Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. April 2004
 

5.14. "Den Kunstbegriff gilt es auf Punktgröße zu verändern." Kunst als Raum der Kommunikation
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Monika Leisch-Kiesl (Linz)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


"Orient" und Okzident". Politische und kulturelle Spannungsfelder des 20. Jahrhunderts

Julia Allerstorfer (Diplomandin im Fach Kunstgeschichte, Wien)
[BIO]

 

Hand in Hand mit dem Phänomen der Globalisierung geht eine neue Besinnung auf Regional- und Weltkulturen und der Begriff der Kunstwissenschaft, im Englischen "Cultural Studies" hat im Wissenschaftsdiskurs Hochkonjunktur. Globalisierung, oft gleichgesetzt mit Amerikanisierung und Verwestlichung, ist als ein multidimensionaler Prozess zu verstehen, aus dem weltweit sozioökonomische und kulturelle Veränderungen resultieren. Universelle Prozesse der Modernisierung, vor allem Demokratisierung und Marktwirtschaft, werden in unterschiedlicher Weise als Wurzeln vielfältiger Konflikte der Zukunft angesehen. Die heute vorherrschenden Marktmechanismen bringen gravierende Entwicklungen mit sich; Konsequenzen sind Urbanisierung, Bedrohung traditioneller Kulturen, Veränderung sozialer Strukturen oder Internationalisierung der Kultur. Derartige Erscheinungsbilder werden häufig zu Sinnbildern der Dominanz von außen. Aus der Globalisierung resultiert somit in vielen Fällen eine Mobilisierung kultureller und religiöser Gegenbewegungen, ethnische Fragmentierung, sowie eine Rückbesinnung auf eigene Traditionen. Je intensiver das Empfinden der Bedrohung von außen, desto aggressivere Züge nimmt die Suche nach neuer Identität an, die letztendlich in einer verstärkten Besinnung auf Nationalität, Ethnie und religiöser Gruppierung endet. Somit wird kulturell definierte Fragmentierung in Form von politisch-religiösem Fanatismus und Fundamentalismus, sowie Ethnozentrismus zur wichtigsten Ausdrucksform des Protests gegen Vereinheitlichung.

Zwei der populärsten neuen Konflikt-Szenarien basieren auf den Fragmentierungstendenzen einer sich globalisierenden Welt. Rufin definiert beispielsweise in seiner 1996 erschienenen Publikation(1) in Anlehnung an die Terminologie des Imperium Romanum einen "Neuen Limes". So teilt er die Welt in einen zivilisierten, reichen, in Wohlstand lebenden Norden, dem ein barbarisch anmutender, armer Süden gegenübersteht.

Das 1996 erschiene Buch "The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order"(2) des Politologen Samuel Huntington, Professor an der Harvard University und Vorreiter der aktuellen amerikanischen Außenpolitik, ist vor allem nach dem 11. September 2001 ins allgemeine Gespräch geraten und hat unterschiedlichste Reaktionen evoziert. Eine etwas glücklichere Übersetzung des Titels ins Deutsche wäre anstelle "Kampf der Kulturen" etwa "Zusammenstoß, Aufprall der Zivilisationen". Huntington hat eine Einteilung nach Kulturen, seinem Wortlaut zufolge "Civilizations", als neues Weltordnungsmodell nach dem Kalten Krieg vorgeschlagen. Er typisiert die Erde nach großen Kulturkreisen wie die westliche (Europa, Nordamerika, Australien, Neuseeland - also der euroamerikanische und nordatlantische Kulturkreis), slawisch-orthodoxe, konfuzianische, japanische, hinduistische, lateinamerikanische, islamische und mit Einschränkungen afrikanische Zivilisation. In seiner Prophezeiung vom "Civilization-Clash" formuliert er ein Erklärungsmodell künftiger Konfliktpotentiale: Die Weltpolitik des 21. Jahrhunderts werde nach Huntington von einem Konflikt zwischen Völkern und Volksgruppen unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeit getragen und weniger von Auseinandersetzungen ideologischer oder wirtschaftlicher Natur. Huntington´s Definition von Kultur basiert auf der betonten Differenz zwischen den verschiedenen als ethnisch verstandenen Kulturen. Das bestimmende Element einer Kultur wäre nach seinem Modell die Religion. In seiner Auffassung von Kultur als natürlicher Gegebenheit folgt er einer ahistorischen Perspektive, welche den wechselseitigen kulturellen Austausch ignoriert. Aufgrund Huntington´s vereinfachter Sicht der Weltkulturen folgert er des weiteren eine Bedrohung des Westens durch feindselige, nicht-westliche Kulturen. Speziell der Islam weist für Huntington eine grundlegende Neigung zur Gewalt auf.

