Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. September 2004
 

5.16. Apocalypse Now? Eschatologische Tendenzen in der Gegenwartsliteratur
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gregor Thuswaldner (Gordon College Wenham, Massachusetts)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Apocalypse now, and now, and now ...
Beobachtungen zu Literatur und Apokalypse bei Ernst Jandl, Imre Kertész, Heiner Müller und Elfriede Jelinek

Michael Hammerschmid (Wien)

 

1 Die private Apokalypse. Ernst Jandl und Imre Kertész

das feuer
 
die kamine sind schwarz
die schornsteine altern
die dächer sind undicht
die tauben werden behäbig
 
aber eines tages kommen sperlinge
und schießen die tauben ab
jeder sperling schießt eine behäbige taube ab
und die tauben haben keinen saft nur ausgeglühten draht
unter den schäbigen federn
 
dann kommen die kamingeier
und hacken den verschlafenen schornsteinen die augen aus
reißen den übernächtigen schornsteinen die wangen auf
und scheißen in die kamine
 
dann kommt der sturm
die braut des untergangs
fegt die klappernden ziegel von den dächern
fährt in die schwarzen hälse der häuser
und holt aus den öfen
das feuer heraus
 
da wärmt das feuer nicht mehr
über die wünsche der mutwillig beschützten weg
da wärmt das feuer nicht mehr
 
über die striemen der rechtmäßig mißhandelten weg
da wärmt das feuer nicht mehr
über die tränen der zwangsweise geliebten weg
da wärmt das feuer nicht mehr
über die schmerzen der unwillig gebärenden weg

Nachdem in diesem Gedicht Ernst Jandls die Kamine schwarz und die Dächer undicht geworden, nachdem "kamingeier" da gewesen sind, um den "verschlafenen schornsteinen" die Augen auszuhacken, und nachdem der Sturm schon ins Haus gegriffen hat, wird mit der geradezu biblisch klingenden Zeile "da wärmt das feuer nicht mehr" gleichsam die Grundlage von Leben und Geborgenheit aufgesagt. Das Feuer, seit der Prometheus-Sage Zeichen für menschliche Selbständigkeit und Zivilisation ist außer Kraft: es wärmt nicht mehr. Was die Menschen dereinst den Göttern gestohlen haben, holen sie sich hier zurück. Doch in dem Gedicht gibt es keine Götter mehr. Sie sind abhanden gekommen, könnte man vermuten, so wie das Feuer. Es scheint so, als gäbe es an diesem Ort der "rechtmäßig mißhandelten", der "zwangsweise geliebten" der "unwillig gebärenden" nichts mehr zu holen.

"das feuer" ist das letzte in Ernst Jandls, von seinem Lektor Klaus Siblewski posthum zusammengestellten Gedichtband "letzte gedichte". Das Gedicht selbst stammt, wie Siblewski in seinem Nachwort anmerkt, bereits aus den frühen 50er Jahren und setzt ein apokalyptisches Szenario ins Bild, das nicht zuletzt durch den biblischen Ton ("da wärmt das feuer nicht mehr") und durch die Grundsätzlichkeit und Ausweglosigkeit der Situation erzeugt wird. Das Gedicht ist in einem für die Apokalypse bezeichnenden mythischen Zustand, in dem die Unterscheidung von Dinglichem und Lebendigen durchlässig und ununterscheidbar ist. Das Haus erscheint wie ein Lebewesen und die Tauben wie Dinge: "und die tauben haben keinen saft nur ausgeglühten draht / unter den schäbigen federn". Immer noch, könnte man daraus schließen, sind die Grundfragen der europäischen Zivilisation mit den beiden großen Mythen, der griechischen Kultur und der Bibel verknüpft. Gleichsam als wäre es kaum denkbar, solche Fragen in dieser Grundsätzlichkeit anders als in Bezug auf diese beiden Quellen zu stellen. Im 20. Jahrhundert müsste man mit Imre Kertész ein weiteres Ereignis von grundsätzlicher zivilisatorischer Bedeutung hinzunehmen, das diese Zivilisation grundsätzlich in Frage stellt, den Holocaust. "Auschwitz und alles, was damit zu tun hat (aber was hat schon nichts damit zu tun?), ist das größte Trauma der Menschen in Europa seit dem Kreuz, auch wenn es vielleicht Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern wird, bis sie sich dessen bewusst werden"(1), schreibt Kertész in seinem Galeerentagebuch. In gewissem Sinn könnte man daraus für unser Thema folgern, bezieht sich apokalyptisches Schreiben, Denken und Schaffen "notwendigerweise" auf eine oder mehrere dieser kulturellen bzw. antikulturellen Ereignisse, auf den Holocaust, auf die Erzählung vom Tod Christi, auf die griechische Mythologie. Ohne diese These aufzulösen, sie aber dialektisch modifizierend, steht das persönliche Schicksal jedes Einzelnen dieser These gegenüber, für den der eigene Untergang immer auch eine Art allgemeiner Untergang bedeutet. Es gibt ein sehr berühmtes "letztes" Gedicht, in dem beides bis zu einem gewissen Grad zusammenkommt: Georg Trakls Gedicht "Groddeck", benannt nach dem Kriegsschauplatz, in dem gleichsam privates Schicksal, Trakls Selbstmord, und gesellschaftlicher Zustand, das Wüten des Ersten Weltkriegs, für einen Moment verwechselbar werden.

