Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. November 2005
 

5.13. Geschlecht und Nation: Narrative kollektiver Identitäten
HerausgeberInnen | Editors | Éditeurs: Andrea Horváth (Debrecen / Ungarn) / Eszter Pabis (Debrecen)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Gender als Analysekategorie der Kulturwissenschaft

Andrea Horváth (Universität Debrecen/Ungarn)
[BIO]

 

Für die Kulturwissenschaft ist die Gender-Kategorie als analytische Kategorie besonders produktiv, weil sie zentrale Arbeitsfelder neu perspektivieren bzw. eröffnen kann. Seit dem Ende der 1970er Jahre, nach den akademischen Debatten in den USA und in Frankreich kam der kulturwissenschaftliche Perspektivenwechsel in der Germanistik, und die feministische Literaturwissenschaft nimmt nun eine wichtige Rolle ein.(1) Die neue Kategorie hat nicht nur einzelne Gegenstände oder Methoden des Faches kritisiert, sondern zentrale Ordnungskategorien traditioneller Literaturwissenschaft problematisiert. Den Leitbegriffen der klassischen Literaturgeschichtsschreibung, Autor und Werk, sind feministische Literaturwissenschaftlerinnen mit Skepsis begegnet, sie waren in Bezug auf die Geschlechter nur scheinbar neutral.(2) Genie und schöpferischer Geist werden in der Geschichte fast ausschließlich männlich präsentiert, deshalb hat die feministische Literaturwissenschaft Institutionen kritischbetrachtet, als sie deren Einbettung in kulturelle Ordnungsmuster offen legte, die den Ausschluss von Frauen aus der kulturellen Macht und Produktivität betrieben haben.(3) Es wurde versucht, das Verhältnis von Weiblichkeit und Literatur bzw. Kunst in der Geschichte zu untersuchen, aber die verdrängten Spuren einer weiblichen Kulturtradition waren nur teilweise rekonstruierbar. Der kritisierten hegemonialen Kulturgeschichtsschreibung konnte nicht einfach eine weibliche Gegenkultur entgegengesetzt werden.(4)

Kultur und Geschlecht sind vielleicht gar nicht zu trennende Begriffe, was die Untersuchungen betrifft. Während die Frage nach dem Verhältnis der Geschlechter erst durch den Wiederbeginn der Frauenbewegung (Ende der 1960er Jahre) und aufgrund der Ergebnisse der Frauenforschung zu einem wissenschaftlichen Thema gemacht werden konnte, kann das Konzept der 'Kulturwissenschaft' in Deutschland auf eine längere Entwicklungslinie zurückgeführt werden. In den letzten Jahren verweist die 'kulturelle Wende' auf bestimmte historisch-theoretische Konstellationen, innerhalb deren sich beide Konzepte entfalten konnten. In beiden Bereichen stehen Aspekte im Vordergrund, die mit der Auflösung von Grenzziehungen zusammenhängen. Kulturwissenschaft und Geschlechterforschung postulierten gleichermaßen eine Überschreitung traditioneller Disziplingrenzen, die andere Formen der Wissenschaftsproduktion herausgefordert hat.(5) Die aus dem anglo-amerikanischen Raum stammende Unterscheidung zwischen sex und gender hat auch in der Kulturwissenschaft ein erneutes Nachdenken über die Trennung von Natur und Kultur mitgebracht. Schliesslich haben die Entgrenzungen des Textbegriffs, 'Kultur als Text'(6) nicht nur die Fragen der Repräsentation, sondern auch Vorstellungen über die 'Lesbarkeit des Körpers'(7) in den Vordergrund gestellt.

Diese Aspekte haben im Rahmen der Geschlechterforschung zu Diskussionen geführt, anschliessend stellt sich die Frage, inwieweit Prämissen der Geschlechterforschung mit den methodologischen Grundlagen der Kulturwissenschaften übereinstimmen, einander widersprechen oder unvereinbar sind.

