Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. September 2004
 

5.13. Geschlecht und Nation: Narrative kollektiver Identitäten
Andrea Horváth (Debrecen / Ungarn) / Eszter Pabis (Debrecen)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Geschlechtsidentität und Performativität

Ildiko Kormos (Universität Debrecen/Ungarn)

 

Abstract

Seinerzeit hat man das biologische und das kulturelle Geschlecht als identisch, also sich überlagernd gedacht. An einer historischen Schwelle der Geschichte begann man zwischen biologischem Geschlecht sex und kulturellem Geschlecht gender zu unterscheiden. Diealte Vorstellung herrschte bis zum Auftritt von Judith Butler, die als bedeutendste Vertreterin der Gender Studies gelten kann. Bei ihr erscheint das biologische Geschlecht nicht mehr als naturgebunden, sondern ist ebenso ein kulturelles Produkt, wie das soziale Geschlecht. Sie knüpft dabei an Foucaults These an, dass Macht produktiv ist. Das meint, dass Macht nicht nur einen negativen, unterdrückerischen Effekt hat, also dass sie etwas außerhalb der Macht Liegendes (den Körper, die Sexualität, die Frau z.B.) in seiner Wesenheit unterdrückt, sondern dieses Andere durch den Diskurs erst herstellt. Das heißt für die Geschlechterverhältnisse: auch die vermeintlich biologische, außerdiskursive Basis der Geschlechtertrennung, 'sex' eben, ist ein Produkt des Diskurses. Butler begreift das Geschlecht als diskursiven Effekt. Sex wird selbst erst durch die binäre Zwangsordnung von gender diskursiv erzeugt. Geschlechtsidentität und also auch Subjektidentität entstehen nach Butler nicht aus der Entwicklung einer individuellen und geschlechtlichen Natur, sondern performativ. Subjekt- und Geschlechtsidentität sind nicht Gegebenes, sondern ergeben sich im ständigen Vollzug. Performativität bedeutet, dass kulturelle Zuschreibungen bewusst am eigenen Körper wiederholt werden, damit das Einschreiben kultureller Erfahrungen von Geschlecht am eigenen Körper sichtbar wird.

Zusammenfassend also: in der soziokulturellen und sprachlichen Konstruktion der Geschlechter wird jede Form eines biologischen Determinismus radikal verabschiedet. Das biologische Geschlecht, sex, der biologische Körper kann nicht als etwas Selbstursprüngliches, sondern als solches nur über soziokulturelle Vermittlungen mit Hilfe von gender performances wahrgenommen werden.

 

In früheren Zeiten hat man das biologische und das kulturelle Geschlecht als identisch, also sich überlagernd gedacht. An einer historischen Schwelle der Geschichte begann man zwischen biologischem Geschlecht sex, und kulturellem Geschlecht gender zu unterscheiden.

Diese Vorstellung herrschte bis zum Auftritt von Judith Butler, die als bedeutendste Vertreterin der Gender Studies gilt. Bei ihr erscheint das biologische Geschlecht nicht mehr als naturgebunden, sondern es ist ebenso ein kulturelles Produkt, wie das soziale Geschlecht.

Ihr Buch Gender Trouble(1) erschien 1990. Laut Jutta Osinski handelt es sich nicht um eine literaturwissenschaftliche Arbeit, sondern um eine kultur-, ideologie- und philosophiekritische Untersuchung von Geschlechtermodellen. Ihr Ausgangspunkt ist die nordamerikanische Frauenforschung und -bewegung, weshalb es ihr im Vergleich zu Europa vermutlich nicht so schwer fällt, über die angebliche Naturhaftigkeit der zwei Geschlechter hinwegzudenken. In den USA gab es nämlich schon sehr früh Ansätze in der Forschung, die diese Zweigeschlechtlichkeit des Menschen bezweifelt haben und nach dritten Geschlechtern bzw. Geschlechtermischungen gesucht haben. Zudem ist die amerikanische Frauenbewegung schon seit längerem dabei zu diskutieren, was "die Frauen" eigentlich sind.

