Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. September 2004
 

5.16. Apocalypse Now? Eschatologische Tendenzen in der Gegenwartsliteratur
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gregor Thuswaldner (Gordon College Wenham, Massachusetts)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Letzte Gedichte

Thomas Eder (Universität Wien)
[BIO]

 

Was können wir wissen von Apokalypse und Eschatologie? Was können wir wissen - auch aus produktions- wie rezeptionsästhetischer Sicht - von Apokalypse und Eschatologie, was über ein konkulturales und damit womöglich bloß metaphorisches Verständnis dieser Begriffe und mit ihnen verbundener Phänomene hinausreicht? Verweist denn eine solche alltägliche Gewißheit um das mit Apokalypse Gemeinte nicht unausweichlich ins Alltagssprachliche (wie etwa Albert Ehrensteins verniedlichendes Wort vom "Apokalypserl"(1) andeutet oder Fritz von Herzmanovsky-Orlandos Mutmaßung, "daß es Apokaliptische über Österreich einmal bei der Jausen hereinbröchen wird"(2)). Vermutlich, so der im Umfeld von Überlegungen zum Apokalyptischen und Eschatologischen entmutigende und zugleich seiner Widerlegung harrende Anwurf, nicht sehr viel. Denn eine diskulturale Lesart, die die Verbindung des zu untersuchenden Textmaterials mit dem, was es denn zu seiner Zeit bedeutet und bezeichnet haben könnte, aus dem Text selbst erschließen will, ist wohl unausweichlich einem hermeneutischen Zirkel ausgesetzt. Jedoch: Es ist womöglich gar nicht um Vermeidung dieses Zirkels zu tun, sondern - mit Heidegger gesprochen - um die richtige Art und Weise, in diesen nur hineinzukommen.

Der zentrale Bezugs-Text für jede Art von Auseinandersetzung mit dem Apokalyptischen ist wohl die Geheime Offenbarung des Johannes - einem derart starken Autor, wie jenem der johannitischen Apokalypse ist wohl nicht leicht in den Jahrhunderten seither zu begegnen - wenngleich die Attitüden mancher Autorinnen und Autoren auch eine solche starke Autorschaft des einen Gottes konnotieren lassen, gelegentlich. Auch mit dem vierfachen Schriftsinn, der Typologie und der Allegorese als deutenden Verfahren, kurz: mit allem, was diesen Text immer und durch die Jahrhunderte seiner Rezeption begleitet und ausgezeichnet hat, haben wir vermutlich unsere liebe Not. Einmal ganz beiseite gelassen die Frage, ob, und wenn ja, dann, wie diese Auslegungsverfahren für theologische Texte denn auf profane anzuwenden seien. Und so können wir vermutlich nur fragen, wie denn die Apokalypse des Johannes einst, immer und jetzt zu verstehen sein könnte, und sehen, wie denn Texte, die sich in irgendeiner Weise auf sie berufen, mit ihm zusammenhängen. Eine oberflächlich thematische Beziehung, also wenn etwa in Literatur von der atomaren Apokalypse die Rede ist, scheint nicht zu einer Bestimmung des Wesens des Apokalyptischen in der Literatur in Frage zu kommen, wenn man aus einem emphatischen Verständnis von Dichtung heraus und einer damit einhergehenden umfassenderen Deutung argumentiert, als sie viele apokalypse-adaptiven Texte nahelegen.