Die Grundannahmen der Geschlechterforschung und die theoretischen Argumentationen sind mittlerweile in zahlreichen Einführungen und Sammelbänden dokumentiert worden. Auf dem deutschsprachigen Gebiet ist erst seit kurzer Zeit ein immer größeres akademisches Interesse an der Forschung zu erkennen. Die ersten Arbeiten wurden aus Forschungsstudien anderer europäischer Ländern und den USA übersetzt. Trotz der Übersetzungen hat sich der englische Begriff gender als Analysekategorie auch im deutschsprachigen Raum weitgehend etabliert, weil die mit ihm bezeichnete kulturelle Konstruktivität von Geschlecht schwer zu übersetzen ist. 'Geschlecht' wie 'Weiblichkeit' ruft im Deutschen noch immer biologistische Assoziationen hervor, und in diesen Debatten wird eben versucht, die Abhängigkeit bestimmter Vorstellungen von Geschlecht und Körper von kulturellen Zeichen zu vermeiden.

Mit der Akzentverlagerung von women auf gender sind in den 1990er Jahren Referenzkategorien losgelöst worden, auf die sich noch die ältere Frauenforschung bezogen hat, indem Beauvoirs berühmte Formulierung "das andere Geschlecht" zum Ausgangspunkt feministischer Ideologie- und Wissenschaftskritik gemacht wurde.

Die größte Verschiebung in den Diskussionen wurde durch das 1991 in Deutsch erschienene Buchs Judith Butlers Das Unbehagen der Geschlechter ausgelöst, das die Leserschaft stark polarisierte. Butler hat das eigene politische und kulturelle Handeln an ein "Subjekt Frau", an ein "Subjekt des Feminismus" und auch an einem festen Begriff von "Weiblichkeit" zu vermeiden versucht. Solange man an derartigen Vorstellungen festhält, bleibt man bei einem Repräsentationsdenken, in dem das Weibliche auf eine dem Diskurs scheinbar vorgängige Natur betrieben wurde.(8) Damit schreibt sie auch gegen die Unterscheidung von biologischem (sex) und sozialem (gender) Geschlecht, weil beide Ausdrücke problematisch seien, als ob es vor den kulturellen Diskursen und Symbolisierungen eine davon unberührte Natur, ein seiner selbst gewisses Subjekt geben würde.

Die Opposition von Natur und Kultur sowie des Subjektbegriffs wurde schon in poststrukturalistischen Ansätzen in Frage gestellt, die die feministische Literaturwissenschaft immer wieder formuliert hat. Der dekonstruktive Feminismus hat sich mit sprachlichen Operationen beschäftigt, die die Illusion einer der Kultur vorgängigen ursprünglichen Natur erzeugen, und so stellt sich die Opposition als ideologisches Konstrukt(9) aus. So wird die Opposition hierarchisiert, Kultur wird der anderen (Natur) gegenüber privilegiert. In Bezug auf die Geschlechterforschung manifestierte sich dies etwa in der Idealisierung des Weiblichen.

Die feministische Dekonstruktion richtet ihren Blick neben der kritischen (Re-)Lektüre kanonischer, meistens von Männern verfasster Texte, auf eine 'andere' Produktivität. Écriture féminine oder parler femme, von den französischen Theoretikerinnen Hélène Cixous, Luce Irigaray und Julia Kristeva inspiriert, verwiesen vielmehr auf eine Praxis mit Sprache umzugehen, die häufig als weiblich gekennzeichnet wird. In diesen Tendenzen geht es um den Körper, um die Frage nach einer weiblichen Ästhetik, die die Lautlichkeit und den Schriftcharakter des Signifikanten, den Rhythmus, den Klang und die Musikalität im Text betonen, und plädieren für die Freisetzung einer Körperlichkeit, die in der patriarchalen Kultur nicht artikuliert werden konnte.(10)

Die Ansätze des Dekonstruktiven Feminismus entwickelten sich in der Folge von Lektüren von Jacques Derrida, Paul de Man oder Jacques Lacan, und rückten die Rhetorizität von Subjektivität und (Geschlechts-) Identität in den Mittelpunkt, während jegliche Referenz auf (weibliche) Körpererfahrung oder sozio-politische Aspekte der Geschlechterdifferenz vermieden wurde.(11) Das bedeutete aber eine notwendige Differenzierung, die Funktionsweise von Bezeichnungsprozessen wurde immer mehr von den traditionellen Kategorien von Männlichkeit und Weiblichkeit gelöst, die nur mehr als dekonstruierbare Bedeutungseffekte erschienen.

