeichnung der weiblichen Hauptfigur als maßgebliche Begriffe vorgeschwebt. Und was hatte ich vor Augen? Lulu war raffiniert. Die Mode von 1904, Lulu war Salome, schreibt Wedekind. Seine Unzufriedenheit mit den Darstellungsweisen seiner Lulu-Figur mag auch darin ihre Ursache gehabt haben, dass es recht schwierig ist, "Natürlichkeit" und "Ursprünglichkeit" auf der Basis des gegebenen Textes und Handlungsablaufes zu vermitteln. Die Assoziation zur femme fatale, zur Jugendstil-Frau, die Assoziation zu Salome, ist mit dem Text nicht unverträglich. Lulu konnte Salome werden in dem Maße, wie das Drama ein Projektionsfeld für Weiblichkeit ist. Wedekinds Begriff von Natürlichkeit meint auch die Negation all dessen, was der Frau der Zeit Natur wurde und beständig für ihre erste gehalten wird.

Es gibt eine positive Vorstellung von Natur, die die Möglichkeit uneingeschränkter Entfaltung vitaler und individueller Kräfte einschließt. Lulus "Natur" wird deutlich abgesetzt von den rohen Kraftakten des Gewaltmenschen Rodrigo. Es handelt sich eher um Variationen der neuromantischen Sehnsucht nach Aussöhnung von Körper und Geist.

Das Motiv der Erziehung zu "Natürlichkeit" taucht in den Wedekindschen Arbeiten immer wieder auf. Als Beispiel können wir Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen erwähnen. In diesem Werk gibt er die minutiöse Beschreibung eines Erziehungsprogramms. Im Drama Fritz Schwiegerling (Der Liebestrank) vergleicht Wedekind die Erziehung junger Knaben mit der Dressur von Zirkuspferden:

"Im Zirkus hat man andere Begriffe von Erziehung. Das Tier muss seinen Stolz dareinsetzen hinüberzukommen, mit Anmut, mit Sicherheit über jedes erdenkliche Hindernis. Ich löse die Glieder, damit der Geist sie durchlebt, damit Freiheit und Freude durch jede Ader zittert, bis die Faszination in hellen Funken aus den Augen sprüht."(2)

Ähnliche Worte legt der Autor Lulu in den Mund, wenn sie ihre Empfindungen beim Tanz beschreibt. Erziehung soll Veredlung sein mit den Mitteln des Tanzes, der Artistik, der Körperbeherrschung.

In Mine-Hahas Internat lernen die Mädchen vor allem "artifizielle Natürlichkeit". Laut Bovenschen könnte Lulu als ein Ergebnis solcher Erziehung gedacht sein, ihre kulturhistorische Herkunft wäre dann geklärt. Sie wäre ein künstliches Produkt der Lebensreform. Frank Rothe hat darauf hingewiesen, dass das Jugendstil-Motiv der Ästhetisierung der Natur und der Naturalisierung der Kunst auf einer anderen Ebene angesiedelt ist als die klassisch-idealistische Natur-Kunst-Relation. Natur bezeichnet hier das Prinzip besonderer Individualität. "Der Rückgriff auf Natur ist dem Jugendstil unproblematisch und ohne Gefahr möglich, weil schon die menschliche Natur als individualisiert angesehen wird. Lebensreform bedeutet daher ein 'Wachsenlassen' der vorgefundenen Individualität. Die Einheit von Geist und Seele wird in der Natur gesucht, so dass der Jugendstil im Kult des Körpers auch den reinsten Ausdruck der Innerlichkeit verehren kann"(3). Diese ästhetisierte Natürlichkeit, durch die die Lulu-Figur konzeptionell bestimmt ist, konvergiert jedoch mit den ergänzenden Bestimmungen des Weiblichen, für die sie im Stück gleichfalls als Symbolträgerin hinhalten muss.

In den Lulu-Dramen sind die Mythen des Weiblichen verarbeitet. Die Gegensätzlichkeit der Interpretationen, die ihnen zuteil wurden, hat ihren Grund in der Offenheit des Stückes. Es kann die unterschiedlichsten projizierten Weiblichkeitsentwürfe in sich aufnehmen. Lulus Wesen und Symbolgehalt ist häufig noch einmal nachvollziehbar dadurch, was die im Stück auftretenden Männer unablässig und mit wechselndem Resultat tun. In der Offenheit der Lulu-Dramen für die divergenten Bestimmungen der Weiblichkeit liegt nicht ihre Schwäche, sondern eine spezifische Qualität. Die Mystifikationen des Weiblichen können von den im Stück agierenden Männern, aber auch von den Männern am Regiepult und im Parkett in die Lulu-Figur hineininterpretiert werden. Insofern ist Wedekind ein Interpret von vielen, wenn er den Darstellerinnen der Lulu "Ursprünglichkeit" und "Natürlichkeit" abverlangt.