Butlers Buch wurde u.a. deshalb so erfolgreich, weil sie auch auâerhalb des amerikanischen Bereichs, also in Europa Bezugspunkte hat. Ihr Buch kann zu einer allgemeinen Tendenz im Feminismus gerechnet werden, die versucht, zwischen Frauen zu differenzieren sowie innerhalb der einzelnen Frau psychische Ambivalenzen zu benennen. Diese Richtung weist auf die Unterschiede zwischen Frauen hin und darauf, dass eine Frau nicht allgemein von sogenannten weiblichen Eigenschaften geprägt ist, sondern psychisch durchaus ambivalent zu den Rollenerwartungen stehen und/oder sogenannte männliche Eigenschaften besitzen kann.

So wird auch in der BRD seit einiger Zeit die Ansicht vertreten, dass mit dem Begriff Patriarchat keineswegs alles im Hinblick auf die Geschlechterverhältnisse erklärt werden kann. Es wird davon ausgegangen, dass Frauen sich in ambivalenten Lebenslagen befinden und dadurch widersprüchliche Identitäten ausbilden. Die hier beschriebene Tendenz, zwischen Frauen und ihren Lebenslagen analytisch zu trennen, sollte also deutlich unterschieden werden von jenen Strömungen, die fast ausschließlich die Differenz von Frau und Mann betonen, dem sogenannten Differenzfeminismus.

Aufgegriffen wurde Butler aber sicher auch deshalb, weil sie den Streit zwischen Gleichheits- und Differenzfeminismus scheinbar überwindet bzw. ihn auf eine höhere Stufe stellt. Die eine Seite hatte sich für Gleichheit der Frau mit dem Mann eingesetzt, die anderen betonen die Differenz zum Mann und den männlichen Werten, Butler will aber beides nicht und plädiert für die Dekonstruktion von beiden Geschlechtern. Sie kritisiert besonders Vorstellungen von 'weiblicher Kultur' und 'ursprünglicher Weiblichkeit', also die Differenzposition. Sie richtet sich aber auch gegen die Angleichung an den Mann, wie ihn die Gleichheitsposition vertrat. Laut Osinski ist der Grundgedanke die radikale Verabschiedung von jeder Form eines biologischen Determinismus in der soziokulturellen und sprachlichen Konstruktion der Geschlechter. Das biologische Geschlecht, sex, der biologische Körper könne nicht als etwas Selbstursprüngliches, sondern als solches nur über soziokulturelle Vermittlungen wahrgenommen werden. Die Unterscheidung zwischen sex und gender wird aufgehoben, indem sex als ein von gender abhängiger Begriff erscheint.(2)