Dies führte zu einer Abspaltung in der feministischen Forschung, die sich vermehrt mit empirischen und politischen Fragen beschäftigt hat. Die literaturwissenschaftliche und die sozialwissenschaftliche Frauenforschung haben sich immer mehr voneinander distanziert, dies zeichnete sich auch in literaturwissenschaftlichen Theoriedebatten ab, die in der Untersuchung von Texten meist von Autorinnen biographische und sozialgeschichtliche Kontexte rekonstruierten.

Butlers Bedeutung in der deutschen Gender-Forschung besteht darin, dass sie Theoreme zur Verfügung gestellt hat, die die Kluft zwischen Aspekten beider feministischen Perspektiven zu überwinden ermöglichte, ohne dass weibliche Realität und Zeichenpraxis gleichgesetzt werden sollten. Butler weitet den problematisierten Zeichenbegriff kultursemiotisch aus und richtet sich auf soziale Praktiken und Symbole sowie verschiedene Medien und Technologien der Macht.(12) Die Handlungsfähigkeit des Subjekts erscheint nicht als eine vorsprachliche Gegebenheit, die als solche freigesetzt werden könnte, sondern als ihrerseits durch Bezeichnungspraktiken entstandene Möglichkeit im Schnittpunkt kultureller Diskurse.(13) Diese von Foucault beeinflusste Konzeptualisierung des Subjekts ermöglicht nach dem Zusammenhang von Zeichenprozessen und Macht- und Gewaltverhältnissen zu fragen. Mit dem Blick auf die Symbolisierungspraktiken wird deutlich, dass diese durch abweichende und parodierende Wiederholung subvertiert werden können . Daraus resultiert eine Ideologiekritik, bei der Kultur als Bühne performativer Inszenierungen von Identitäten und D ifferenzen erscheint.

Die kulturelle Performativität hat viele grenz-und disziplinüberschreitende Studien provoziert, die sich laut Bischoff fünf Analysefeldern zuordnen lassen, in denen die germanistischen Gender-Studien mit kulturwissenschaftlichen Fragen eng verbunden sind.

Als erstes könnte das Interesse für den Bereich von Alltagsdingen und -praktiken, für Populärkultur und Massenmedien genannt werden, die in ihrer Funktion kultureller Sinnstiftung nicht mehr grundsätzlich von Kunstwerken und Kunstbetrieb unterschieden werden. Aus dieser Perspektive der Gender-Forschung hat es sich zu dem traditionell weiblich konnotierten Bereich des Häuslich-Privaten hingewendet, den die Frauenforschung zum literaturfähigen Ort erklärt hatte.(14)

Innerhalb des von Männern dominierten Bereichs öffentlicher Kultur stellten die Differenzen von Hoch- und Populärkultur keine feministische Perspektive. Die Differenz liegt zwischen trivialen und anspruchsvollen Kulturzeugnissen, die in der Geschichte zu meist mit der Unterscheidung von weiblichem und männlichem Kunstschaffen gleichgesetzt werden. In den neuen Debatten wird danach gefragt, welche Themen, Formen und Gattungen in den literarischen Kanon eingehen konnten und wie diese gegenüber weniger angesehenen Schreibweisen abgegrenzt wurden.