GRODEK
2. Fassung
 
Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.
Doch stille sammelt im Weidengrund
Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt
Das vergossne Blut sich, mondne Kühle;
Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.
Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen
Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,
Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;
Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes.
O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre
Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,
Die ungeborenen Enkel.(2)

Möglicherweise verdankt das Gedicht seine Bekanntheit nicht zuletzt dem Umstand, als Erlebnisdichtung verstanden und möglicherweise auch missverstanden worden zu sein. Mithin einem Verständnis von Dichtung, das ein Gedicht wegen seiner zeitlichen und räumlichen Nähe zu einem Ereignis bzw. Erlebnis für besonders authentisch und unmittelbar hält. Ernst Jandls Gedicht "das feuer" ließe sich in gewissem Sinn als Remedium gegen die Überschätzung des authentischen Gehalts von Dichtung lesen. Freilich nützt auch Klaus Siblewski den Effekt, die letzten Fragen, die sich Jandl schon als 20jähriger gestellt hat, mit dem Tod Jandls (verlegerisch) in Verbindung zu bringen. Doch wird diese Strategie im Nachwort des Buches transparent gemacht und so auch zur Diskussion gestellt.

Ich möchte der Spur und Frage des Privaten in der Literatur der Apokalypse noch ein Stück in Bezug auf Ernst Jandl folgen, dessen Dichtung so etwas wie einer privatapokalyptischen Tendenz zu folgen scheint. Privatapokalyptisch, das ist zweifellos ein paradoxes Wort, mit dem sich vielleicht die Spannung, die eben angedeutet wurde, auf einen Begriff bringen lässt: Die Spannung zwischen allgemeiner, gesellschaftlicher, mythischer Apokalypsen-Erzählung und dem privaten, persönlichen, ja intimen Erlebnis des eigenen, möglichen oder sich bereits ankündigenden Untergehens. Besonders Ernst Jandls Gedichte in "heruntergekommener Sprache" geben einprägsame Beispiele für diese privatapokalyptische Tendenz. Diese Gedichte Jandls bringen im weitesten Sinne des Wortes "herunterkommen" das Zu-Ende-Gehen, Am-Ende-Sein, Nicht-mehr-weiter-Können und andere Grenzzustände zum Ausdruck. Sie fragen in gewissem Sinn nach den letzten und äußersten Dingen; und das meist abseits der großen mythischen Erzählformen. Ja in gewissem Sinn sogar im Gegenteil: Sie lassen sich als Dokumente apokalyptischer Bilder und Prozesse lesen, wie sie in erster Linie im täglichen und alltäglichen Leben entstehen. Etwa, wenn man nicht mehr weiß, wie man etwas sagen kann und wenn einem alle Worte fehlen, sich auch nur irgendwie auszudrücken.

von leuchten
 
wenn du haben verloren den selbst dich vertrauenen als einen
schreibenen; wenn du haben verloren den vertrauenen in den eigenen
kreativitäten; wenn du haben verloren den methoden, den techniken
zu richten den lebendigen und den toten; wenn du haben verloren
den zusammensetzen von worten zu satzen; wenn du haben verloren
den worten überhaupten, sämtlichen worten, du haben
nicht einen einzigen worten mehr: dann du vielleicht
werden anfangen leuchten, zeigen in nachten den pfaden
denen hyänenen, du fosforeszierenen aasen!(3)

In diesem privaten Untergang der Sprache kommt es zu einer Art Umschlagen ins Zeichenhafte. Der da spricht, verliert sein angeborenes Vermögen, seine Fähigkeit, seine Souveränität, die eigene Sprache zu gebrauchen, und genau in diesem Zustand entsteht mit dem "leuchten" gleichsam wie von selbst eine neue, eine zeichenhafte Sprechweise. In gewissem Sinn lassen sich die "methoden" und "techniken" "zu richten den lebendigen und den toten", die wie eine Reminiszenz an die apokalyptische Erzählung auftauchen, als deren Rückseite lesen. Als wäre in jedem Sprechen auch ein Richten enthalten, und das Gedicht mahnt (es spricht ja von einer Möglichkeit des Sprachverlusts und ist ähnlich wie die Apokalypse konditional konstruiert), dass es zu einem solchen Verlust kommen könnte. Anders ausgedrückt: Es kündigt die Möglichkeit zu richten, die Apokalypse, apokalyptisch, mithin mit den Mitteln eines apokalyptischen Sprechens, auf. Gerade weil sich das Gedicht noch an jemanden wendet, und sei es auch an sich selbst, ist die liminale Sprache, die es spricht, nicht autistisch in der Art einer Privatsprache in sich verloren. Es fordert viel mehr die Frage nach dem Sprecher heraus. Wer spricht da eigentlich? Auf die Präsenz dieser grundsätzlichen Frage in Jandls heruntergekommenen Gedichten hat mit großem Spürsinn der ungarische Schriftsteller Istvan Eörsi hingewiesen.(4) Die in ihr ausgedrückte Ungewissheit hat unter anderem zur Folge, dass nicht nur jemand bestimmter, etwa der Autor, sondern, sozusagen jeder als ein solcher, als ein existenziell in Frage-Stehender spricht. Das heißt, dass sich jeder in diesem Gedicht gewissermaßen zu einem solcherart Fragenden verwandeln kann, ohne sich mit diesem identifizieren zu müssen. Und die Apokalypse wird dabei zu einer möglichen, alltäglichen Frage.