In seiner Analyse des Zeitraums 1918 bis 1979 bleiben jedoch gewalttätige militärische Eingriffe des Westens ins Weltgeschehen völlig unberücksichtigt. Seine These der "Bedrohung des weltpolitischen Machtmodells des Westens durch andere Kulturen" lässt sich außerdem mit dem zur Zeit des Imperialismus und Kolonialismus proklamierten Ost-West-Gegensatzes in Verbindung setzen und spiegelt somit eine typisch postkoloniale Haltung wider.

Die Einteilung der Weltkulturen nach ihren Religionen hält Huntington selbst in seinem Weltordnungsmodell nicht durch. Als kritische Reaktion auf dieses Verfehlen soll das im Jahr 2003 in München erschienene Buch von Emanuel Todd, "Weltmacht USA: Ein Nachruf", erwähnt werden. Ich zitiere:

"Huntington beschreibt zwar China als den wichtigsten Gegenspieler der USA, doch die Aggressivität des Islam und seine angebliche Gegnerschaft zum christlichen Abendland durchziehen die Argumentationen in seinem Buch "Kampf der Kulturen". Das Gerüst dieses grob geschnitzten Werkes ist eine Klassifikation der Staaten nach ihrer Religion. Die Einordnung Russlands als orthodox und Chinas als konfuzianisch kann für jeden, der die fundamentale Areligiosität der russischen und chinesischen Bauern kennt, nur grotesk klingen.(3)"

Ein zweites Zitat:

"Der wohl bedeutendste Irrtum Huntingtons besteht darin, dass er die amerikanische Herrschaftssphäre auf das reduzieren will, was er "Okzident" nennt. Er bemäntelt die amerikanische Aggressivität mit kulturellen Besonderheiten, indem er die islamische Welt, das konfuzianische China und das orthodoxe Russland aufs Korn nimmt, aber die Existenz einer "westlichen Sphäre" voraussetzt, deren Natur selbst nach seinen Kriterien völlig unklar bleibt. In diesem zusammengewürfelten Westen werden Katholiken und Protestanten zu einem einzigen kulturellen und religiösen System vermengt; ein schockierendes Durcheinander für jeden, der sich mit den gegensätzlichen theologischen Anschauungen und Riten oder einfach mit den blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Gläubigen beider Konfessionen im Lauf der Geschichte befasst hat."(4)

Als ein weiterer Gegenentwurf zu Huntington wäre beispielsweise noch die im Jahr 1998 erschienene Publikation Müllers mit dem Titel "Das Zusammenleben der Kulturen. Ein Gegenentwurf zu Huntington"(5) zu nennen.