Die Lulu-Gestalt hat nicht nur viele Gesichter, sie hat auch viele dramaturgische Eigenschaften:

Die Lulu-Figur kann weder einzig unter dem Aspekt ihrer dramaturgischen Funktionen im Handlungsablauf noch lediglich unter dem der verschiedenen im Stück angesiedelten Topoi des Weiblichen hinreichend verstanden werden. Vielmehr liegt das Faszinierende dieser Gestalt gerade in dem Verhältnis, in dem diese beiden Momente zueinander stehen: "die Lulu-Figur [zeigt] ein zwitterhaftes Wesen, eine Mischung aus gesellschaftsstückhaften und symbolischen Elementen."(5) So wird Lulu einerseits zum Mythos dessen, was die männlichen Figuren in ihr sehen, andererseits ist sie konstruiert als eine Gestalt, die diese Bilder immer wieder zerstört, indem sie die eine Imago abwirft, um eine neue anzunehmen: Lulus gefährlicher Tanz in der schwindelerregenden Höhe der Projektionen.

Die Männer nehmen in Lulu lediglich die Spiegelbilder ihrer Weiblichkeitsvorstellungen wahr. Die Katastrophen setzen ein, wenn sich das Bild, das sie sich jeweils von Lulu gemacht haben, mit dem Handeln und der Erscheinungsform dieser Figur nicht mehr deckt, weil sie in eine neue Rolle geschlüpft ist. Der Selbstmord Schwarzens ist grotesk. Er tötet sich, weil er mit einer Wahrheit konfrontiert ist, die ihm Lulu lange zuvor schon bedeutet hatte. Sie nannte ihm ihren ursprünglichen Namen. Die Männer lieben eine Mignon, eine Eva, eine Nelli - Namen, die für die verschiedenen Attraktivitäten des Weiblichen stehen. Eine Lulu ist ihnen, obgleich sie sie zu ihrem Eigentum gemacht haben, nicht bekannt:

"SCHWARZ Wer denn?
SCHÖN Wer denn? - Deine Frau.
SCHWARZ Eva??
SCHÖN Ich nannte sie Mignon.
SCHWARZ Ich meinte, sie heiße Nelli?
SCHÖN So nannte sie Dr. Goll.
SCHWARZ Ich nannte sie Eva
SCHÖN Wie sie eigentlich hieß, weiß ich nicht.
SCHWARZ (geistesabweichend) Sie weiß es vielleicht."(6)

Schwarz hat in diesem Dialog den ursprünglichen Namen von Lulu ignoriert, obwohl er es erfahren hat. Das "allgemeine Prinzip Weib" hat viele Namen.

Dem Autor gelingt es, einen Vorgang in Szene zu setzen, der in der Tat die Struktur der Wiederholung und der Geschichtslosigkeit in sich trägt: die ewige Projektion des "ewig Weiblichen". Lulu spielt die ihr zugewiesenen Rollen, aber - und das macht sie zu einer lebendigen Bühnenfigur - sie spielt mit ihnen:

"LULU Wenn ich mich nicht besser aufs Theaterspielen verstände, als man auf der Bühne spielt, was hätte aus mir werden sollen?"(7)

Diese Frage weist über den Rahmen des Dramas hinaus. Die Schwierigkeit der Lulu-Darstellung ist darin begründet, dass die jeweilige Schauspielerin nicht nur die Rolle der Lulu spielen muss, sondern ein ganzes Set von Rollen, die Lulu im Stück vorspielt. Lulu selbst kann das nicht ausmachen, ihr "ursprünglicher" Name ist Lulu, der "wie eine atavistische, vormenschliche Lautbildung" klingt und auch ihr merkwürdig geschichtslos erscheint.

Lulu ist bloß Objekt im Besitz von häufig wechselnden Personen, so lässt sich eine eigenständige Qualität substantiell für sie nur aus ihrem vorgeschichtlich-mythologischen Ursprung denken: aus dem Dunkel, von wo sie gemeinsam mit ihrem Vater-Gefährten Schigolch in die bürgerlichen Häuser gekommen war.