Auch bei Imre Kertész gibt es diese Durchdringung von apokalyptischer Rede und notwendig persönlichem Erleben. In seinem Roman Kaddisch für ein nicht geborenes Kind erzählt der gleichsam dialogisch monologisierende Erzähler eine Episode aus seiner Schulzeit, in der das sogenannte Appellbuch des Direktors für das Kind zu einem apokalyptischen Buch wird:

"In diesem Augenblick, im Augenblick der allseitigen Erschütterung, der Seufzer, ja des totalen Zusammenbruchs, trat an der Spitze der Lehrerschaft der Direktor ein. Man nahm Platz. Tödliche Stille. Aufsetzen der Brillen. Einiges Räuspern und Stühleknarren. Jetzt, da die Spannung nicht mehr zu steigern war, wurde das schwarze Buch der Apokalypse geöffnet. Jeder war verzeichnet und alle Sünde, alle Tugend eines jeden. Der Reihe nach wurden die Namen aufgerufen."(5)

Die Katastrophe des Kindes gerinnt hier zum Bild eines Weltuntergangs, zur Apokalypse. Die Autorität des Direktors stellt sich dem Kind als totale, totalitäre Macht dar, die die Sprache der allgemeinen Existenz, man könnte darin die apokalyptische Sprache sehen, natürlich erscheinen lässt. Die Szene ist hier aber auch eine Art Vorgeschichte zur nächsten Apokalypse im Leben des Erzählers, zu Auschwitz. Die Wiederholung der Zerstörung lässt sich strukturell mit der Anlage der biblischen Apokalypse-Erzählung bei Johannes vergleichen. Das Zerstörte wird auch dort nicht nur einmal, sondern vielfach zerstört. Das Erschreckende ist dabei, dass selbst in der äußersten Zerstörung noch so etwas wie Phantasie aufzutauchen scheint, die gewissermaßen schon in ihrem kreativen Moment in ihr Gegenteil, ins Töten umschlägt.(6) Die Literatur des Imre Kertész ließe sich von hier aus als eine Art Gegenrede zu dieser Art der mörderischen Phantasie verstehen. Gerade der Roman Kaddisch setzt ein ausschweifendes, regelloses Sprechen in Gang, das wie wuchernd vor sich hinredet und dabei abschweift, stolpert und ausgreift. In gewissem Sinn ist dieses Reden genauso ungeschützt und offen wie jenes der Jandlschen Gedichte in heruntergekommener Sprache. Es folgt einem geradezu unbezwingbaren Drang sich zu artikulieren und drückt dabei mehr dieses Grundbedürfnis der Rede aus als einen vorbestimmten Inhalt. Der Redner in Kaddisch fühlt sich denn auch von seinem Redezwang getrieben, der ihn meist überfalle, wenn er schweigen möchte, "wobei mein Redezwang nichts anderes ist als ein lautes Schweigen, ein artikuliertes Schweigen"(7). Die Stille ist in gewissem Sinn jener Ort der Rede, in dem oder durch den sich das Verborgene ausdrückt. Nimmt man den Begriff der Apokalypse wörtlich, so wäre allein in dieser Stille der (Wahrheits-)Gehalt der Apokalypse zu finden.(8) Apokalyptik ließe sich von hier aus als eine kulturelle Technik des Entdeckens und Erkennens verstehen, die auf der Ebene der Kultur gewissermaßen das bedeutet, was auf jener des Subjekts Katastrophe, Unglück, der Selbstmord bedeuten können.

 

2 Ewige und unmögliche Apokalypse bei Heiner Müller und Elfriede Jelinek

DER GLÜCKLOSE ENGEL. Hinter ihm schwemmt Vergangenheit an, schüttet Geröll auf Flügel und Schultern, mit Lärm wie von begrabnen Trommeln, während vor ihm sich die Zukunft staut, seine Augen eindrückt, die Augäpfel sprengt wie ein Stern, das Wort umdreht zum tönenden Knebel, ihn würgt mit seinem Atem. Eine Zeit lang sieht man noch sein Flügelschlagen, hört in das Rauschen die Steinschläge vor über hinter ihm niedergehn, lauter je heftiger die vergebliche Bewegung, vereinzelt, wenn sie langsamer wird. Dann schließt sich über ihm der Augenblick; auf dem schnell verschütteten Stehplatz kommt der glücklose Engel zur Ruhe, wartend auf Geschichte in der Versteinerung von Flug Blick Atem, bis das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge sich in Wellen durch den Stein fortpflanzt und seinen Flug anzeigt.(9)

Der Gegensatz zwischen unentrinnbarer Versteinerung und dem Rauschen der Engels-Flügeln, also einer Art Bewegung, könnte nicht größer. Es gibt in diesem Entwurf Heiner Müllers eine Arbeit, oder besser, ein Arbeitsvermögen, das selbst und erst in größter Bedrängtheit produktiv zu werden scheint. In gewissem Sinn entsteht es weniger in der, sondern eher als Katastrophe. Es artikuliert sich in Form von Kräften, die auch in den gewaltigsten Kräften selbst, jenen überindividuellen der Geschichte zum Beispiel, zu wirken beginnen. Heiner Müller in einem Interview:

"Alles, was man in Deutschland macht, muß kriegerisch sein, muß als Krieg verstanden werden. Und Theater ist nicht möglich in Deutschland, außer als Krieg gegen das Publikum. Es gibt keine demokratische Tradition, es gibt kein emanzipiertes Publikum, weder bei uns noch in der Bundesrepublik. Das Publikum versteht nur Krieg. Und da gibt es eine schwache Hoffnung, daß man das Publikum genügend angreift, so daß es sich wehrt. Das ist die einzige Möglichkeit. Sobald man dem Publikum einen Finger gibt, reißt es einem den Arm aus."(10)