Ich möchte mit einer Wendung in der Deutung der Apokalypse im 18. Jahrhundert einsetzen, die auf den eigentlichen Gegenstand meines Kurzbeitrags, nämlich die jüngere österreichische Dichtung - vorausweist: Das 18. und das frühe 19. Jahrhundert brachten nicht nur mit dem Durchbruch eines nun endgültig radikal immanent gewendeten Fortschrittsdenkens und dessen alsbaldiger Infragestellung, sondern auch im Hinblick auf ihren spezifisch literarischen Charakter ein neues Verständnis der Johannes-Offenbarung.(3) Im gleichen Zeitraum, das den weiteren Zerfall des theologischen Auslegungsparadigmas und die ersten radikalen Zweifel an den pseudotheologischen Zukunftsverheißungen der Geschichtsphilosophie erlebte, behandelte Johann Gottfried Herder die spezifische Literarizität des Alten Testamentes (Vom Geist der Ebräischen Poesie, 1782/83). In den 1770er Jahren schon hatte er sich der Apokalypse zugewandt: "Johannes Offenbarung. Ein heiliges Gesicht, ohn' einzelne Zeichendeutung verständlich"(4) und ". Das Buch von der Zukunft des Herrn, des Neuen Testaments Siegel"(5) : Für Herder ist unzweifelhaft, daß die Johannes-Offenbarung "ein Buch für alle Herzen und alle Zeiten" ist, welches "das Wesen des Christentums und der Weltgeschichte" enthält. Gleichwohl - man sollte sagen: vielleicht gerade deswegen - tritt er für eine unbefangene, unvoreingenommene Wahrnehmung der apokalyptischen Bildlichkeit ein, die auf dem Hintergrund von Traditionen und Sprachgebrauch aus sich selbst heraus verständlich sei, und überläßt die eigentliche "Auslegung" des "vielleicht [ ... ] tiefste[n] und verschlossenste[n] Buch[es] des N.T." "der Seichte oder Tiefe jedes einzelnen Lesers"(6) . Herder fordert, daß die Bilder "die Deutung, den offenbaren Sinn in sich selbst haben"(7). Er nimmt sich vor, "nichts zu erklären, was nicht selbst spricht, kein Bild bedeuten zu laßen, was es nicht, nach der gewöhnlichen Landessprache und Landessitte, selbst bedeutet", will nur den "Umriß" zeichnen, nur zeigen, "woraus das Bild, der Geschichte, dem alten Testament und der Seele des Johannes nach, etwa genommen sei? und in welche Züge es sich kleide, um verständlich zu werden?"(8) Entsprechend verfährt er in seiner kommentierenden Praxis, etwa bei den Bemerkungen zum Thronbild Offb. 4, 6-8.40. Die Eigenlogik des sprachlichen Bildes, an der sich die spätere Moderne produktions- wie rezeptionsästhetisch orientiert, fand gerade im Theologen Herder einen frühen Anwalt, übrigens in der folgenden Stelle gerade als Unterscheidung von der systematisch-gelehrten Lektüre Newtons ("Newton fit son Apocalypse"): "Wers verschmäht, als Kind zu sehen, als unbefangener, sinnlicher Mensch die Bedeutung auf sich sprechen zu lassen; der ist kein Leser weder des Buchs, noch seiner Deutung [ ... ] Für einen Tauben spricht man nicht und der Mahler mahlt nicht für Blinde".(9) Herder schließt auf die "Schöne Probe, wie Gott offenbahret. Er verrückt nicht den Kopf: Johannes hatte gesehen: er kannte die Bilder, konnte in ihnen den höhern Sinn der Weissagung fassen und weil er davon gewiß innig gerührt war, auch schildern. Wie wirs sehen. Er überläßt nicht, zu räthseln, zu deuten."(10)