So wird das Analysefeld auf die Frage nach den historischen Möglichkeiten literarischer Produktivität für Frauen, die auf Diskurse über Geschlechterdifferenz zurückbezogen werden, ausgedehnt. In den von Frauen verfassten Texten wird untersucht, inwiefern in den traditionell als "typisch" weiblich klassifizierten Formen und Gattungen, wie Briefen, Briefromanen oder in Reiseliteratur, die Zuordnung von Genre und Geschlecht bestätigt oder gebrochen wird. Mit der kritischen Analyse von Gattungskonzepten ist die Problematisierung von Autorschaft verknüpft, deren zentrale Bedeutung im Rahmen kulturwissenschaftlichen Studien allgemein relativiert wird.(15)

Als zweites Analysefeld haben die Gender-Studien dazu beigetragen, dass Kultur nicht mehr als monotolisches, durch wenige Leitdifferenzen strukturiertes Gebilde betrachtet wird, sondern als ein vielschichtiges Ensemble von Diskursen, die einander überkreuzen und auseinander laufen, ohne ein kohärentes Ganzes zu bilden.(16) Ausgehend von der Kritik an der Differenz von Männlichkeit und Weiblichkeit hat die Gender-Forschung erreicht, anstelle dieser einen Unterscheidung die Vielfalt von Differenzen zu betrachten. Das Interesse der Kulturwissenschaft für postkoloniale Perspektiven zeigte sich in den feministischen Debatten, als schwarze Frauen bzw. Frauen aus anderen Kulturen den Ausschließlichkeitsanspruch kritisierten, mit dem weiße, mitteleuropäische und amerikanische Frauen propagierten. Durch eine konsequente Kritik an patriarchalen Repräsentationsmustern tritt Ethnizität neben die Kategorie gender, wobei betont wird, dass hier nicht bloß die Zahl möglicher Identitätsbestimmungen erweitert wird.

Der Versuch geht nicht darum, die Vielfalt der Identitäten durch möglichst viele Kategorien zu erfassen, sondern sie als Ereignis innerhalb eines kulturellen Feldes, in dem Identifizierungen und Unterscheidungen kontinuierlich stattfinden, zu begreifen, ohne dauerhaft gesichert oder verallgemeinert zu werden. Identität erscheint damit als jeweils auf Unterscheidungen und Ausgrenzungen beruhend, zugleich aber auch selbst von diesen gezeichnet. In postkolonialen Theorien ist der Begriff der Hybridität bedeutend geworden, der die Brüche und Diskontinuitäten in Identitätsentwürfen bezeichnet. Diese Vorstellung kann auch auf die Kategorie Geschlecht übertragen werden, besonders dort wo Phänomene der Bi-, Homo- oder Transsexualität in den Blick kommen, die auch die Vorstellung zweifelhaft machen, dass ein biologisches Geschlecht im Menschenleben unwandelbar festgelegt ist.(17)

In den Gender-Forschungen hat sich in Bezug auf von der Norm abweichenden Sexualitäten auch ein weiterer Analysebegriff durchgesetzt: Queer. Der Begriff bezeichnet eine Art Abweichung, ohne auf die Fixierung einer neuen Identität abzuzielen. Der Begriff ist aus dem Versuch entstanden, schwule und lesbische Perspektiven zu repräsentieren (Queer Studies), der ähnlich wie der der Hybridität, die Prozesse beschreibt, die Sexualitätsnormen festschreiben und Abweichungen als solche markieren. Indem sich der Blick auf die kulturellen Konstruktionen solcher Normen richtet, steht auch die Verkörperung der Norm durch eine (weisse, europäische) Männlichkeit zur Disposition. Immer mehr Männer nehmen an den Gender-Forschungen teil, und bereits im deutschsprachigen Raum hat die Erforschung von Männerbildern und Männlichkeitskonzepten eingesetzt, die auch über literarische Texte hinausgehend viele diskursive Felder analysiert, in denen kulturelle Imaginationen des Männlichen (re)präsentiert werden.(18)