Heiner Müller beschreibt in diesem Interview sein polemisches Programm im Sinn einer Poetik und Theater-Praxis. Alles muss in ihm aufs Spiel gesetzt werden, um eine existenzielle Arbeit, die sich nur wie von selbst freisetzt, in Gang zu bringen. Das Polemische, Kriegerische, Kämpferische dient dabei gleichsam nur dazu, die Friedens- und Freiheitspotenziale anzuregen. In gewissem Sinn ist auch diese Poetik jener von Ernst Jandl verwandt. Auch in seinen Gedichten wird das Subjekt und seine Subjektivität in einen äußersten, apokalyptischen Zustand versetzt, in dem zuweilen "rettende Potenziale", vielleicht könnte man bei Jandl auch sagen, Gedichtkräfte, auftauchen. So wie etwa in dem obigen Gedicht recht explizit das Leuchten: "werden anfangen leuchten, zeigen in nachten den pfaden / denen hyänenen, du fosforeszierenen aasen".

Gleichzeitig ist die apokalyptische Tendenz in Heiner Müllers Arbeit im Gegensatz zu Jandls Schreiben ganz an der Staats- und Menschheitsgeschichte ausgerichtet. Die apokalyptische Krise artikuliert sich bei Müller gleichsam exemplarisch als Ballung des vielleicht bekanntesten Theaterstoff der Neuzeit, von William Shakespeares Hamlet. "Vom LOHNDRÜCKER bis zur HAMLETMASCHINE ist alles eine Geschichte, ein langsamer Prozeß von Reduktion. Mit meinem letzten Stück HAMLETMASCHINE hat das ein Ende gefunden."(11)

Der Inhalt des Stückes deutet bereits bei Shakespeare einen Untergang, eine Zeitenwende an: Hamlet befindet sich nach dem Staatsstreich, der Ermordung seines Vaters, von Anfang des Stückes an in einer Art postkatastrophalen Zustand. Dieser ist durch das Ende einer äußeren und inneren Epoche geprägt. Hamlets Haupt-Problem scheint dabei die eigene Verstrickung in die aussichtlosen Verhältnisse zu sein. Er bemerkt, dass er sich nicht mehr von dem Apparat unterscheiden kann, gegen den er als Intellektueller andenkt. Er artikuliert Sätze wie "Ich bin die Schreibmaschine", oder "Ich bin mein Gefangener" und "Ich bin die Datenbank". Er begreift sich selbst bereits als Maschine und damit als Teil der Staats- oder Gesellschaftsmaschine. Gleichzeitig träumt er weiter von einer Revolution: "Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber."(12) Er träumt sich also einen Ort des Dazwischen,(13) der ihm verschiedene Perspektiven auf das Drama erlauben würde. Es ist eine Art Freiraum, in dem er die Perspektiven wechseln und ausprobieren kann. Da jedoch die Revolution nicht stattfindet, ist dieser Hamlet gezwungen, sich mit den Verhältnissen auseinander zu setzen und die weiteren Versteinerungen mitzutragen. Die Hamletmaschine kennt also kein Ende, oder anders gesagt, nichts als Ende. Wenn noch irgendetwas produktiv werden kann, so muss es daher der unerträgliche Stillstand selbst sein, ähnlich wie in dem Entwurf "DER GLÜCKLOSE ENGEL".(14) Trotz aller Versuche, das Ende auszusprechen bzw. auszulösen, kommt in der Hamletmaschine also kein neuer Himmel wie in der Johannes-Apokalypse in Sicht, wo es in der Luther Übersetzung des Johannes heißt: "VND ICH SEHE EINEN NEWEN HIMEL / VND EINE newe Erden / Denn der erste Himel und die Erste Erde vergieng / vnd das Meer ist nicht mehr." Hamlets Wunsch, kaputt zu werden, auszuscheiden, zu verschwinden oder einfach Schluss zu machen - "Ich spiele nicht mehr mit" (549) -, bleibt bei Müller in seiner Maßlosigkeit nicht erfüllbar. An die Stelle einer engagierten, aktiven Haltung, wie sie wohl für die DDR-Literatur propagiert wurde, setzt Müller also so etwas wie eine blinde Praxis, die sich eher als Verlangsamung(15) denn als aktive Beschleunigung der Verhältnisse artikuliert. Heiner Müller beschreibt das in einem Interview einmal so:

"Ich habe seit Jahren überhaupt keine analytischen Impulse mehr. Es fällt mir schwer, dafür ein Interesse aufzubringen. In gewisser Weise ist ja Kunst eine blinde Praxis. Ich sehe da eine Möglichkeit: das Theater für ganz kleine Gruppen (für Massen existiert es ja schon längst nicht mehr) zu benutzen, um Phantasieräume zu produzieren, Freiräume für Phantasie - gegen diesen Imperialismus der Besetzung von Phantasie und der Abtötung von 0Phantasie durch die vorfabrizierten Klischees und Standards der Medien. Ich meine, das ist eine primäre politische Aufgabe, auch wenn die Inhalte überhaupt nichts mit politischen Gegebenheiten zu tun haben."(16)

Heiner Müllers Hamletmaschine lässt sich als Ausdruck einer solchen blinden Praxis lesen.(17) Sie erinnert in diesem Sinn tatsächlich an so etwas Blindes wie ein paradoxes Denk-mal oder eine e-norme Sackgasse. Man könnte vielleicht sagen, dass die Hamletmaschine die Gefangenschaft der Geschichte annimmt, um in ihrer eigenen Versteinerung, in ihrer Inklusion, ähnlich dem glücklosen Engel, wie von selbst wieder produktiv zu werden.