Wedekind motiviert mit den jeweiligen der Lulu oktroyierten Rollen die Ausbrüche der Lulu und deren katastrophale Folgen. Diese Konstellation entspricht in hohem Maße der Simmelschen Beschreibung der beiden konfligierenden, vom Mann an das Weib gerichteten Ansprüche, deren Unverträglichkeit seiner Meinung nach, die "Tragödie der Geschlechter" ausmacht: Da sind einerseits die jeweiligen Ergänzungsbestimmungen, die Rollen, und da ist andererseits, wenn man diese Rollen abzieht, die Frau.

Während sich Lulu in ihr jeweiliges Rollenschicksal scheinbar fügt, soll sie doch allemal des Autors Ideal von "Ursprünglichkeit" und "Natürlichkeit" bleiben, ein Ideal, das sowohl Widerstand gegen die genormten Geschlechterbestimmungen anzeigt, als auch einer damals virulenten und von Simmel auf den Begriff gebrachten Vorstellung vom Phänomen des Weiblichen entspricht. Diese Momente überlappen sich ständig, deswegen ist die Analyse schwierig. Lulu ist

Sie wird aber auch gezeigt als eine Frau, die sich, um zu überleben, immer wieder in den Besitz von Männern zwingen lässt, gegen die sie dann ihre vermeintliche Selbständigkeit zu behaupten sucht.

Nach Bovenschen hat das "Naturwesen" Frau in bürgerlicher Zeit zwei oberflächliche Vergesellschaftungen erfahren:

  1. die Domestizierung zur Frau
  2. die Domestizierung zur Dirne.

Diese beiden Typen stehen karg dem Reichtum der weiblichen Idealtypen gegenüber, der auf sie zurückschlägt, wenn z.B. der einzelne Mann von der einzelnen Frau verlangt, dass sie ihm Geliebte, Kameradin, Vamp und Mutter zugleich sein solle, wenn er sie also mit den durch die verschiedenen Medien vorgegebenen Weiblichkeitsimagines vergleicht und die daraus notwendig resultierende Enttäuschung ihr ankreidet.(8) Lulu nähert sich dem einen Gebrauchstypus nicht an und das ist die einzig positiv sanktionierte "Rolle" des Weiblichen, die der Hausfrau und Mutter. Lulu hält es für "einen schlechten Witz", ein Kind zu bekommen. Sie wird aber dafür zunehmend in die Reichweite des anderen Typus - der Prostituierten - gedrängt.

Schließlich muss sie ihr Leben doch kommerzialisieren. Das Alltagsschicksal der Frauen widerfährt auch Lulu mit der mythischen Herkunft. Sie wählt den zweiten Weg und wird zur Prostituierten. Und diesmal ereilt die Katastrophe sie selbst. Sie wird das Opfer des Lustmörders Jack the Ripper. Ihr Widerstand ist gebrochen und damit auch des Autors Ideal einer ursprünglichen Weiblichkeit.

© Orsolya Graf (Universität Debrecen/Ungarn)


ANMERKUNGEN

(1) Bovenschen, Silvia: "Inszenierung inszenierter Weiblichkeit: Wedekinds Lulu- paradigmatisch". In: S.B.: Die imaginierte Weiblichkeit: Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979, S.43-59.

(2) Wedekind, Frank: Fritz Schwiegerling. in: F.W.: Gesammelte Werke, Bd. 2, München/ Leipzig 1912, S.192.

(3) Rothe, Friedrich: Frank Wedekinds Dramen, Stuttgart 1968, S.78.

(4) Bovenschen, 1979, S.51.

(5) Rothe, 1968, S.50.

(6) Wedekind, Frank: Der Erdgeist. In: F.W.: Gesammelte Werke in zehn Bänden, Bd. 3., Bamberg: Universitätsverlag, 2003, S.52.

(7) Wedekind, Der Erdgeist, S.44.

(8) Bovenschen, 1979, S.53.


LITERATURVERZEICHNIS

1. Bovenschen, Silvia: Imaginierte Weiblichkeit: exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen . Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979

2. Rothe, Friedrich: Frank Wedekinds Dramen, Stuttgart 1968

3. Wedekind, Frank: Fritz Schwiegerling. in: F.W.: Gesammelte Werke, Bd. 2, München/ Leipzig 1912

4. Wedekind, Frank: Der Erdgeist. In: F.W.: Gesammelte Werke in zehn Bänden, Bd. 3., Bamberg: Universitätsverlag, 2003

5. Wedekind, Frank: Lulu


5.13. Geschlecht und Nation: Narrative kollektiver Identitäten

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Orsolya Graf (Universität Debrecen/Ungarn): Inszenierte Weiblichkeit in Wedekinds Lulu. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_13/graf15.htm

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