Diese Herdersche Lesart, die auch als eine initiale poetische Deutung der Offenbarung bezeichnet worden ist, scheint schon mit ungleich größerem Recht auf jene Poesie übertragbar, wie ich sie schlagrißartig auf ihre apokalyptischen Komponenten hin beleuchten möchte. Denn, wie oben angedeutet: Das thematische, inhaltliche, stoffliche oder wie auch immer gestaltete Vorliegen von sogenannten apokalyptischen, eschatologischen Sujets scheint für mich bestenfalls über einen sehr vermittelten, alltäglichen Gebrauch der Worte Apokalypse und Eschatologie mit dem von ihnen Bezeichneten zusammenzuhängen - in einem oberflächlichen, aber wohl kaum poesiegemäßen Sinn. Was als kritische Befragung von Gedichten, auf die ich hier eingehen möchte, auf dem Spiel steht, könnte sein: Tritt hier an die Stelle des einen, mächtigen, verlorenen Autors nicht die Poesie selbst? Und ist diese apokalyptische Wendung von so genannten sprachthematisierenden Gedichten (ein Hilfsbegriff, aber bessere scheinen wir nicht zu haben) in einem weiter reichenden Sinn angemessen als die metaphorisch-oberflächliche, so daß diese Gedichte mit größerem Recht als eine - wohl als contradictio in adjecto bezeichenbare - zeitgemäße Offenbarung gedeutet werden können? Die Brücke, wenn es denn eine ist und keine von der Art der "Scheinbrücken" Nietzsches, könnte im Umgang mit Bild und Bildlichkeit in den zu betrachtenden heutigen Gedichten liegen - hier scheint in der Tat eine Anknüpfung an Herders Lesart der Apokalypse des Johannes gegeben, die womöglich über das Akzidentielle hinausreicht und in den Kern zumindest des Poetischen (oder auch, und das ist eine weitere Frage des Religiösen oder Sakralen) weist.

Denn die - wie es Martin Mosebach in seiner katholisierenden Czernin-Lektüre(11) nennt - "Scheu oder Scham der Sprache gegenüber als notwendige Voraussetzung für die Entstehung von Czernins Poesie" ist es, die "Czernin daran hindert zu glauben, das unvermittelte Bezeichnen von Themen oder Motiven reiche aus, sie darzustellen." Mosebach unterstellt den jüngsten Sonetten Czernins(12), daß in ihnen ganz im Gegensatz zu Czernins Frühwerk, keineswegs ein protestantischer Ikonoklasmus in folglich abstrakter, bilderloser Gedichtsprache modelliert werde, sondern daß ganz im Gegenteil nahezu ein Zwang zu Bildhaftigkeit, ein invertiertes Bilderverbot herrsche. Die Gedichte Czernins treiben damit ein doppeltes Spiel: das Bildhafte der idiomatischen Wendungen wird erneuert und wieder wirksam, und dennoch kommt durch dieses Bildhafte einiges von dem zur Sprache, was auch alltäglicherweise damit gemeint ist. Anders ausgedrückt: Das Bild steht immer im Zusammenhang mit einem Begriff oder einer Idee. In diesen Gedichten schlagen, um es mit Kant und Karl Kraus zu sagen, Begriffe und Anschauungen einander die Augen auf.

Das Entscheidende ist hier, daß die Zweistimmigkeit - Bild und durch das Bild ausgedrückter Gedanke - konsequent durchgeführt wird. Tatsächlich scheint eine Regel alle Gedichte mindestens so sehr zu bestimmen wie die im übrigen zumeist streng befolgten Formregeln des Sonetts: Jeder Gedanke muß in einem Bild verkörpert werden, und jedes Bild muß auch einen Gedanken ausdrücken. Diese strenge Regel, die ein gleichsam umgekehrtes Bilderverbot, nämlich das Verbot bildloser Abstraktion darstellt und eigentlich nichts anderes als eine katholische Verkörperungs- oder Inkarnationsregel ist, eröffnet erst den Spielraum, die Dinge, die immer schon gesagt worden sind, auf andere, und man muß sagen, auf neue Weise zu sagen.