Die nächste Schnittstelle zwischen Gender-Forschung und Kulturwissenschaft ist die Problematisierung und Rekonzeptualisierung des Körpers. Ein wichtiger Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass die traditionsreiche Vorstellung vom Körper als substanzielle Voraussetzung eines schöpferischen Subjekts von der Dichotomie der Geschlechter nicht abgelöst werden kann. In vielen literarischen Texten, ästhetischen Schriften und medizinischen Ansätzen bedeutet die Frau den Körper, den zu beschreiben ein Ziel männlicher Kulturschöpfung war. Einerseits wurde der weibliche Körper zum Zeichen der Zeichen, andererseits minimierte sich der Anteil von Frauen an der offiziell geachteten Produktion kultureller Ideen und Bilder.(19)

Wenn Weiblichkeit, Körper und Natur jedoch als Konstruktionen lesbar werden, bedeutet dies, dass auch die feministische Rede vom Körper keinen Ort unmittelbarer Erfahrung beanspruchen kann. Im Gegenteil sind in diesem Kontext die radikalsten Infragestellungen dieser Dichotomie zu finden. Judith Butler hat schon in Das Unbehagen der Geschlechter betont, dass der Körper als Moment diskursiver Operationen betrachtet werden kann, und nicht lediglich als Einschreibefläche für kulturelle Prägungen und Zurichtungen.(20) So ist der geschlechtliche Körper als begehrter, idealisierter immer bereits in Symbolisierungen verstrickt, die "den Effekt eines inneren Kerns oder einer inneren Substanz"(21) erzeugen, diesen aber an seiner Oberfläche erscheinen lassen. Bei Butler wurde deshalb kritisiert, "nicht einmal die 'Materialität des Körpers' anzuerkennen, was für die feministischen Theorien nicht zu akzeptieren ist.(22) Butler hat in ihrer späteren Arbeit Bodies that matter (Körper von Gewicht) ihre Theorie weiter entwickelt, in der sie - wie die Doppeldeutigkeit des Worts 'matter' anzeigt - den Zusammenhang von Bedeutungsgebung und Materialität bzw. Körper erörtert, statt traditionsreicher Verknüpfung von Materie, Matrix und mater betont sie die Performativität eines jeden Körperkonzepts, und zeigt, dass Körper kulturelle Zeichen sind, damit aber nicht weniger 'existent', verwundbar oder empfindend, sondern mehr als solche Teil kultureller Praktiken und Symbolisierungen.

In Bezug auf die Verstrickung von Körper und Zeichen in kulturellen Prozessen wurde ein Thema beispielhaft reflektiert, und das ist das der Hysterie.(23) Seit der Antike wurde sie als typisch weibliche Krankheit beschrieben, die auf eine Fehlfunktion des weiblichen Geschlechts schließen ließ. Sie bildete im 19. Jahrhundert ein zentrales Forschungsfeld in der Medizin, der Psychoanalyse und den Kulturwissenschaften. In Folge der Forschungen stellte sich heraus, dass die Körpersprache der Hysterika, die versucht wurde wissenschaftlich zu systematisieren, sich immer wieder als Konstrukt ihrer Forscher erwiesen hat. Der Versuch, das andere, die Sprache des Körpers und der Weiblichkeit dem kulturellen Zugriff zu unterwerfen, führt immer zu der Erfahrung, dass es als dem Diskurs Vorgängige immer schon Produkt kultureller Konstruktionen ist. So wird aber die Differenz zwischen männlichem Forschungssubjekt und weiblicher Körperlichkeit, die zur Sprache zu bringen von der Psychoanalyse beabsichtigt war, in Frage gestellt.

Aus der Auseinandersetzung mit der Hysterie hat die Gender-Forschung eine Art Sensibilität gewonnen, die den Blick auf die Instabilität der Grenze zwischen 'Körpertexten' und 'Textkörpern'(24) gerichtet hat. Das Verhältnis von Körper und Virtualisierung wurde weiter entwickelt, indem Phantasmen von Autonomie und Beherrschung reproduziert werden, die wiederum die Grenzen zwischen Körper und kultureller Imagination zu verabsolutieren versuchen und deren wechselseitige Abhängigkeit verleugnen.