Butlers eigentliche theoretische Wurzeln liegen in Frankreich. Hier stammt auch die Literatur her, die sie in Das Unbehagen der Geschlechter diskutiert: Simone de Beauvoir, Luce Irigary, Jacques Lacan(3), Julia Kristeva, Monique Wittig und Michel Foucault. Butlers Vorstellung von Unterdrückung geht auf die Machttheorie von Foucault(4) zurück. Für ihn zeichnet sich, grob vereinfacht, die Moderne durch das Abstraktwerden von Machtformen (Machtdispositiven) aus. Die Selbstdisziplinierung steht bei ihm für das Subjektwerden. Die Sexualität im Sinne eines Diskurses über angeblich vorgängigen Sex bzw. sexuelle Identitäten ist nach Foucault ein zentraler Definitionsraum moderner Individuen und ihrer Unterwerfung. Das Geschlechterverhältnis wird bei ihm allerdings selber nicht thematisiert. Die Machtverhältnisse wirken nach Foucaults Meinung, - wie es Butler in einem Vortrag an der Goethe-Universität in Frankfurt erklärt, wo sie trotz der vorangegangen Erwartungen oder Wünsche nicht über ihr Buch Gender Trouble, sondern über die Theorien von Foucault spricht - direkt auf den Körper ein, um ihn fügsam zu machen und ihn zu zwingen . Ein Zwang zum Handeln wirkt nicht dem Handeln voraus, denn im Handeln ist der Zwang immer schon enthalten. Hinter der Tat (agency) existiert kein Täter (agent), der ihr vorausgehen würde. Eine Strategie ist eine diffuse, vielschichtige und produktive Apparation von Macht, die nicht vom Subjekt angeeignet wird. Die Macht-Apparation ist nichts, das ein Subjekt besitzt, denn die Macht ist nichts, was man sich aneignen oder besitzen kann. In Butlers Theorie sowie in Foucaults Untersuchungen wird bei der Analyse der Macht kein Subjekt vorausgesetzt. So wird die Macht weder von einem Subjekt besessen noch nicht besessen, sondern es ist ein Merkmal innerhalb der Macht selbst. Kritiker warfen Foucault vor, dass er die Macht personifiziere. Butler hält diesen Vorwurf allerdings für überholt. Der französische Philosoph folgt bei seiner Beschreibung der Macht einer nicht-konventionellen Grammatik. Die Macht ist für ihn keine Person, sondern sie wird immer wieder aufs Neue in einer Schlacht hergestellt. Dieser Kampf hat die Fähigkeit einer Umkehrung der Machtverhältnisse und der Funktionen des Körpers. Seine Handlungsfähigkeit bekommt der Körper durch eine Ununterscheidbarkeit von Macht und Subjekt. Butler beschreibt ein 'Changieren' zwischen Subjekten und Machtbeziehungen, wobei es kein Subjekt der Aneignung und des Besitzes gibt. Der französische Philosoph wertet die Macht um: Bei ihm handelt es sich um ein Machtnetz mit verschiedensten Beziehungen. Der Körper, der zuvor noch als unbeweglich und von Trieben beherrscht gedacht wurde, wird von Foucault neu definiert. Die Körper werden zum Schauplatz der Machtanwendung und der Machterfahrung. Sie sind aktive Durchgangspunkte oder Knotenpunkte der Erfahrung. Bei Foucault wird folglich nicht nur das Subjekt, sondern auch der Körper neu definiert. Er ist der Raum an dem die Macht selbst übertragen wird. Der Körper ist beides zugleich: ein Einwirkungsort der Macht, aber auch ein Umwertungsort von Macht, von dem aus Widerstand möglich sein kann.

Es gibt bei Foucault also keine starre Trennung von 'aktiv' und 'passiv'. Der Körper ist zugleich Träger von immerwährender produktiver Arbeit und zugleich nützlich und unterworfen. Dieses Zusammenspiel ist nicht zufällig. Die Unterwerfung und die Produktivität bedingen einander, sie lassen sich nicht voneinander trennen. Dadurch erfolgt bei Butler eine Umwertung: Der Körper ist ein Raum der Leidenschaft, ein Knotenpunkt, ein Umlenkungspunkt der Macht und möglicher Ort, von dem aus Widerstand erfolgen kann. Butler bedenkt die Handlungsfähigkeit im Verhältnis von Macht und Körper. Menschen werden bei Foucault durch Produktion, Erzeugung und Selbsterzeugung zu Subjekten gemacht. Man sollte neben der Produktion aber auch nicht das Schöpferische bei der Subjektivation vergessen. Trotzdem ist das Subjekt immer schon durch die Macht konstituiert, vorgeformt und wird durch diese inszeniert. Foucault bemerkt, dass die Macht Effekte erzeugt, die selbst Widerstand sind. Es entsteht eine Bindung des Subjekts an seine eigene Identität, und es zwingt ihn dazu seine eigene Wahrheit anzuerkennen. Bei der Subjektivation handelt es sich nicht um eine mechanische Produktion von Subjekten, sondern um eine 'Selbstverhaftung' an eine Identität. Man bindet sich an diese durch eine Norm, welche gesellschaftlich bedingt ist. Die Selbstverhaftung geschieht durch Normen, die uns Individuen auf ein Beharren auf unserem Selbst-Sein beschränkt. Butler sucht nach neuen Möglichkeiten und Schauplätzen, sich den Regulierungen der Norm entgegenzustellen. Sie möchte nur ein 'leichtes Widersprechen', denn man muss die Normen anerkennen. Das Begehren nach Anerkennung, das imperativische 'Muss' und das Verhaftet-Sein, ohne das wir nicht sein können, zwingen uns zu dieser Anerkennung. Bei einem Verstoß gegen die Normen, riskiert man gleichfalls seinen eigenen Subjektstatus. Wenn wir nun aber die Normen feststellen, die das eigene Subjekt-Sein produzieren, dann kommt es auch zu einer Gefährdung des eigenen Seins. Diese Feststellung führt zu einem 'leidenschaftlichen Verhaftet-Sein' mit sich selbst. Die ständige Norm-Befolgung kann auch zu Narzissmus führen. Das Leben des Verhaftet-Seins mit weniger Beschränkungen führt zu einer Gefährdung des eigenen Seins durch den Druck der Norm. Foucault forderte die Hervorbringung neuer Subjektivitäten und Lebensweisen, ein Streben danach, etwas anderes zu werden. In seinem Spätwerk taucht ein neues Subjekt auf, aber deswegen verschwindet der disziplinierte, machtbesetzte Körper nicht. Dieses Subjekt ist immer noch kein 'Rechts-Subjekt' mit bestimmten Rechten. Es ist immer noch ein verhaftetes, das in seinem Körper eingekerkert ist. Für Butler muss auf die Körper eingewirkt werden; der Körper wird zur Leidenschaft seines eigenen Seins durch die Reformulierung dieser Verhaftung. Der leidenschaftliche Körper wird zum Ort möglicher Transformationen. Wir müssen uns den Normen unterwerfen, um uns anzuerkennen und von anderen anerkannt zu werden. Auch das Gefühl von 'wir' (z. B. wir Frauen, Lesben, Schwule usw.) und andere gesellschaftliche Zusammenhänge sind mit dieser Anerkennung verbunden.(5)