Diese Eigenschaft lässt sich nicht zuletzt auch anhand von Müllers Sprache beschreiben. Jene der Hamletmaschine wirkt auf den ersten Blick ja recht künstlich und pompös. Es ist zweifelsohne eine an der Literatur geschulte Sprache, u.a. an Shakespeare, an Kleist, Büchner und Brecht. Zunächst lässt sie sich nicht anders als eine montierte Form begreifen. Eine Form in Arbeit also, der teilweise die Punkte fehlen, die manchmal groß, manchmal klein geschrieben ist und die teilweise von Virgeln gegliedert auftritt. Alles in allem wirkt sie eher varietéartig und komisch als prunkend ernst. Eine Konsequenz gesteigerter Repräsentation in totalitären Staatsapparaten scheint eine Tendenz zum leeren Pathos zu sein. Zu einem Pathos, das wohl leicht in Gefahr ist, komisch zu wirken, wenn diese Komik nicht durch reale Macht unterdrückt wäre. Es scheint in gewissem Sinn naheliegend, apokalyptischen Erzählungen einen solchen pathetischen und großen Ton zuzuschreiben. Heiner Müllers Hamletmaschine scheint geradezu eine Art Untersuchung an den Hohlräumen dieses Pathos vorzunehmen.(18) Der pseudopathetische Duktus und seine Ambivalenz erklären sich womöglich nicht zuletzt daraus, dass die Sprache für die Zensur des Regimes zumindest äußerlich eindeutig, eigentlich aber nicht erkennbar sein durfte. Nur eine Sprache, die an die große Literatur oder an die Alltagssprache eines Milieus erinnerte, hätte vermutlich in der DDR auch wirklich aufgeführt werden können. Im Fall der Hamletmaschine war die Sprachmaske aber scheinbar nicht ausreichend, das Stück wurde verboten und kam bis zum Mauerfall nur im Ausland zur Aufführung.

Beinahe wie ein Gegenpol zum Reduktionsgestus von Heiner Müllers literarischer Apparatsprache wirken die flutenden Wort-Kaskaden der Schriftstellerin Elfriede Jelinek. Doch auch sie scheinen von einer apokalyptischen Tendenz geleitet.

"Dem jungen Mann, dem Gudrun Bichler die Tür öffnet, ist der halbe Kopf abgerutscht, trotz der Bodenrauhigkeit auf seinem Hang zum Träumen."(19) Der Tod dieses Mannes hat nichts Tragisches, er passiert eher beiläufig. Er ist nur eine der Figuren in Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten, die in einem fort als Zombies oder Wiedergänger auftauchen und in einem fort auch dahingerafft werden. Die existenzielle Unterscheidung von Leben und Tod spielt für sie wie oft in mythischen Erzählungen keine entscheidende Rolle. Auf diese Weise wird permanent ein Zustand aufrechterhalten, der das Existenzial des Lebens aus dem Text nimmt und strategisch die Spannung kulturbildender Oppositionen auflöst: Sei es die von Leben und Tod, von Gut und Böse, von Kultur und Natur, von Wertvollem und Wertlosem usw. "Dem jungen Mann, dem Gudrun Bichler die Tür öffnet, ist der halbe Kopf abgerutscht, trotz der Bodenrauhigkeit auf seinem Hang zum Träumen." So what? ist man versucht zu fragen. In der Gleichwertigkeit der Ereignisse lässt sich eine zumindest vorläufige Realisierung utopischer Gleichheit sehen, gesponnen als ein Textgeflecht aus gleichwertigen Bedeutungs-Elementen. Man könnte die Spracharbeit Jelineks als eine Art Verwandlungs-Maschine beschreiben. Sie medialisiert und verhält sich weder beschreibend noch expressiv, weder eigentlich noch uneigentlich. Sie lässt sich auf keinen Ort und keine Zeit festschreiben, da sie nichts als ihr momentaner Ort und ihre momentane Zeit ist. Auf diese Weise entsteht gewissermaßen eine unbekannte Sprache aus lauter bekannten Teilen. Ihre Bilder lassen sich nicht mehr als Metapher aus Signifikant und Signifikat begreifen, noch als reine Signifikanten oder Signifikate. Es ist ein Sprechzitieren, das wie zufällig mit den Ereignissen mitläuft und dabei verwertet, was in seine Nähe kommt. Man könnte sagen, es dolmetscht, indem es alles auf eine Art Projektionsfläche wirft. So dass das Material - die Begriffe, Redensarten, Figuren, man könnte sagen die Seme - entsubstanzialisiert und relativiert werden. Jelinek in einem programmatischen Text zum Theater: Ich möchte seicht sein!(20)