Als viertes Analysefeld hat die Gender-Forschung laut Bischoff ihren Blick mit der Kritik an den festgelegten (Geschlechts-) Identitäten, auf die Frage nach den kulturellen Praktiken und Bühnen ihrer Inszenierung gerichtet und dadurch einen wichtigen Anteil an einem weiteren Forschungsfeld der Kulturwissenschaften geöffnet. Die von Butler stammende Kategorie der Performativität wurde weiterentwickelt und in der Verknüpfung von Methoden und Perspektiven aus Theater-, Kunst-, Literaturwissenschaft und Ethnologie ausdifferenziert. In zahlreichen Studien wurden literarische und kulturelle Repräsentationsformen des Tanzes, der Performance-Kunst, des Kleidertausches sowie Geschlechtermaskeraden zu einem wichtigen Forschungsgegenstand.(25)

Schließlich hat die Gender-Forschung dazu beigetragen, Fragen nach der Funktion von Diskursen über Gedächtnis, Genealogie und Reproduktion zu stellen, die die Unterscheidung von natürlicher und kultureller Fortpflanzung befragt. Es wurde gezeigt, dass das Gedächtnis eine wichtige Bedeutung für die Konstruktion von Identität und damit von Geschlechtsidentität hat, indem herausgestellt wurde, dass die scheinbare Kontinuität der Zuordnung zu einem Geschlecht auch ein Produkt von Ursprungs- und Kontinuitätsbehauptungen ist, die die Kohärenz im Akt der erinnernden Rede herstellen. (26) Die Frage nach dem kulturellen Gedächtnis ist mit dem Konzept der Genealogie verknüpft, das als ein Differenz und Identität, Kontinuität und Wandel regulierendes kulturelles Deutungsmuster begriffen wird.(27)

Durch die Verknüpfung des Weiblichen mit der Mutterschaft und der Reproduktion von Materie, sowie der Betrachtung des Weiblichen als Matrix kultureller Sinnstiftungen , löst sich eine durch eine Vätergenealogie repräsentierte Weitergabe kultureller Werte heraus, indem sie sich ihrerseits als kulturelle Zuschreibung erkennen lässt. Mit den neuen Möglichkeiten der Biotechnologie hat die Gender-Forschung den Kulturwissenschaften neue Impulse gegeben und das Verhältnis von Weiblichkeit, Mutterschaft und Reproduktion wurde in Frage gestellt. Mit der natürlichen und künstlichen Reproduktion hat sich Donna Haraway in ihrem Manifesto for Cyborgs auseinandergesetzt, indem sie den/die Cyborg als hybride Mensch-Maschine - Konstellation entwirft. Dadurch könnte die Gender-Forschung als Beschreibungskonzept dienen, um von Natur und Kultur, Körper und Maschine, Reproduktion und Produktion in einer Weise zu denken, die nicht mehr auf die Geschlechterdifferenz als zentrale Ordnungskategorie zurückgreift.(28)

© Andrea Horváth (Universität Debrecen/Ungarn)


ANMERKUNGEN

(1) Vgl. Kittler, Friedrich: Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München, 2000 und Hahn, Barbara: Frauen in den Kulturwissenschaften. Von Lou Andreas-Salomé bis Hannah Arendt. München, 1994.

(2) Vgl. das Vorwort zu dem Band FrauenLiteraturGeschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. Von Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann. Frankfurt a. M.,1989.

(3) Weigel, Sigrid: Die Verdoppelung des männlichen Blicks und der Ausschluß von Frauen aus der Literaturwissenschaft. In: S. W.: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur. Reinbek, 1990. S.234-51.

(4) Vgl. Bovenschen, Silvia: Über die Frage: gibt es eine weibliche Ästhetik? In: Ästhetik und Kommunikation 25 (1976): 60-75.

(5) Hof, Renate: Kulturwissenschaft und Geschlechterforschung. In: Konzepte der Kulturwissenschaften. Hg. von Nünning, Ansgar/Nünning, Vera, Stuttgart: Metzler, 2003, S.329-344.