Die Anwendung eines vereinfachenden Modells - wie jenes Huntingtons - erkennen wir mit dem vorhin zitierten Todd in Hinblick auf den Westen leicht als problematisch, da wir mit der Pluralität und Komplexität in unseren eigenen Kulturbereichen besser vertraut sind. Bei anderen Kulturen, über die wir weniger informiert sind, sind wir dazu geneigt, vereinfachende und damit meist auch abwertende Kriterien anzuwenden. Daraus lässt sich die Aneignung einer verdrehten, entstellten und deformierten Auffassung vom Islam folgern, das tragischerweise durch mediale Vermittlung zusätzlich genährt wird. Heutzutage scheint ein derartiges "verdrehtes Islambild" fix und oft auch irreversibel im Bewusstsein einer eindeutigen Mehrheit der Bevölkerung westlicher Zivilisationen verankert zu sein. Den Entstehungsprozess dieser problematischen Haltung möchte ich nun anhand diverser Berührungspunkte der "westlichen" mit der "islamischen" Kultur historisch rekonstruieren und demonstrieren.

Seit der Expansionswelle des frühen Islam im siebten Jahrhundert ist eine gegenseitige Konfrontation sowie eine Befruchtung zwischen Orient und Okzident festzustellen. Europa pflegt jedoch seit dreizehn Jahrhunderten ein eher ambivalentes Verhältnis zum Islam, hing sein Überleben doch bereits mehrmals am seidenen Faden islamischer Interessen. Mit der spanischen Reconquista von El Andalus oder dem Sieg Eugens von Savoyen über Kara Mustafa vor Wien wurden Bild und Wahrnehmung Europas vom Islam entscheidend geprägt. Der Übereifer christlicher Heere machte alle Errungenschaften islamischen Einflusses auf das Abendland über Jahrhunderte vergessen. Seit Napoleons Ägyptenfeldzug leistete das 19. Jahrhundert einen weiteren bedeutenden Beitrag zur Exotisierung des Orients und somit zur Fremdheit der islamischen Welt. Toleranz als eine der wichtigsten Errungenschaften der europäischen Aufklärung wurde zum Fremdwort gegenüber dem Andersartigen, dem Andersgläubigen. Im späten 20. Jahrhundert prägten schließlich die Ausbreitung des muslimischen internationalen Terrorismus, des populistisch verdrehten islamischen Fundamentalismus und die muslimischen Migrantenströme die Wahrnehmung des Westens vom Islam als Feindbild. Völlig falsch wäre es jedoch, dem Islam jegliches Streben nach Aufklärung abzusprechen. Der Islam, der nie als ein monolithischer Block zu bezeichnen war und ist, umfasst die unterschiedlichsten Bewegungen, die sich um eine zeitgemäße Interpretation von Koran und Sunna bemühen. So beschäftigen sich etwa in der konservativen islamischen Republik Iran muslimische Theologen mit westlicher Philosophie und Soziologie, während im Westen die muslimische Philosophie kaum zur Kenntnis genommen wird. Viele muslimische Intellektuelle sind heute um eine tragfähige Synthese von Traditionalismus und Modernismus bemüht. War der Islam über Jahrhunderte aus dem westlich-europäischen Leben ausgeblendet, ist er heute politische Realität. Die islamische Identität, die aus der Religion bestimmt wird und in ihr wurzelt, eröffnet in ihrer doppelten Wahrnehmung verschiedene Problemdimensionen. Eine davon ist die kulturelle Ebene, dann jene des interkulturellen Dialogs, der religiöse und kulturelle Grenzen überwinden muss und außerhalb rein politischer Wertvorstellungen geführt werden sollte.