"Haar erinnert immer an Jugend, die vorbei ist! Auch Herrn Eichmann, diesem Beamten, der den Menschen ans Eingeweckte gegangen ist, um es nie mehr erwachen zu lassen, ist wahrscheinlich das Haar ausgefallen, ohne daß er mit Riesenlager, das er mitsamt seinen Bürokollegen angelegt hatte, dann irgendetwas hätte anfangen können."(21) Hier spricht gewissermaßen die Banalität des Bösen mit. Die Szene mit Eichmann wird auf besonders legere Art erzählt, als wäre dieser Eichmann einfach irgendwer. Oder folgende Umwertung wieder ganz anderer Art: "Wir Machtlosen: Uns legt keiner aufs Kreuz, wir sind ja nicht so blöd wie Jesus."(22) Stark besetzte Figuren wie Eichmann oder Jesus sind hier Material, genau so wie alle anderen Figuren. Eine wesentliche Textstrategie des Romans besteht in solchen Umbesetzungen. Das sogenannte Wertvolle wird entwertet und das Banale umgekehrt mit Bedeutung aufgeladen. Es lassen sich in dieser Textarbeit also zwei gegenläufige Tendenzen feststellen: Eine zur Banalisierung und eine zweite zur Aufladung. Beide dienen dazu, eine in sich quasi unendlich komplexe Indifferenzebene zu erzeugen. Es ist eine Arbeit an den Verhältnissen und an der blinden Selbstverständlichkeit von Verstehens-Mustern, an denen sich Ideologien und Mythen festsetzen. Auf der Indifferenzebene erscheinen die bestehenden Verhältnisse für einen Moment aufgelöst, dort werden sie unentwegt umgedeutet und aus ihren Verklammerungen und Verhärtungen befreit. Auf dieser werden die Bedeutungen des Alltags wieder flüssig und formbar gemacht und damit auch die Sprache erneut freigegeben. Das führt bei Jelinek zu einer Enthemmungsbewegung, zu einer fließenden und geradezu wuchernden Schreibweise, die es nicht mehr sinnvoll erscheinen lässt, die einzelnen Texte grundsätzlich auseinander zu dividieren,(23) auch wenn jeder seine eigene Tendenz hat.(24)

Hinter Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten steht keine Botschaft, die es zu entschlüsseln gilt. Er ist selbst eine Art Botenstoff, der die frei herumschwirrenden Botschaften transportiert und auch verwandelt. Er erinnert, so gesehen, am ehesten an ein Übertragungsmedium. Die Apokalypse ist schon beim biblischen Johannes ein mediales Phänomen. Die Engels-Stimmen donnern in seinem Rücken, und Johannes überträgt, was er hört. Bei Elfriede Jelinek ist die apokalyptische Instanz Gottes zu einer Vielzahl an Codes und Stimmen geworden. Diese Apokalypse ist also selbstgemacht und die Autorin nur ihre, nur eine ihrer Botinnen. Die Apokalyptik von Jelineks Text lässt dabei weder eine Idee von Fortschritt noch eine Ahnung von einem realen Ende aufkommen. Sie steht jedem endgültigen Zu-Ende-Gehen geradezu völlig entgegen. Man könnte sagen, sie löst es in sich auf, indem sie es perpetuiert. Diese Art der Apokalypse kennt gewissermaßen nichts als Stürze, die ähnlich folgenlos wie jene in einem Comic wirken. So gesehen ist Die Kinder der Toten eine ewige Apokalypse, bestehend aus zahllosen Untergangs-Momenten, gewissermaßen aus lauter nows. Apocalypse now, and now, and now ...

Solange ein Text wie Die Kinder der Toten nicht wieder in einen bestimmten Gebrauch übergeht, scheint unentscheidbar, ob er nun politisiert oder entpolitisiert, ob er gleichschaltet oder differenziert. Die Tendenz seiner Bedeutung wird erst wieder durch einen Leser in den Text gebracht, der Text selbst aber ist gerade daraufhin angelegt, seinen paradoxen Zustand nicht aufzugeben. Und solange ihm das gelingt, scheint er an jenen Träumen mitproduzieren, die den Rohstoff für die Produktion von lebendiger Wirklichkeit zur Verfügung stellen. Je ideologischer eine Gesellschaft, desto affektiver und ablehnender wird sie freilich auf das anarchische Potenzial von Dichtung reagieren. Es gibt ein geradezu drängendes Bedürfnis, dieses unerhört Undurchdringliche einzuschätzen, ihm einen Ort zu geben und es ein wenig zu verstehen. Elfriede Jelinek reagiert auf dieses öffentliche Bedürfnis nach Meinung und Haltung, sie schreibt Zeitungsartikel und gibt Interviews und setzt sich dort notgedrungen auch mit den Projektionen ihrer Leser- bzw. Nichtleserschaft auseinander. In den österreichischen Medien, die "Kronenzeitung" an erster Stelle, hat dieses Bedürfnis nach Verstehen eine unappetitliche Tendenz zur Denunziation und nicht zur Auseinandersetzung. Wohl auch, um diesem Druck standzuhalten, verkleidet Elfriede Jelinek sich und ihre Sprache immer wieder, ohne aber auf die Artikulation ihrer Positionen in den Medien zu verzichten. Dabei macht sie jene Meinungen öffentlich, die in ihren Texten im kollektiven Strom der Codes oft unentzifferbar bleiben würden.

Wenn es keine Instanz mehr gibt, die für die Apokalypse verantwortlich gemacht werden kann, dann sind die Leser auf beunruhigende Weise auf sich selbst zurückgeworfen. Aus dieser Perspektive ist Die Kinder der Toten eher als kollektives Produzieren, denn als individuelles Produkt zu lesen. Es besteht aus dem Material des Alltags, aus seinen unzähligen Stimmen und Perspektiven. Von hier aus drängt die Frage des Skripts also nicht mehr in Richtung Jelinek, sondern in unsere Richtung: Was bedeutet das "wir" im Text? Was könnte ein kollektives, was ein individuelles Unbewusstes sein? Wie verhalten wir uns zu den Absonderungen unseres Bewusstseins, die Elfriede Jelinek zur Verfügung stellt?(25) Und schließlich: Wer sind wir?!?