Der Gleichheits- und der Differenzfeminismus hatten sich in Butlers Diskussion um das, was Frauen und Männer (geworden) sind, auf eine Unterscheidung geeinigt: sex und gender. Im Deutschen wird diese Gegenüberstellung des Englischen meist mit biologischem vs. sozialem Geschlecht oder auch mit Geschlecht vs. Geschlechtsidentität oder grammatikalisches Geschlecht übersetzt. Butler stellt, wie schon gesagt, diese Kategorien in Frage.

Sie will sex als politische Verschleierungsstrategie von gender entlarven. Butler schreibt im Sinne des Poststrukturalismus, auch Neostrukturalismus oder Dekonstruktivismus genannt. Dies sind vielgestaltige Theorieströmungen, die den Strukturalismus Ende der sechziger Jahre fortsetzen und radikalisieren. Butler geht davon aus, dass sich eine Gesellschaft im wesentlichen durch ihre sprachliche und damit machtförmige Strukturierung herstellt. Sie geht von einem Diskursbegriff aus, den sie bei Foucault und Derrida(6) entlehnt. Diskurs meint zunächst nur, dass geredet, geschrieben und gelesen etc. wird.

Poststrukturalismus ist, wie es sich verschiedenen wissenschaftlichen Arbeiten entnehmen lieâ, nicht identisch mit Postmoderne, es ist keine in sich geschlossene und homogene Richtung, sondern die Weiterentwicklung des Strukturalismus. Dieser geht zurück auf Ferdinand de Saussure, der die Sprache in ein Zeichensystem gliedert. Ein Zeichen besteht aus Signifikant und Signifikat. Signifikant ist das Bezeichnende, der Zeichenausdruck, Signifikat ist das Bezeichnete, der Zeicheninhalt. Zwischen Signifikant und Signifikat besteht eine arbiträre (willkürliche) Beziehung. Der Referent gilt als ausgeschlossenes Element, welches der Zeichenproduktion zwar unterliegt, sie aber nicht direkt beeinflusst. Die Bedeutung eines Zeichens ist bei der Trennung von Signifikant und Signifikat nicht unmittelbar präsent. Die Diskrepanz zwischen Signifikant und Signifikat wird zur uneingeschränkten Differenz der Sprache. Das heißt, in der Sprache gibt es nur Differenzen, die Bedeutungen erzeugen. Die Bedeutung wird also durch das festgelegt, was sie nicht ist, das heißt: sie ist nicht mit sich selbst identisch. Da die Zeichenbedeutung davon abhängt, was das Zeichen nicht ist, ist seine Bedeutung immer auch in bestimmtem Sinne abwesend. Der Poststrukturalismus kritisiert erstens das metaphysische Denken, weil dieses immer von einem unanfechtbaren Fundament ausgeht und auf dieser unangreifbaren Basis eine ganze Hierarchie von Bedeutungen errichtet wird. Für den Poststrukturalismus gibt es jedoch keine feststehende, 'wahre' Bedeutung und keinen Kernpunkt des Denkens, sondern nur ein Netzwerk aufeinander bezogener Zeichen, eine unendliche Kette immer weiter verweisender Signifikanten. Zweitens kritisiert er das binäre Denken, weil es mit Gegensätzen (Mann/Frau, Tag/Nacht, Schwarz/Weiß) arbeitet. Die binären Paare definieren sich durch das, was die nicht sind (Eine Frau ist eine Frau, weil sie kein Mann ist). Der Poststrukturalismus dekonstruiert diese Gegensätze und deren immanente Hierarchien (Verstand steht hier 'über' Gefühl). Er kritisiert drittens das logozentrische Denken, weil es vom Primat des gesprochenen Wortes (vor der Schrift) ausgeht, und unterstellt die unvermittelte metaphysische Präsenz von Bedeutungen im gesprochenen Wort und somit dessen Authentizität, Wahrheit und Kohärenz. Dekonstruktion ist ein subversives Prinzip der Annäherung an Texte von innen her. (Der Text wird mit sich selbst widerlegt und in seiner Widersprüchlichkeit entlarvt). Ziel der Dekonstruktion ist die Auflösung binär-hierarchischer Bedeutungsoppositionen im Text und deren Einbeziehung in einen enthierarchisierten Prozess von Differenzen.