(6) Bachmann-Medick, Doris: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M.: Fischer, 1996.

(7) Bronfen, Elisabeth: "Weiblichkeit und Repräsentation. Aus der Perspektive von Semiotik, Ästhetik und Psychoanalyse". In: Bußmann, Hadumod/ Hof, Renate: Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart, 1995, S.408-445.

(8) Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Übersetzt von Kathrina Wenzel. Frankfurt a. M., 1991, S.15-24.

(9) Ecker, Gisela: "Spiel und Zorn. Zu einer feministischen Praxis der Dekonstruktion". Frauen-Literatur-Politik. Hg. von Annegret Pelz. Berlin, Hamburg, 1988, S.8-22.

(10) Meyer, Eva: Zählen und Erzählen. Für eine Semiotik des Weiblichen. Wien, Berlin, 1983, S. 32.

(11) Vgl. Vinken, Barbara: "Dekonstruktiver Feminismus. Eine Einleitung". In: B. V.: Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika. Frankfurt a. M., 1992, S. 7-29.

(12) Vgl. die Einleitung zu dem Band Gender Studien. Eine Einführung. Hg. von Christina von Braun und Inge Stephan. Stuttgart/Weimar, 2000.

(13) Butler, 1991, S. 212.

(14) Vgl. Weigel, Sigrid: Die Stimme der Medusa. Schreibweisen in der Gegenwartsliteraturvon Frauen. Dülmen, 1987.

(15) Vgl. Schneider, Irmgard: Gattung und Geschlecht. Reisebeschreibungen deutscher Frauen 1780-1850. Tübingen, 1999.

(16) Vgl. die Einführung in Böhme, Hartmut/ R. Scherpe, Klaus (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaft. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek, 1996, S.7-24.

(17) Zu den beiden Begriffen vgl. Breger, Claudia: "‘Gekreuzt‘ und queer. Überlegungen zur Rekonzeptualisierung von gender, Ethnizität und Sexualität." In: Differenzen in der Geschlechterdifferenz- Differences within Gender Studies. Aktuelle Perspektiven der Geschlechterforschung. Hg. von Kati Röttger und Heike Paul, Berlin, 1999, S.66-85.

(18) Vgl. Erhart, Walter/ Hermann, Britta (Hg.): Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit. Stuttgart, 1997.

(19) Vgl. Warner, Marina: In weiblicher Gestalt. Die Verkörperung des Guten, Wahren und Schönen. Reinbek, 1989.

(20) Butler, 1991, S. 192.

(21) Ebd. S. 200.

(22) Butler, Judith: "Entkörperung". In: Feministische Studien 11.2 (1993), S.31.

(23) Vgl. Irigaray, Luce: "Das Hysterische- Mysterische". In: L. I.: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts. Frankfurt a. M., 1980, S. 239-252.

(24) Vgl. Stephan, Inge: "‘Gender‘. Eine nützliche Kategorie für die Literaturwissenschaft". Zeitschrift für Germanistik NF 9 (1999): S. 23-35.

(25) Weissberg, Liliane (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt a. M., 1994.

(26) Vgl. Weinberg, Manfred: "What makes a (wo)man? Zum Zusammenhang von sexueller Identität/Differenz, Erinnerung und Gedächtnis". In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72. Sonderheft Medien des Gedächtnisses (1998): S. 174-92.

(27) Bischoff, Dörte: "Neuere deutsche Literatur. `Gender` als Kategorie der Kulturwissenschaft". In: Germanistik als Kulturwissenschaft: eine Einführung in die neue Theoriekonzepte. Hg. von Claudia Benthien, Hamburg: Reinbek, 2002, S. 298-322.

(28) Haraway, Donna: "A Cyborg Manifesto". In: H. D.: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature. New York/London, 1991, S. 149-81. (zitiert nach Dörte Bischoff)


LITERATURVERZEICHNIS

1. Bachmann-Medick, Doris: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M.: Fischer, 1996.

2. Bischoff, Dörte: "Neuere deutsche Literatur. 'Gender' als Kategorie der Kulturwissenschaft". In: Germanistik als Kulturwissenschaft: eine Einführung in neue Konzepte. Hg. von Claudia Benthien, Hamburg: Reinbek, 2002, S. 298-322.