So sind diese Gedichte gleichermaßen verkörpertes, also bildhaftes Denken wie auch auch ein Denken in Bildern oder Körpern. Das Gedachte wie das Bildhafte erfahren dabei eine Verwandlung: Das Bild wird aufgehoben durch seine Vereinigung mit dem Gedanken, den es verkörpert, es wird gleichsam spiritualisiert oder idealisiert; das Bild wird aus seiner ihm ansonsten anhaftenden stofflichen Unvermitteltheit gelöst, es wird konzeptuell und übertragbar und zugleich als Ergebnis von Übertragungen verständlich. Der Gedanke aber wird dabei, umgekehrt, verkörpert oder inkarniert, und auch er erfährt dabei eine Verwandlung: Denn er wird von seiner Abstraktheit und Wirkungslosigkeit erlöst und in eine körperlich fühlbare und wahrnehmbare Kraft verwandelt.(13)

Und so ist folgendes "sonett, mit rössern"(14) womöglich auch als ein durch, mit und gegen die Rezeptionsgeschichte der Apokalypse heimgeholtes Gedicht der apokalyptischen Reiter und Rösser zu lesen. Heimgeholt insofern, als es - bedingt durch die Entwicklung von menschlichen Selbstkonzepten mit einem Hang zur Aufwertung von Individualität - diese Reiter und Rösser in "uns selbst" verlegt und zugleich seine Ansprüche an das einzige Mittel stellt, solche Erfahrungen in der Literatur wirksam zu machen: an die Sprache.

sonett, mit rössern
uns zündend selbst, doch wund gescheuert, wild gemacht
durch all dies zeug, so bissig, heiss davon geritten,
schmerzhaft anspannen, -spornen dies, dadurch entfacht,
entfesselt uns, doch stehn auch, sattelfest, inmitten
von flammen, ziehn den kreis: sind stoff, der treibt wie brennt,
brechend die bahn, da brand die rede hoch uns schwingt,
lostreten das, was züngelnd übergreift uns, -rennt
von haupt bis schwanz, doch auch gezäumt, dass dies entringt
einlenkend wie ausschweifend sich: auflodernd gehen
durchs eigne feuer jetzt, versprengt fast ausser band,
ja, rand, doch bringen dies zum punkt, die runde drehn:
uns geben, nehmen überkopf wie -hals und -hand,
rings übertragen, -springen, doch auch wörtlich im geschehn,
fast zügellos, es halten, hellauf selbst, gebannt.

Aus dieser Perspektive ließen sich Czernins Sonette womöglich tatsächlich als ein tiefgreifender Kampf mit dem religiösen oder sakralen Ursprung der Poesie deuten, mit der Implikatur von Religion und somit Apokalypse in einem gegenwärtigen, konkulturalen Verständnis, das paradoxerweise auch das je Vergangene mit einbegreift. Und vielleicht ist es tatsächlich so, daß nur wenn "eine Dichtung über die Kraft verfügt, Hohes oder Erhabenes, wie es mit dem Mythischen beziehungsweise Sakralen einhergeht, gegenwärtig zu machen, sie diese Sphären ohne peinliche Anmaßung berühren kann."(15) Das unterscheidet Czernins Ansatz z.B. von Becketts "Endspiel", das mit George Steiner als Allegorie auf folgende Frage gelesen werden kann: "Welche Bedeutung verbindet sich mit der Vorstellung der Erschaffung expressiver und exekutiver Formen, die wir ,Kunst' und, so glaube ich, ,Philosophie' nennen, wenn die theologische Möglichkeit im umfassenderen Sinne in den Mülleimer geworfen wird".(16)

Und vielleicht, so könnte ein weiterer kühner Brückenschlag (mit der Gefahr, nichts als eine weitere Scheinbrücke aufzurichten) mutmaßen, hat der zwanghaft bildhafte Zug in Czernins Gedichten und ihr Wieder- und Heimholen des Sakralen als des Ursprungs der Poesie in deren beständige enthüllende Wiederholung etwas mit dem apokalyptischen Ton vom Ende gemeinsam, wie ihn Derrida beschrieben hat: "Aber die Wahrheit natürlich [...] Die Wahrheit selbst ist das Ende, die Bestimmung, daß die Wahrheit sich enthüllt, ist die Vollendung des Endes. [...] Das Ende beginnt, bedeutet der apokalyptische Ton. [...] Dieser Diskurs oder besser [...] dieser Ton des Wachens im Augenblick des Endes [...], er zitiert oder verdoppelt im Widerhall immer gewissermaßen die Apokalypse des Johannes oder zumindest die grundlegende Szene, die bereits die johannitische Schrift bestimmt."(17)