Laut Osinskis Gedanken geht Butler davon aus, dass sich eine Gesellschaft im wesentlichen durch ihre sprachliche und damit machtförmige Strukturierung hergestellt. Sie geht von einem Diskursbegriff aus, den sie bei Foucault entlehnt. Diskurs meint zunächst nur, dass geredet, geschrieben und gelesen etc. wird. Butler begreift das Geschlecht als diskursiven Effekt. Das soll heißen, dass Geschlecht eine Art ideologische Fiktion ist, die sich im Diskurs als scheinbare Realität geltend macht und dann auch wirksam ist. Also nicht allein das soziale Geschlecht ist eine gesellschaftliche Konstruktionsleistung, sondern auch das biologische. Sex wird selbst erst durch die binäre Zwangsordnung von gender diskursiv erzeugt. Geschlechtsidentität und also auch Subjektidentität entstehen nach Butler nicht aus der Entwicklung einer individuellen und geschlechtlichen Natur, sondern performativ. Subjekt- und Geschlechtsidentität sind nicht Gegebenes, sondern ergeben sich im ständigen Vollzug. Die Heteronomie, auf der das Gleichheits- und das Verschiedenheitsmodell beruhen, ist nach Butler schon selbst eine soziokulturelle Zuschreibung von Differenz. Die als normal, weil naturgemäâ empfundene Heterosexualität beruht auch auf Zwangzuschreibungen, die durch der Differenzierung der Geschlechter ein hierarchisches, Geschlechteridentität für Männer und Frauen erzeugendes Machtverhältnis etablieren. Sie schreibt über Strategien, mit deren Hilfe Annahmen über ein Wesen oder eine vorgegebene Natur des Körpers offenbar werden als das, was sie sind - Zuschreibungen. Solche Strategien beruhen auf der Performanz- Theorie der gender acts. Es geht nach Butler um solche gender acts, die die Kategorien des Körpers, des Geschlechts, der Geschlechtsidentität und der Sexualität stören. Gender performances bestehen darin, dass kulturelle Zuschreibungen bewusst am eigenen Körper wiederholt werden, damit das Einschreiben kultureller Erfahrungen von Geschlecht am eigenen Körper sichtbar wird. Die Vorstellung, dass soziokulturelle Bedeutungszuschreibungen körperliche Einschreibungen seien, lässt einen Begriff von Wiederholung zu, der im individuellen Fall Brüche, Sprünge und Verschiebungen ermöglicht. Das Beispiel von Transvestiten zeigt zum Beispiel, dass Geschlechtsidentität nichts anderes als eine performative Aneignung von Zuschreibungen ist. Beim Transvestiten ist der Körper männlich, weil der sex männlich ist. Die gender identity, Geschlechtsidentität, ist jedoch weiblich, und sie ist es durch einen gender act, durch eine bewusste Performanz. Der sichtbare Körper erscheint als weiblich, aber nicht als naturgegeben, er verweist auf die performance, auf eine bewusste Kombination statt Identität von sex, gender und gender act. Geschlechtliche Identität ist nun für Butler eine Konstruktion, die ich mir mache und machen muss. Ihre These ist, dass die moderne Identität immer zuerst eine geschlechtliche ist. Zuerst ist jemand ein Geschlecht, und erst dadurch erlangt er oder sie Sichtbarkeit, bekommt Gestalt und erhält den Menschstatus.(7)