Man könnte sich die (literarische) Apokalypse auch so wie bei Jelinek vorstellen, als einen Zustand der Indifferenz, der weder durch Zeit noch durch Raum fixiert ist. Er wäre in gewissem Sinn und in Bezug auf die Sprache wohl am ehesten dem vorbabelschen Sprechen verwandt, weil sich in ihm die Sprechweisen und Codes noch nicht ausdifferenziert hätten. Aufhören und Anfangen wären in diesem Zustand gleichsam ununterscheidbar. Dieses Bild erinnert an die politischen Schriften des 17. und 18. Jahrhunderts eines Thomas Hobbes, David Hume, John Locke und Jean-Jacques Rousseau. Bei ihnen taucht ein Naturzustand auf, der als ähnlich chaotisch und unreglementiert geschildert wird wie jener bei Elfriede Jelinek. Nur dass er dort als Vorstufe zum Gesellschaftszustand gedacht wird, das heißt als Bedingung für diesen, der als solcher dann notwendigerweise zu überwinden ist. In den Texten Jelineks tritt diese geschichtsphilosophische Perspektivierung in den Hintergrund, der Naturzustand ihrer Texte ist im Gegensatz viel mehr ein aktueller und als solcher wie eine permanente, unüberwindbare Wirklichkeit. Er ist weder Vorstufe zu irgendeiner Erlösung wie in der biblischen Apokalypse noch Nachspiel einer geschehenen Katastrophe. Jelineks Texte sind daher weder postapokalyptisch noch präapokalyptisch. Sie artikulieren sich viel mehr als - notwendigerweise absurde - Behauptung, dass die Apokalypse gerade stattfindet und im Gang ist und dass es eigentlich kein Entkommen vor ihr gibt. So vollzieht sich eine Aufkündigung des prophetischen Gehalts der Apokalypse in die Gegenwärtigkeit des Textes, der daraus eine existenzielle Dimension bezieht, die auch an den Texten von Ernst Jandl, Imre Kertész und Heiner Müller wahrzunehmen war.

© Michael Hammerschmid (Wien)


ANMERKUNGEN

(1) Kertész, Imre: Galeerentagebuch. Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm. Berlin: Rowohlt (1997), S. 32-33.

(2) Trakl, Georg: Dichtungen und Briefe. Hg. v. Walther Killy und Hans Szklenar. Salzburg: Otto Müller (1987), S. 94.

(3) Jandl, Ernst: die bearbeitung der mütze. Poetische Werke Bd. 7, Hg. v. Klaus Siblewski. München: Luchterhand (1997), S. 195.

(4) Eörsi, Istvan: Die Freuden eines Scheiterns. Zur Übersetzung des Zyklus' "tagenglas" ins Ungarische. Siblewski, Klaus [Hg.]: Ernst Jandl. Texte, Daten, Bilder. Frankfurt/Main: Luchterhand (1990), S. 112-120.

(5) Kerzész, Imre: Kaddisch für ein nicht geborenes Kind. Roman. Aus dem Ungarischen von György Buda und Kristin Schwamm. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (2002), S. 139.

(6) Dieser "perversen" Mechanik folgt nicht zuletzt das Werk eines Marquis de Sade.

(7) Vgl. Kertész, Imre: Kaddisch, A.a.O., S. 45. Das erinnert in gewissem Sinn an den rumänischen Dichter Gherasim Luca, der in Bezug auf seine Dichtung, von einem silensophone gesprochen hat. Das Spektrum der Bedeutungen in diesem Wort ist groß, es reicht in gewissem Sinn vom Stilleerzeuger bis zum Stilleaufzeichner. Gherasim Luca lebte bis Anfang der 50er Jahre in Rumänien und übersiedelte dann nach Frankreich, wo er bis zu seinem Freitod 1994 lebte.

(8) In den Worten des rumänischen Dichters Gherasim Luca: "Vivre l'apocalypse / c'est v'ivre la vie manquée". Das nicht gelebte Leben der Apokalypse ist bei Luca trunken und (durch das Apostroph) zur Trunkenheit aufgespalten. Es wird gewissermaßen produktiv erst in dem zerstörerischen, spaltenden Zustand der Apokalypse. Vgl. Luca, Gherasim: Héros-Limite suivi de Le Chant de la carpe et de Paralipomènes. Préfca d'André Velter. Paris: Gallimard (2001), S. 249.

(9) Heiner Müller: Glücksgott. In: Heiner Müller. Theaterarbeit, Berlin (1975), S. 7. Vgl. die philologisch genaue Analyse der Engelsbilder und Apokalypse-Thematik bei Jutta Schlich: Heiner Müllers Engel. Bezüge, Befindlichkeiten, Botschaften. In: Heiner Müller. Probleme und Perspektiven. Bath-Symposion 1998. Hg. V. Ian Wallace, Dennis Tate, Gerd Labroisse. Amsterdamer Beiträge zur neuern Germanistik. Bd. 48, Amsterdam; Atlanta: GA (2000), S. 323-346.

(10) Müller, Heiner: Das Wiederfinden der Biographien nach dem Faschismus. Auszüge aus einem in Genf geführten Interview über die Inszenierung DIE SCHLACHT an der Volksbühne Berlin; mit Matthias Langhoff und anderen. In: Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer 2. Interviews und Gespräche. Hg. v. Gregor Edelmann und Renate Ziemer. Frankfurt/Main: Verlag der Autoren (1990), S. 20.

(11) Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 1. Interviews und Gespräche. Frankfurt/Main: Verlag der Autoren (1986). S. 54. (Das Interview wurde 1978 geführt.)

(12) Müller, Heiner: Hamletmaschine, In: Ders.: Werke 4, Die Stücke 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp (2001), S. 550.