Ein solches gleichsam Vertrauen in die apokalyptischen Potentiale der Poesie, ihr beständiges Wiederholen der Realpräsenz der Dinge im Wort und im Bild, wie es den Sonetten Czernins als einer Ausdeutung der Bildkaskaden der Johannes-Apokalypse eignet, ist aber wahrscheinlich nicht der einzige Zugang, den die zeitgenössische sprachthematisierende Dichtung findet. Als entscheidender, hier ausgesparter Beitrag ist die direkte Um- und Weiterschrift der Johannes-Offenbarung in Ferdinand Schmatz' "das grosse babel,n"(18) zu nennen.

Es ist aber auch ein Zugang denkbar, der sozusagen auch noch das Ende des Endes, die Apokalypse der Apokalypsen preisgeben muß als Ununterscheidbarkeit von endgültiger Vernichtung der Apokalypsen und ihrer triumphalen Wiederkehr. Es könnten dies, bezogen auf die Dichtung, dichterische Ansätze sein, die als so bezeichenbare "Letzte Gedichte" am Ende der Vision stehen, in der Form der Dichtung etwas über die Welt aussagen zu können. Diese Gedichte brechen radikal skeptisch mit der positiven Vorstellung des "All-Erlebnisses" in der Poesie, so daß am Ende nicht nur nicht einmal mehr die poetische Rede etwas über die Welt aussagt, sondern sich die Existenz einer so und so bestehenden Welt als unhaltbare Fiktion erweist.

Als andeutendes Zitat einer solchen dichterischen Letztstellung sollen hier zuletzt zwei Gedichte von Reinhard Priessnitz erwähnt werden, die ich ebenso wie jenes von Czernin - doch mit dem eminenten Unterschied der "(Dichtungs-)Gläubigkeit" bei Czernin und der Skepsis bei Priessnitz - für Letzte Gedichte halte, die Eschatologie in einem nicht oberflächlichen, zeitgemäßen Sinn modellieren:

in stanzen
des innren lebens wunderliches pflanzen,
des äussren lebens widerliches tönen,
es öffnet schliesslich sich dem schleissig ganzen
als saure sterne am vermeintlich schönen,
mit essig und mit öl garniert zu stanzen,
beginnt es wirklich nerven zu durchföhnen,
wenn es, unwissentlich, aus seinen chören
das weitre immer wörtlich meint zu hören:
nämlich das wissen, dass, mit dichten stiften,
was dichter stiften, stifter dichten: nervung;
das windig wirkliche in allen schriften,
gestanzt von den instanzen der verwerfung
(es droht, ins tanzen fallend, abzudriften
und glaubt, ins fallen tanzend, als verschärfung
des äussren wissenskurses fortzusteuern
und somit wieder innres zu durchsäuern),
so äussert es das äussre, fehlberaten,
von wieder wunderlichen nerven, bildern
in widerlichen wundern, sternen, saaten,
um alles weitre wissentliche zu vermildern
und zwar in immer gleichen schriftsalaten,
um so sich selbst da draussen hinzuschildern
und wirkliches von wörtlichem zu lösen,
als das vermeintlich innre am nervösen.(19)

Grob gesagt(20): In diesem Gedicht geht es um das Verhältnis von inneren, mentalen Zuständen zu ihrer physikalischen, äußerlichen Komponente - mit dem desaströsen Ergebnis, daß wohl weder wissenschaftliche, mythische, religiöse oder poetische Sphäre und dazugehörige Äußerungsformen etwas über dieses Verhältnis unseres und des menschlichen Geistes "In-der-Welt-Seins" aussagen können. Und die schon in einem anderen Gedicht anklingende radikale Bildskepsis Priessnitz' bahnt sich hier ihren Weg: Schon in dem Gedicht "triest" hatte es geheißen:

triest
1   wären manche unsrer meere um so manches seichter,
    hätte es der anstand mit dem handstand leichter leichter,
    falls erfordernis dereinst an ihn gerät, in see zu stechen,
    sozusagen durch die wellenschaft hin durch zu brechen
5   und zu singen, was ihm sonsten nur obliegt zu schildern: 
    dass er, wären manche unsrer meere um so manches tiefer,
    bilder lieferte, die mehr um manches manchen bildern
    glichen, die durch andre seichten sozusagen schiefer
    als die ausgefallnen fielen, die er nur erzwungen,
10 wo hingegen grade seichtheit solche - durch bestechung,
    mehr als dieses meer zu meistern, das durch niederungen
     ja vermehrtes sei - äh, mindrer, sozusagen, sprechung
     an die oberfläche drücke, nämlich untief schöne,
     so dass dann das meer mit seinen vielen wellenmassen
15  in so manchem maasse ihn dran hindre, dass er töne:
    dass es ihm unmöglich scheine, sie als bild zu fassen,
     welches man erwarte, dass er es durch manche zwänge
     doch in seinen griff bekomme, weil es ja mit faulen
     zwängen seinerseits ihn es doch abzubilden dränge
20 und versuche, ihn durch manche schübe zu vergraulen,
    welche es, als nasser träger unsrer trocknen plätze,
     unaufhörlich schicke, dass er sich daran berausche, 
     dass es aber sein geschick bei weitem überschätze,
     das in anderm ab bestehe, als in solchem tausche,
25 ja, dass eben dieses schöne wogen ihn um manches hindre,
     das gewellte auch nur anstandshalber zu begreifen,
     was, im engern sinn, sein tuen wieder etwas mindre,
     wo es ihn schon so dazu verleite, abzuschweifen:
     dass er, wären wie sie sind, die meere, meere,
30 nämlich sozusagen grosse schlabbrigfeuchte reize,
    keinen anlass sähe, dass er ihren trübsal kläre,
    weshalb er, erforderlichenfalls sich etwas spreize,
     auch wenns gälte, dass er eigentlich als feste brücke,
     was da angesammelt aus so vielen wellenbündeln
35 quasi transportiere, dass ers aber unterdrücke,
    weil es manchmal nicht so leicht sei, sich durch sie zu schwindeln.(21)

An der hier geschilderten bzw. besungenen - so eine der das Gedicht leitenden Oppositionen - Bildskepsis und an der Skepsis gegenüber der Erkennbarkeit innerer Zustände in "in stanzen" ließe sich so etwas wie ein "Skeptizismus zweiter Ordnung" festmachen, der die Cartesische Gewißheit, "daß ich weiß, was ich denke", in Zweifel zieht. Und so könnten diese Gedichte gleichsam, als Aspekt ihrer Deutung, nahelegen: Indem sie sich als Gedichte (d.h. nicht wahrheitsfähig) über die Möglichkeit, etwas über das Verhältnis von inneren, mentalen und äußeren, physikalischen Zuständen auszusagen, äußern und Bilder davon vorschlagen, beziehen sie sich damit auf sich selbst als ein dieser Beziehung Äußerliches stärker, als auf diese Beziehung selbst. Analog zu einem Beispiel von Hilary Putnam, daß, wären wir Gehirne im Laboratorium, der Satz "Wir sind Gehirne im Laboratorium" falsch ist, wenn er wahr ist, weil er sich nicht auf Referenten, sondern auf Vorstellungen von Referenten bezieht, könnte das für die zu untersuchenden Gedichte heißen: Wenn sie sich durch ihr Vorliegen als Gedichte auf die Beziehung innerer und äußerer Zustände beziehen, so beziehen sie sich nicht auf ein - in welchem Sinn auch immer - reales Verhältnis innerer und äußerer Zustände und auch nicht auf die Realpräsenz suggerierenden Bilder davon, sondern auf Vorstellungen dieses Verhältnisses.