Wie sich aus verschiedenen Arbeiten über Butler entnehmen lässt, hat Geschlechtsidentität drei Aspekte bzw. wird durch drei Aspekte konstruiert: Das biologische Geschlecht (sex), das soziale Geschlecht (gender) und die Orientierung des Begehrens, der Sexualität. Alle drei Aspekte sind für sie sozial oder besser sprachlich-diskursiv konstruiert. Zudem betont sie das Begehren als zentrale Dimension, da sie es nicht dem sozialen Geschlecht unterordnet.

Es gibt, wie jeder Mensch weiß, zwei aufeinander bezogene Geschlechtsidentitäten. Alles andere ist eigentlich unmenschlich, d.h. entspricht nicht dem Wesen des Menschen. Diese Alltagsweisheit, drückt sich in diskriminierender Form gegen all die aus, die abweichen: die sind krank, arm dran oder gehören weg, jedenfalls sind sie nicht normal. Hier wird deutlich, dass der Status als vollwertiges Mitglied in einer Gesellschaft und mit einer Identität davon abhängt, ob ich in der Lage bin, eine echte Frau oder ein echter Mann zu sein. Es genügt nicht, die Frau oder den Mann nur zu spielen.

Warum gibt es zwei Geschlechter und nicht vier? Butler erklärt dies nicht aus biologischen Unterschieden, diese gehören für sie, wie oben bereits angedeutet, selbst zur Konstruktion des Geschlechts und sind diskursiv. Die Zweigeschlechtlichkeit erklärt sich nach Butler aus der Heterosexualität, die auf Fortpflanzung zielt. Die Instituierung einer naturalisierten Zwangsheterosexualität erfordert und reguliert die Geschlechtsidentität als binäre Beziehung, in der sich der männliche Term vom weiblichen unterscheidet. Diese Differenzierung vollendet sich durch die Praktiken des heterosexuellen Begehrens. Der Akt, die beiden entgegengesetzten Momente der Binarität zu differenzieren, führt dazu, dass sich jeder der Terme festigt bzw. eine innere Kohärenz von anatomischem Geschlecht (sex), Geschlechtsidentität (gender) und Begehren gewinnt. Es kann auch Mathematisch ausgedrückt werden: Geschlecht = Sex + gender + sexuelles Begehren.

Fehlt etwas, kommt ein falsches Ergebnis raus. Alles was nicht exakt in den Kategorien aufgeht wird weiter unterdrückt. Und alles, was in die Kategorien passt, muss sich zwangsweise in die Kategorien einzwängen.

Um nun die drei Aspekte zu verdeutlichen sei hier ein Beispiel erlaubt. Eine echte empirische Frau muss haben: 1. eine Gebärmutter und Gebärfähigkeit; 2. das Fühlen, Denken und den Willen einer (zukünftigen) Mutter und 3. eine auf Männer bezogene Sexualität, die zu Kindern führt. Wenn eine Person dies alles hat und annimmt, wird sie Mensch, erhält sie Respekt als wertvoller Teil der Gesellschaft und ist (sprachlich) sichtbar. Ein Mensch oder Subjekt wird dabei in der Philosophie in der Regel im wesentlichen durch drei Merkmale beschrieben: freier Wille, vernunftbegabt und ausgestattet mit moralischer Urteilskraft.