Die geringen Kenntnisse, die Bewohner des Westens generell von der islamischen Welt besitzen - dem sogenannten Orient - sind seit geraumer Zeit ein Anliegen von Edward Said. Sein 1978 in New York erschienenes Buch "Orientalism"(6) wurde zu einem der Gründungsbücher der postkolonialen Debatte sowie zu einer der einflussreichsten wissenschaftlichen Studien des 20. Jahrhunderts. Said wirft dem Westen im allgemeinen und der westlichen Wissenschaft im besonderen vor, ein monolithisches, zeitloses Bild des Islam entworfen zu haben, der als solches Phänomen eigentlich gar nicht existiert. In dieser westlichen Denkkonstruktion erscheint der Islam als "das Andere" - "The Other" schlechthin, das dem Westen von Grund auf unterlegen ist. Said meint, dass wir, um zu dominieren, die Menschen, die in einem Bereich zwischen Nordafrika und Mittelasien und Indonesien leben, vereinfachend und abwertend darstellen, sie als rückständig, intolerant und gefährlich aburteilen, und dass wir ihre kulturellen Unterschiede sowie ihre komplexe Geschichte ignorieren. Saids Definition nach ist der Orientalismus ein Denkstil, der auf ontologischer und epistemologischer Unterscheidung basiert, die zwischen "Orient" und "Okzident" gemacht wird. Der Westen, speziell England und Frankreich, hätte den Osten in einen Diskurs transformiert. Seit dem späten 18. bis ins 20. Jahrhundert wurde der Orient in einer Unmenge wissenschaftlicher, Reise- und phantastischer Literatur behandelt und darin zu einem vorproduzierten, rein imaginierten Konstrukt reduziert. Einer solchen orientalistischen Haltung folgend, wurden von westlichen Gelehrten Kulturen eines gesamten Kontinents in einer Reihe von Selbstbezügen rekreiert, die - wenn nicht Minderwertigkeit - zumindest das Bedürfnis von Verbesserung beinhalteten. Nach diesem Konzept betont der Orientalismus also explizit Kontrast und Differenz. Wie bereits erwähnt war der Osten als kulturelle Konstante immer ein Bild vom Anderen. Dieser Prozess einer komparativen Charakterisierung führte zur Polarisation von Unterscheidungen zwischen den beiden Kulturen, sowie zur Entstehung von binären Oppositionen. Der Westen wurde somit westlicher, rationaler, fortschrittlicher und überlegener; der Osten östlicher, irrationaler, zurückgeblieben in seiner Entwicklung und minderwertiger. Der Orientalismus war nach Said aber weitaus mehr als eine bloße wissenschaftliche Strömung. Als politische Doktrin förderte er die koloniale Aneignung und Inbesitznahme des Orients durch den Westen. Durch die von den Orientalisten geformten Bilder war die europäische Kultur dazu fähig, den Orient ideologisch, imaginativ, militärisch, politisch, soziologisch und wissenschaftlich zu organisieren und zu produzieren. Somit kann er durchaus als ein "westlicher Stil" zu dominieren, zu rekonstruieren und als Mittel der Ausübung von Autorität über den Orient bezeichnet werden. Eine zentrale Aussage Saids ist, dass der Orientalismus nicht nur als ein historisches Phänomen zu verstehen sei, da diese Gesinnung von einer bis heute andauernden politischen Aktualität sei. Der einzige Unterschied - so Said - ist, dass nun Amerika Hauptakteur sei, und nicht länger England und Frankreich wie in der Vergangenheit.

 

© Julia Allerstorfer (Diplomandin im Fach Kunstgeschichte, Wien)


ANMERKUNGEN

(1) Rufin, C., Die neuen Barbaren. Der Nord-Süd-Konflikt nach dem Ende des Kalten Krieges, München 1996.

(2) Huntington, S., The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs 73/1993, S. 22ff. Sowie: Derselbe, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996 / dtsch. Ausgabe unter dem Titel: Kampf der Kulturen, München 1995.

(3) Todd, E., Weltmacht USA: Ein Nachruf, München 2003, S. 54.

(4) Derselbe, S. 219.

(5) Müller, H., Das Zusammenleben der Kulturen. Ein Gegenentwurf zu Huntington, Frankfurt/ Main 1998.

(6) Said, E., Orientalism, New York 1978.


5.14. "Den Kunstbegriff gilt es auf Punktgröße zu verändern." Kunst als Raum der Kommunikation

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For quotation purposes:
Julia Allerstorfer (Diplomandin im Fach Kunstgeschichte, Wien): "Orient" und Okzident". Politische und kulturelle Spannungsfelder des 20. Jahrhunderts. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_14/allerstorfer15.htm

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