Und dieser im Gedicht empfundene Mangel an Kohärenz und Wahrheitsfähigkeit seiner poetischen Erklärungsmodelle gerinnt in der zu untersuchenden Dichtung gerade nicht zu einer nur aufgesetzten, aus Philosophemen illustrierend abgeleiteten skeptischen Position. Diese Gedichte denken die Implikationen von einer durch das Gedicht prozessual und dynamisch hervorgebrachten "progressiven Universalskepsis"(22) an ein - in jedem tiefen Sinn des Wortes verstehbares - Ende. 

© Thomas Eder (Universität Wien)


ANMERKUNGEN

(1) Zit n. Gerhard R. Kaiser: Apokalypsedrohung, Apokalypsegerede, Literatur und Apokalypse. Verstreute Bemerkungen zur Einleitung. In: Ders. (Hg.): Poesie der Apokalypse. Würzburg: Könighausen & Neumann 1991. S. 7-31; S. 30.

(2) Zit. n. ebda.

(3) Vgl. hierzu und zum folgenden: Gerhard R. Kaiser: Apokalypsedrohung, Apokalypsegerede, Literatur und Apokalypse (Anm. 1), S. 16f.

(4) Johann Gottfried Herder: Johannes Offenbarung. Ein heiliges Gesicht, ohn' einzelne Zeichendeutung verständlich In: Ders.: Sämtliche Werke. Hgg. v. Bernhard Suphan. Hildesheim: Georg Olms Verlagsbuchhandlung 1967. Bd. IX, S. 1-100. [Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1893].

(5) Ders.: . das Buch von der Zukunft des Herrn, des Neuen Testaments Siegel. In: Ders.: Sämtliche werke, (Anm. 4), S. 101-288.

(6) Ders.: Johannes Offenbarung (Anm. 4). S. 3.

(7) Ebda., S. 6.

(8) Ebda., S. 100.

(9) Ders.: (Anm. 5), S. 247.

(10) Ders.: Johannes Offenbarung (Anm. 4). S. 32.

(11) Martin Mosebach: elemente, sonette. In: manuskripte. Hgg. v. Alfred Kolleritsch u. Günter Waldorf. Graz 2003, H. 259, S. 126-134.

(12) Franz Josef Czernin: elemente, sonette. München: Hanser 2002.

(13) Vgl. zu diesem Abschnitt: Martin Mosebach. elemente, sonette (Anm. 11), passim.

(14) Franz Josef Czernin: elemente, sonette (Anm. 12), S. 79.

(15) Martin Mosebach: elemente, sonette (Anm. 11), S. 133.

(16) George Steiner: Grammatik der Schöpfung. München: Hanser 2001

(17) Jacques Derrida: Apokalypse. Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie. Hgg. von Peter Engelmann. Wien: Passagen 2000. S. 64.

(18) Ferdinand Schmatz: das grosse babel,n. Innsbruck: Haymon 1999. Vgl. dazu den Text von Ute Eisinger in diesem Band.

(19) Reinhard Priessnitz: vierundvierzig gedichte. Graz, Wien: 42004. S. 42. [= werkausgabe reinhard priessnitz, hgg. v. ferdinand schmatz, bd. 1].

(20) Zu einer einläßlichen Interpretation vgl.: Thomas Eder: Unterschiedenes ist / gut. Reinhard Priessnitz und die Repoetisierung der Avantgarde. München: Wilhelm Fink 2003. S. 269-342.

(21) Reinhard Priessnitz: vierundvierzig gedichte (Anm. 19), S. 35.

(22) Vgl. Franz Josef Czernin: Die Schreibhand. Zu Reinhard Priessnitz' Gedicht heldin. Wien: Sonderzahl 1997.S. 65.


5.16. Apocalypse Now? Eschatologische Tendenzen in der Gegenwartsliteratur

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For quotation purposes:
Thomas Eder (Universität Wien): Letzte Gedichte. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_16/eder15.htm

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