Butler schreibt also gegen das Geschlecht (Sex, gender und Begehren) überhaupt an. Dies ist aber der Bezugspunkt der Frauenbewegung. Kein Wunder, das hier Abwehrreaktionen folgten. Butler schreibt gegen "Frauen" im Sinne einer Fortschreibung der Frauen als Opfer, als notwendiges (u.a. sexuelles) Gegenstück zu Männern, als natürliche Frauen. Aber sie schreibt auch gegen "Frauen" als positiven Bezugspunkt. Sie kritisiert die Annahme von Frau(en) als kollektive oder individuelle Identität. Dass Frauen versuchen in eine Subjektposition in der Gesellschaft zu gelangen, hält sie letztlich in der bestehenden Ordnung gefangen. Zwar muss Politik zur Verbesserung der Lage von Frauen diesen Subjektstatus auch erkämpfen, doch gleichzeitig auch in Frage stellen.

Ganz vereinfacht also: das biologische Geschlecht erscheint bei Butler nicht mehr als naturgegeben, sondern wie gender oder Geschlechtsidentität als sozial konstruiert, es ist also ebenso ein kulturelles Produkt wie das soziale Geschlecht. Das biologische Geschlecht ist nicht etwas Gegebenes, ergibt sich im ständigen Vollzug, ändert sich ständig, ist also performativ.(8)

© Ildiko Kormos (Universität Debrecen/Ungarn)


ANMERKUNGEN

(1) Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1990

(2) Osinski, Jutta: Einführung in die feministische Literaturwissenschaft, Berlin- Erich Schmidt, 1998

(3) Lacan, Jacques. Schriften I. u. II. Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 1975

(4) Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit. Bd. I: Der Wille zum Wissen. Frankfurt a. M. : Suhrkamp 1994 (orig.: Historie de la sexualite. Bd.1: La volonte de savoir. Paris: Gallimard 1976)

(5) Marc-Christian Jäger, Protokoll des Vortrags "Macht und Körper" von Judith Butler in Frankfurt (September 2001). In: Die Grenze (Homepage) WWW: http://www.die-grenze.com

(6) Derrida, Jacques: Dissemination. Wien: Passagen Verlag, 1995 ( orig.: La Dissemination. Paris: Editions du Seuil 1972

(7) Osinski, Jutta: Einführung in die feministische Literaturwissenschaft, Berlin- Erich Schmidt, 1998

(8) In: PapierTiger, Archiv und Bibliothek in Berlin, dies ersrteckt sich auf die Webseite: www.archivtiger.de WWW: http://www.archivtiger.de/Jedi/BUTLER.htm


LITERATURVERZEICHNIS

1. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1990

2. Osinski, Jutta: Einführung in die feministische Literaturwissenschaft, Berlin- Erich Schmidt, 1998

3. von Braun, Christina und Stefan, Inge: Gender Studien, Eine Einführung; Stuttgart; Weimar, Metzler, 2000

4. PapierTiger, Archiv und Bibliothek in Berlin, dies erstreckt sich auf die Webseite: www.archivtiger.de WWW: http://www.archivtiger.de/Jedi/BUTLER.htm

5. Marc-Christian Jäger, Protokoll des Vortrags "Macht und Körper" von Judith Butler in Frankfurt (September 2001). In: Die Grenze (Homepage) WWW: http://www.die-grenze.com

6. Foucault, Michael: Sexualität und Wahrheit. Bd.I: Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994 (orig.: Histoire de la sexualite. Bd.1: La volonte de savoir. Paris: Gallimard 1976)

7. Derrida, Jacques: Dissemination. Wien: Passagen, 1995 (orig.: La Dissemination. Paris: Editions du Seuil 1972)

8. Lacan, Jacques: Schriften I. u. II. Frankfurt: Suhrkamp, 1975


5.13. Geschlecht und Nation: Narrative kollektiver Identitäten

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For quotation purposes:
Geschlechtsidentität und Performativität. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_13/kormos15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 10.9.2004    INST