3. Bovenschen, Silvia: Über die Frage: gibt es eine weibliche Ästhetik? In: Ästhetik und Kommunikation 25 (1976): 60-75.

4. Böhme, Hartmut/ R. Scherpe, Klaus (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaft. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek, 1996.

5. Braun, Christina/ Stephan, Inge (Hg.): Gender Studien. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar, 2000.

6. Breger, Claudia: "‘Gekreuzt‘ und queer. Überlegungen zur Rekonzeptualisierung von gender, Ethnizität und Sexualität." In: Differenzen in der Geschlechterdifferenz- Differences within Gender Studies. Aktuelle Perspektiven der Geschlechterforschung. Hg. von Kati Röttger und Heike Paul, Berlin, 1999, S. 66-85.

7. Bronfen, Elisabeth: "Weiblichkeit und Repräsentation. Aus der Perspektive von Semiotik, Ästhetik und Psychoanalyse". In: Bußmann, Hadumod/ Hof, Renate: Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart, 1995, S. 408-445.

8. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Übersetzt von Kathrina Wenzel. Frankfurt a. M., 1991.

9. Butler, Judith: "Entkörperung". In: Feministische Studien 11.2 (1993), S. 31.

10. Ecker, Gisela: "Spiel und Zorn. Zu einer feministischen Praxis der Dekonstruktion". Frauen-Literatur-Politik. Hg. von Annegret Pelz. Berlin, Hamburg, 1988, S. 8-22.

11. Erhart, Walter/ Hermann, Britta (Hg.): Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit. Stuttgart, 1997.

12. Gnüg, Hiltrud/ Möhrmann, Renate (Hg.): FrauenLiteraturGeschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M., 1989.

13. Haraway, Donna: "A Cyborg Manifesto". In: H. D.: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature. New York/London, 1991, S. 149-81.

14. Hof, Renate: Kulturwissenschaft und Geschlechterforschung. In: Konzepte der Kulturwissenschaften. Hg. von Nünning, Ansgar/Nünning, Vera, Stuttgart: Metzler, 2003, S. 329-344.

15. Irigaray, Luce: "Das Hysterische- Mysterische". In: L. I.: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts. Frankfurt a. M., 1980.

16. Kittler, Friedrich: Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München, 2000 und Hahn, Barbara: Frauen in den Kulturwissenschaften. Von Lou Andreas-Salomé bis Hannah Arendt. München, 1994.

17. Schneider, Irmgard: Gattung und Geschlecht. Reisebeschreibungen deutscher Frauen 1780-1850. Tübingen, 1999.

18. Stephan, Inge: "‘Gender‘. Eine nützliche Kategorie für die Literaturwissenschaft". Zeitschrift für Germanistik NF 9 (1999): S. 23-35.

18. Vinken, Barbara: "Dekonstruktiver Feminismus. Eine Einleitung". In: B. V.: Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika. Frankfurt a M., 1992, S. 7-29.

19. Warner, Marina: In weiblicher Gestalt. Die Verkörperung des Guten, Wahren und Schönen. Reinbek, 1989.

20. Weigel, Sigrid: Die Stimme der Medusa. Schreibweisen in der Gegenwartsliteraturvon Frauen. Dülmen, 1987.

21. Weigel, Sigrid: Die Verdoppelung des männlichen Blicks und der Ausschluß von Frauen aus der Literaturwissenschaft. In: S. W.: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur. Reinbeck, 1990. S. 234-51.

22. Weinberg, Manfred: "What makes a (wo)man? Zum Zusammenhang von sexueller Identität/Differenz, Erinnerung und Gedächtnis". In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72. Sonderheft Medien des Gedächtnisses (1998): S. 174-92.

23. Weissberg, Liliane (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt a. M., 1994.


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