(13) In einem Interview mit Alexander Kluge sagt er: "Es geht um einen Riß zwischen zwei Epochen. Und in diesem Riß geht er unter." Kluge, Alexander; Müller, Heiner: "Ich schulde der Welt einen Toten" Hamburg: Rotbuch, (1996), S. 43. (Carl Schmitts Hamlet-Deutung geht in eine ähnliche Richtung. Er sieht die Figur ebenso an einem Epochenriss, an jenem zwischen Erbrecht und Wahlrecht.)

(14) Die zu Beginn des Stückes von Hamlet artikulierten Versuche, die Welt-Maschine aufzuhalten oder rückgängig zu machen, klingen angesichts der Ausweglosigkeit wie lächerliche Hilfeschreie: "Man sollte die Weiber zunähn. Eine Welt ohne Mütter." (Vgl., Müller: Hamletmaschine. A.a.O., S. 547.) Es kommt zu einer Bilderfolge von pseudopathetischen, verzweifelt pubertären Inzest- und Gewaltphantasien. "Ich will die Leiche in den Abtritt stopfen, daß der Palast erstickt in königlicher Scheiße. Dann laß mich dein Herz essen, Ophelia, das meine Tränen weint." Die Apokalypse scheint bei Heiner Müller etwas mit einer Regression zu tun zu haben: Einer Regression zu Shakespeare, einer Regression in die Triebe der Pubertät, einer Regression in eine gebastelte Sprache und eine gebastelte Welt.

(15) "Das ist eine neue Erkenntnis von mir: bisher habe ich immer traditionell gedacht, Revolutionen seien Beschleunigungsvehikel des Fortschritts. Aber wenn man sich die Revolution ansieht in diesem Jahrhundert, waren es eigentlich immer nur Bremsversuche, und das einzige revolutionäre Element, das steht ja schon bei Marx, ist das Kapital. Doch die zunehmende Beschleunigung hat kein anderes Ende als die Vernichtung. Revolutionen waren immer der Versuch, die Zeit aufzuhalten und Prozesse zu verlangsamen. Dieser letzte Versuch ist nun gescheitert und jetzt kommt die totale Beschleunigung aller Probleme. Es eskaliert. Und das ist gar nicht langweilig." (Vgl. Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 3, A.a.O., (Interview v. 1991), S. 135. "Es gab in der DDR unendlich viel Zeit, ein Staat der Verlangsamung." (Ebda., S. 202) In diesem Sinn ließen sich mit Heiner Müller wohl auch Christoph Marthaler und Einar Schleef als revolutionäre Theatermacher bezeichnen.

(16) Heiner Müller: Materialien. Texte und Kommentare. A.a.O., S. 28.

(17) Das erinnert in gewisser Weise an Novalis, den Heiner Müller in einem Interview mit dem Satz "Das Poetische ist das absolut Reelle" zitiert. Wie im deutschen Märchen scheint nicht zuletzt die Destruktionskraft die poetische Freiheit in Kraft zu setzen.

(18) In diesem Zusammenhang wundert es auch nicht, dass die Hörfassung mit den Einstürzenden Neubauten so gelungen ist. Die Hamletmaschine von Heiner Müller. Musik: Einstürzende Neubauten. Funkhaus Berlin (DDR) 1990. CD, Reihe Ego, by Ego Berlin und Freibank Hamburg.

(19) Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt (2000), S. 171.

(20) Vgl. Jelinek, Elfriede: Ich möchte seicht sein. In: Gürtler, Christa: Gegen den schönen Schein: Texte zu Elfriede Jelinek. Frankfurt/Main: Verlag Neue Kritik (1990), S. 157-161.

(21) Ebda. S. 394-395.

(22) Vgl. ebda., S. 448.

(23) Elfriede Jelinek arbeitet also auf einer Art Fluchtlinie, die zur Produktionssteigerung und Beschleunigung tendiert. Das erinnert in gewisser Weise an H.C. Artmanns Abenteuerprosa oder an Robert Walsers Mikrogramme. Wie Artmann und Walser hat auch Jelineks Verwandlungsarbeiten seismographische Eigenschaften.

(24) Der Roman Die Kinder der Toten erinnert etwa an einen Film wie Kill Bill von Quentin Tarantino, der ebenso anarchisch und lustvoll aus einer Fülle von filmischen Augenblicken zusammengesetzt ist.

(25) "Bei mir gibt es oft diese objektivierenden Kommentare. Wenn ich über mich eine Doktorarbeit schriebe, würde ich wahrscheinlich die Bedeutung des Wir, des auktorialen Kommentars in der Erzählung, analysieren, der ja ständig seine Perspektive ändert. In späteren Sachen, z.B. in der >>Lust<<, werden die Leute ja direkt angesprochen, oder ich spreche von mir in der Mehrzahl, es ändert sich also ständig, und man muß immer herausfinden, wer jetzt gerade spricht, welches Ich oder welches Ihr. Da verlasse ich die illusorische Ebene und geben einen politischen Kommentar, der die Wahrheit hinter den Dingen kenntlich macht, aber man muß immer herausfinden, wer, welches Wer da spricht." Jelinek, Elfriede; Heinrich, Jutta; Meyer, Adolf-Ernst: Sturm und Zwang. Schreiben als Geschlechterkampf. Hamburg: Ingrid Klein, (1995), S. 28.


5.16. Apocalypse Now? Eschatologische Tendenzen in der Gegenwartsliteratur

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For quotation purposes:
Michael Hammerschmid (Wien): Apocalypse now, and now, and now ... Beobachtungen zu Literatur und Apokalypse bei Ernst Jandl, Imre Kertész, Heiner Müller und Elfriede Jelinek. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_16/hammerschmid15.htm

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